Wie durch eine Schleuse hindurch

Erwachen die «neu Verstorbenen» sogleich in harmonischer Vollendung? Es bedarf eines Übergangs, in dem Gott ihre Geschichte ernst nimmt. Eva-Maria Faber reflektiert über die Prozessualität postmortalen Lebens.

Über viele Monate hinweg publizierte die Internetseite des SRF im Rahmen der Coronabilanz fast täglich die Zahl der virusbedingt gestorbenen Menschen. Tag für Tag lautete die Meldung: «Das BAG meldet x neue Verstorbene.» Die Formulierung ist in ihrer Parallelität zu «neue Infektionsfälle» nicht erklärungsbedürftig. Trotzdem kann sie Irritation auslösen. Das Adjektiv «neu» hat in unserer auf Abwechslung und Fortschritt getrimmten Kultur weithin positive Bedeutung. Diese Wertung lässt sich schon bei «Neuinfektionen» nicht aufrechterhalten. Doch immerhin haben die infizierten Menschen noch die Hoffnung, alsbald zu «neu Genesenen» zu werden. Was aber ist «neu» für eine verstorbene Person? Jedenfalls habe ich mich dabei ertappt, immer wieder darüber nachzudenken, was es bedeutet, neu verstorben zu sein.

Hinterbliebenen- und Jenseitsperspektive

Wenn Menschen über Verstorbene nachdenken, Angehörige, befreundete oder bekannte Personen, kommen sie nicht umhin, deren Tod in zeitlicher Perspektive einzuordnen. Wer in den zurückliegenden 24 Stunden verstorben ist, ist für uns anders tot als eine Person, deren Tod mehrere Wochen zurückliegt. Wenn Jahre verstrichen sind, ist der Abstand merklich grösser geworden. Um das Opfer des Todesfalls, der in einem Wegkreuz des 17. Jahrhunderts erinnert wird, trauern wir nicht mehr.

Den Lebensumbau der Hinterbliebenen nach dem Tod eines Mitmenschen thematisiert auf makabre Weise der Roman «Die sterblich Verliebten» von Javier Marías.1 Er variiert ein von Honoré de Balzac aufgenommenes Motiv: die Rückkehr eines als tot Erklärten in die Welt der Lebenden. Dem Akteur im Roman von 2011 geht es mit dem Bezug auf Balzacs Oberst Chabert darum, zu zeigen, wie sehr die Welt der Lebenden nach dem Tod eines Menschen ihren eigenen Gang nimmt. Der Platz des Verstorbenen wird wieder gefüllt, so dass – so aufrichtig die Trauerbekundungen gemeint sind – die Rückkehr eines tot Geglaubten Irritationen hervorrufen würde. Der Protagonist des Romans von Javier Marías will darin sogar ein gewaltiges Unheil erkennen – was im Verlauf des Romans durchaus auch damit zu tun hat, dass er an die Stelle eines befreundeten Verstorbenen rückt.

Wenn das Denken so zu wandern beginnt, könnte es von der Hinterbliebenenperspektive wechseln zur Jenseitsperspektive, wie es Sibylle Lewitscharoff und Heiko Michael Hartmann in «Warten auf» getan haben.2 Hier treffen sich zwei «frisch» Verstorbene nach ihrem Tod. Sie sind noch allzu neu und unerfahren in einem Jenseits, das ihren (sehr unterschiedlichen) Erwartungen wenig entspricht. Unbeholfen stellt sich eine der beiden jenen «huschenden Gestalten» vor, die sie allmählich wahrnimmt: Sie sei Gertrud aus Stuttgart und noch neu hier, darum kenne sie sich nicht aus. Dass diese Gertrud in ihrer Jenseits-Unerfahrenheit irdische Gegebenheiten auf ihre neue Umgebung überträgt, bringt die Lesenden zum Schmunzeln. So weckt die literarische Gestaltung eine Ahnung, in welche Verlegenheiten das Nachdenken über so etwas wie ein Jenseits gerät.

Dies gilt auch für die gläubige Perspektive. Um die Hoffnung auf eine Zukunft nach dem Tod nähren zu können, braucht es Bilder und Vorstellungen davon. Zugleich ist es notwendig, deren Aussagewert zu überprüfen und zu präzisieren und sich von allzu wissenden Spekulationen fernzuhalten. Die theologische Frage ist nicht, wie das Jenseits im Detail aussieht, sondern welche Glaubensüberzeugungen auch auf die eschatologische Hoffnung zu beziehen sind. Neben dem Gottesbild und soteriologischen Kriterien ist für die christliche Theologie eine anthropologische Grundlage massgeblich. Denn die christliche Hoffnung zielt darauf, dass Menschen in ihrer je persönlichen Identität durch den Tod hindurch bewahrt werden. Sie sind als individuelle Subjekte vor Gott so kostbar, dass Gott sein Ja zu ihnen auch über den Tod hinaus spricht. Zu ihrer Identität gehört ihre Geschichte, ihr Beziehungsnetz, ihre ganz persönliche Welt, die mit dem Tod nicht untergeht. Wie auch immer verwandelt und vollendet nehmen Menschen in die Ewigkeit mit, was ihr Leben ausmachte.

Damit steht «Gertrud aus Stuttgart» gar nicht mehr so lächerlich da. Ihr Name und ihre Herkunft aus Stuttgart gehören zu ihr ebenso wie die Umstände ihres Sterbens, die im Laufe der erzählten Geschichte zum Vorschein kommen. Ist das jenseitige Aufatmen eines intubierten Coronaopfers vielleicht tatsächlich von ganz eigener Art, ebenso wie das ewige Erwachen der Opfer einer Flutkatastrophe? So kommt auch die zeitliche Perspektive wieder in den Blick. Sind die ersten Erfahrungen im Jenseits der «neu Verstorbenen» und «neu Angekommenen» vielleicht wirklich von ganz spezieller Art? Letztlich ist es die Frage, ob die ewig Lebenden weiterhin Wesen sind, die in irgendeiner Form Erfahrungen machen. Gehört es zur Identität von Menschen, sich in neuen Kontexten durch Erfahrungen zu orientieren?

Transformations- und Reifungsprozesse

Für die Beschreibung der Hinterbliebenenperspektive ist der Begriff der Schleuse dienlich. In der «Schleusenzeit» kurz nach dem Tod eines Menschen verändert sich der Status der Hinterbliebenen allmählich, von der Ehefrau zur Witwe, vom Sohn zum Halbwaisen. Zudem verändert sich die Wahrnehmung des Verstorbenen. «Er wird von der ‹verstorbenen geliebten Person› zum ‹toten Körper›, den man begraben muss. Der Leichnam darf am Ende der Schleusenzeit dem völligen biologischen oder physikalischen Verfall überlassen werden.»3

Dasselbe Bild verwendet der Pastoraltheologe Ottmar Fuchs für die Jenseitsperspektive. Wenn es eine neue Welt gebe, dann könne dahin kein «glatter Übergang» führen. In der neuen Welt angekommen, seien Menschen noch nicht unmittelbar fähig für das Neue, das sie erwarte. Diese Auffassung begründet Fuchs in erster Linie mit der Leidenserinnerung und der Gerechtigkeitssehnsucht. Der Ernst der Geschichte wäre ausgeblendet, würde ohne Reflexion auf Übergänge eine harmonische Vollendung ausgemalt. Darum gibt Fuchs zu bedenken: «Vielmehr ist es nötig, dass sich die Menschen im Gericht auf diese neue Welt hin ausrichten lassen, damit sie in die neue Zukunft nicht wieder das Alte hineintragen, nämlich das Böse und das Leid. Es wird so etwas geben wie eine ‹Schleuse› zwischen alter und neuer Welt». Fuchs sieht hierin den Sinn des traditionellen Motivs des Jüngsten Gerichtes: Es benennt «die Notwendigkeit, dass es zwischen alter und neuer Welt einen Vorgang gibt, in dem das Neue nicht beginnen kann, wenn das Alte nicht ernst genommen und in Gerechtigkeit und Versöhnung zu Ende geführt wurde.»4 Dabei beschränkt sich dieses Gericht nicht darauf, Tatbestände zu fixieren, sondern ist Inbegriff des göttlichen Versöhnungshandelns. Auf die damit verbundenen Transformationsprozesse zielt auch das Motiv des – in der deutschen Sprache unglücklich als Fegefeuer bezeichneten – Läuterungsgeschehens. Wenn es ein Reich Gottes in Frieden, Gerechtigkeit und Lebensfülle gibt, einen ewigen Schalom, dann sind «neu Verstorbene» dafür nicht schon bereit. Wenn Gott sie als Subjekte vollendungsfähig machen möchte, braucht es Reifungsprozesse, die nicht «über ihren Kopf» hinweggehen. So wenig sich solche Prozesse in irdischen Chronologien aussagen lassen (hiermit ist viel Unsinn betrieben worden), so wenig verzichtbar sind Kategorien des Wachstums, der sukzessiven Bereitung für eine neue Wirklichkeit.

Wie aber geht es für die «später» nicht mehr so neu Verstorbenen weiter? Die Schwierigkeit, sich die Ewigkeit auszumalen, zeigt das Bonmot von Woody Allen: «Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.» Es führt humorvoll vor Augen, dass das menschliche Vorstellungsvermögen mit einer Wirklichkeit, die nicht die Signatur des Vergehens trägt, überfordert ist. Wer jedoch nur die Zeitlosigkeit betont, leistet statischen, eintönigen Vollendungsvorstellungen Vorschub. Bernhard von Clairvaux spricht deswegen von «Sättigung ohne Überdruss». Auch die Vollendeten kennen demnach ein unersättliches «Verlangen nach Neuem ohne Unruhe», ihnen eignet eine «unstillbare Sehnsucht, die doch nichts weiss von Bedürftigkeit».5 Erstarrung wäre keine Erfüllung, die mit Leben zu tun hätte. Bezeichnenderweise enthalten viele biblische wie architektonische «Himmelsbilder» musikalische Motive, obwohl die Musik unter allen Künsten am meisten von Verlauf und Vergehen gezeichnet ist. So bleibt Hoffnung, dass auch die «alten» Verstorbenen immer wieder neue Lieder singen werden.

Eva-Maria Faber

 

1 Marías, Javier, Die sterblich Verliebten. Roman, Frankfurt/M. 2012.

2 Lewitscharoff, Sibylle / Hartmann, Heiko Michael, Warten auf. Gericht und Erlösung. Poetischer Streit im Jenseits, Freiburg i. Br. 2020.

3 Ochsmann, Randolph, Trauerhilfe. Bestattung und Rituale in deren Umfeld aus psychologischer Sicht, in: Franz, Ansgar / Poschmann, Andreas u.a. (Hg.), Liturgie und Bestattungskultur, Trier 2006, 47–57, 54 (mit Bezug auf Erhard Weiher und Ruthmarijke Smeding für den Begriff der Schleusenzeit). Siehe im selben Band Franz, Ansgar, Begräbnisliturgie oder Trauerfeier?, 13–30, 16.

4 Fuchs, Ottmar, Das Jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtigkeit, Regensburg 2007, 30.

5 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo 11,33. Sämtliche Werke [Ed. Winkler] 1,131.

 


Eva-Maria Faber

Prof. Dr. Eva-Maria Faber (Jg. 1964) ist seit 2000 Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie sowie seit 2015 Prorektorin an der Theologischen Hochschule Chur.