Ist die christliche Hoffnung auserzählt?

Klassische theologische Bilder christlicher Erlösung und Vollendung werden gesellschaftlich ins Innerweltliche transformiert. Diese Entwicklungen sind ein «Zeichen der Zeit». Sie erfordern pastoral neue Wege.

In diesem Jahr strich die Inszenierung des Klassikers «Jedermann» von Hugo von Hofmannsthal während der Salzburger Festspiele Gott und Glaube. Die «Salzburger Nachrichten» berichteten darüber wie folgt: «Der Jedermann hat wohl Jahrhunderte überdauert, weil ihm ein universelles Thema zugrunde liegt: Wie gehen wir in den Tod?» Weil aber das Thema Sterben alle angeht, wollte man es in der diesjährigen Inszenierung von der Religion befreien. Es brauche nicht den strafenden Gott, der den Tod ausschickt; der Tod erscheine sowieso, wenn seine Zeit gekommen ist. Statt Glaube tritt am Ende das Mitgefühl, treten die guten Werke oder eine Lebensweisheit.1

Vielfältige Transformationsprozesse

Diese kleine Notiz liest sich wie eine Art Seismograf. Kein Bereich der Pastoral transformiert sich seit Jahren so stark, wie es die seelsorgliche Begleitung rund um Tod und Sterben tut. Wichtig scheint hier vor allem der Blick in das zurückliegende Leben; wichtig scheint am Ende ein (nicht zwingend christliches) Ritual, in das eine Art «runde» Lebensnarration eingewoben wird.Diese Erfahrungen bekommen in verschiedenen Umfragen ein empirisches Pendant: Insgesamt antworten auf die Aussage: «Ich glaube, dass ich nach meinem Tod für mein Leben zur Rechenschaft gezogen werde, egal ob im Guten oder im Schlechten» 45 Prozent der Deutschen mit Nein und lediglich 24 Prozent mit Ja. Andere machen keine Angabe. Bei Katholikinnen und Katholiken verhält es sich nur ein wenig anders: 34 Prozent antworten mit einem deutlichen Nein, während 36 Prozent solche Vorstellungen (noch) bejahen.  

Diese wenigen Beispiele zeigen auf, dass sich ein Verständnis der «letzten Dinge» innerhalb einer  säkularen Kultur radikal in vielfältigen Transformationsprozessen befindet.2 Schon vor ein paar Jahrzehnten gab es in den USA Menschen, die sich kurz vor ihrem Tod einfrieren liessen, um dann in einer medizinisch weiterentwickelten Weltzeit weiterleben zu können. Mittlerweile sind solche Hoffnungen gleichsam digitalisiert, wenn man in Prozessen des Trans- oder Posthumanismus sehr deutlich nach Optionen forscht, wie das nichtkörperliche Leben etwa einer «digitalen Seele» möglich werden könnte. Zur Überwindung menschlicher Begrenzungen wird vor allem auf technische Hilfe gesetzt. Ihnen ist eines gemeinsam, das theologisch zu denken geben sollte: Alle kommen ohne den klassischen Theismus und seine Bilder von der Vollendung der Welt bzw. des individuellen Lebens aus. Immanuel Kant sah in dieser Letztinstanzlichkeit einer Entscheidung über «Gut» und «Böse» noch einen vernünftigen Grund für die Existenz derselben. Doch auch dieser Gedanke scheint lebensweltlich keine wirkliche Rolle zu spielen. Das Unterbelichten oder ein schlichtes Vergessen dieser Kategorien geschieht, weil sich das christliche Narrativ von den «letzten Dingen» auserzählt zu haben scheint. Es verfängt nicht mehr in der Lebenswelt vieler Menschen des 21. Jahrhunderts. Eine Optimierung bzw. Moralisierung des Lebens geschieht heute fraglos weiterhin, allerdings vor einem sehr veränderten Hintergrund: ohne Transzendenzbezug sowie in singulärer Weise. Jede und jeder bestimmt für sich selber, was gut und böse ist, wie darüber zu denken bzw. zu urteilen wäre. Dieses «gute Leben» ist mithilfe der passenden Strategien der Selbstoptimierung innerhalb der weltlichen Koordinaten vollumfänglich erreichbar.

Hinzu tritt ein weiterer Zusammenhang: Apokalyptisches Vokabular und entsprechende Bilder wandern immer stärker in gesellschaftliche Debatten, die das Hier und Jetzt zu beschreiben versuchen. Der Sozial- und Religionswissenschaftler Alexander-Kenneth Nagel legte jüngst seine Forschungen zu solchen Transformationen unter dem Titel «Corona und andere Weltuntergänge. Apokalyptische Krisenhermeneutik in der modernen Gesellschaft» vor.3 Dieser lesenswerte Band zeigt auf, wie stark ein apokalyptisches Vokabular und entsprechende Bilder unsere gegenwärtigen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen prägen, und diagnostiziert den Trend, gesellschaftliche Krisen sehr schnell und beinahe reflexartig allesamt apokalyptisch aufzuladen.

Innerweltliche Zukunft

Die folgenden Ausführungen möchten in der gebotenen Kürze in diese Situation zwei Denkangebote und ebenfalls eine (kleine) Perspektive einstreuen. Ein erster Denkanstoss stammt vom Schweizer Soziologen Peter Gross. Er beschreibt in seinem Band «Jenseits der Erlösung» von 2007, wie ein Grundzug unserer modernen Zeiten darin besteht, dass der Begriff und die Wirklichkeit des Jenseits durch innerweltliche Zukunft ersetzt wird.4 Wenn man heute für später vorsorgt, dann steht die Zukunft des Planeten oder der künftigen Generationen im Fokus. Pointiert beschreibt Gross: «Die grossen Inhalte des Erlösungsgedankens sind keineswegs gegenstandslos geworden, sie finden Anwendung auf die Welt, in der wir leben, und auf ihre innerweltlichen Beziehungen. Schuld und Vergebung trennen jetzt nicht mehr Gott und die Menschen, sondern die Menschen untereinander. Das kommende Reich ist von dieser Welt.»5 An dieser Stelle deutet Gross die aktuell immer deutlicher zutage tretenden Themen wie Selbstoptimierung oder Apokalypse als Soziologe theologisch. Diese Themen verschwinden nicht, werden allerdings im Rahmen innerweltlicher Prozesse bearbeitet. Gross fragt: «Läuft, so die Kernfrage, die Gegenwart, im doppelten Verlust von irdischen und ausserirdischen Erlösungs-, Heils- und Endzeitvorstellungen, zu einer fundamentalen Verwandlung ihrer Substanz auf, in der die Züge eines nachchristlichen Zeitalters aufleuchten, das, ohne sich dem tragisch-heroischen Bewusstsein zu überantworten, das Heil weder in der ausserweltlichen Erlösung noch der innerweltlichen Endlösung sucht?»6

Dieses Stichwort der Transformation in ein nachchristliches Zeitalter gerade über die Vorstellungen von Erlösung und Vollendung weist direkt auf einen weiteren Diskurs, der aus kulturhistorischer Sicht das deuten helfen kann, was derzeit geschieht. Die Rede ist von Jan Assmann und der sogenannten «Achsenzeit». Dieser Begriff stammt aus den 1940ern von Karl Jaspers und versucht sich an der Beschreibung einer Epoche, in der sich zwischen 880 und 200 v. Chr. parallel in verschiedenen Kulturen und an unterschiedlichen geografischen Orten wesentliche Grundlagen unserer heutigen westlichen Kultur grundlegten. Hierbei kam es u. a. zu dem, was man später Monotheismus bzw. eine Einteilung zwischen transzendenter und immanenter Sphäre nennt. Assmann deutet nun in seiner Monografie «Moses der Ägypter» diese Zeit als Übergang von einem primären zu einem sekundären Verständnis von Religion.7 Neben später auch weiterhin vorhandenen Formen einer «Primärreligion» tritt eine «Sekundärreligion». Jene Primärreligion ist dadurch gekennzeichnet, dass sie eine ausgesprochene Erdverbundenheit praktiziert, keine Unterscheidung zwischen der Welt der Götter und der Menschen kennt. Religion ist hier Weltbeheimatung. Anders die Sekundärreligion: Sie führt die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz ein und versteht sich zugleich als ethisch, gerade im griechisch-hellenistischen Sinne als logos-gemäss, schliesslich als vergeistigte Buch-Religion. Unschwer ist mithilfe dieses Vergleichs zu erkennen, welche Religionsform sich hinter den obigen Phänomenen verbergen könnte: Stehen wir vor einer immer dominanter werdenden Form von dem, was die Achsenzeittheoretiker mit Primärreligion bezeichnen? Diese Frage kann als eine Herausforderung an (pastoral-)theologisches Forschen in diesem Sinne auf ein nicht mehr zu übersehendes «Zeichen der Zeit» (GS 4) verweisen.

Gelebte christliche Hoffnung

Die obigen Analysen können auf Zusammenhänge hindeuten, an denen eine Reflexion über eine zukunftsfähige Pastoral nicht mehr vorbeikommt. Ich fokussiere mich auf einen8: Die oben beschriebenen Prozesse werden sich nach allem, was sich voraussehen lässt, nicht umkehren lassen. Damit werden christliche Perspektiven und mit ihnen die entsprechenden Sozialformen immer deutlicher in eine gesellschaftliche Minderheitenperspektive kommen. Hier wird es eine zentrale Aufgabe sein, dies nicht als Verlustgeschichte aufzufassen, sondern als neuen, womöglich gottgefälligen Ort, von dem aus bzw. an dem die Hoffnung der Christen auf das «Leben der kommenden Welt» tatsächlich erlebt und womöglich für die gesamte Gesellschaft hör- und sichtbar in deren Leben und Debatten um ein «gutes Leben» eingespielt wird: diakonisch, im stellvertretenden Gebet und nicht zuletzt in prophetischer Parteinahme – im Glauben an eine Gerechtigkeit, die verbürgt ist in der «kommenden Welt».

Jan Loffeld

 

1 www.sn.at/salzburg/kultur/jedermann-auf-der-festung-ohne-gott-und-glaube-107295025.

2 Vgl. dazu umfassender: Loffeld, Jan, Der nicht notwendige Gott. Die Erlösungsdimension als Krise und Kairos des Christentums inmitten seines säkularen Relevanzverlustes, Würzburg 2020.

3 Nagel, Alexander-Kenneth, Corona und andere Weltuntergänge. Apokalyptische Krisenhermeneutik in der modernen Gesellschaft, Bielefeld 2021.

4 Gross, Peter, Jenseits der Erlösung. Die Wiederkehr der Religion und die Zukunft des Christentums, Bielefeld 2007, 26.

5 Ebd., 24f.

6 Ebd., XII.

7 Assmann, Jan, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspür, Darmstadt 1998.

8 Einen weiteren Zusammenhang findet sich im Bonusbeitrag.

 

 

 


Jan Loffeld

Prof. Dr. habil. Jan Loffeld (Jg. 1975) studierte in München und Rom Theologie. Er ist Priester des Bistums Münster. Seit 2019 ist er Professor für Praktische Theologie und Leiter des Department of Practical Theology and Religious Studies an der Tilburg University, School of Catholic Theology in Utrecht (NL). (Bild: zvg)

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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