SKZ: Bischof Lazzeri, Sie haben bei Ihrer Bischofsweihe das Leitmotiv «Non impedias musicam» (Halte den Gesang nicht auf) gewählt. Warum?
Valerio Lazzeri: Es ist ein Zitat aus Jesus Sirach (32,3). Es bezieht sich auf denjenigen, der ein Gastmahl leitet. In dieser Schriftstelle wird er gebeten, zuerst an die anderen zu denken, erst dann an sich selber. Es ist sicherlich seine Aufgabe, für jeden ein dem Anlass entsprechendes Wort zu haben. Er wird jedoch an die Notwendigkeit erinnert, der Musik den Vorrang gegenüber dem Gespräch zu geben. Daher die Aufforderung, «die Musik nicht zu behindern oder zu stören». Mir scheint es eine wertvolle Weisung. Die Musik Gottes muss Vorrang vor unserem Reden haben. Und unser Reden muss immer im Dienst der Gemeinschaft stehen.
Sie wurden 2013 zum Bischof von Lugano ernannt. Wenn Sie auf die vergangenen fünf Jahre zurückschauen, was waren für Sie die schönsten Momente?
Ein schöner Moment für unsere Diözese war die Einweihung der Kathedrale nach mehreren Jahren der Schliessung infolge Restaurierungsarbeiten. Für mich war es ein besonderes Gefühl, zum ersten Mal in der Kathedrale San Lorenzo vom Bischofssitz aus der Liturgie vorzustehen. Es war für alle eine Gelegenheit, uns neu der Zugehörigkeit zu einer Geschichte bewusst zu werden, die tief in unserem Gebiet verwurzelt ist und bis heute anhält. Es war ein richtiges Volksfest!
Gab es auch Situationen oder Angelegenheiten, die für Sie schwierig waren?
Natürlich gab und gibt es Schwierigkeiten und Probleme. Ich denke insbesondere an den dramatischen Moment, als ich den «Giornale del Popolo», die letzte diözesane Tageszeitung der Schweiz, einstellen musste. Es war für alle ein grosser Schmerz nach 92 Jahren der Präsenz in der Tessiner Medienwelt. Dahinter steht jedoch eine tiefere und komplexere Problematik, die nicht nur das Tessin betrifft. Es geht um die rasante Entwicklung weltweit, in welcher Art die Kirche ihren Verkündigungsauftrag wahrnehmen kann. Dabei ist gar nicht so leicht zu erkennen, was um jeden Preis beibehalten werden muss, um nicht den Kontakt mit der lebendigen Wurzel der christlichen Erfahrung zu verlieren, und worauf man verzichten kann, weil es entbehrlich ist. Es gibt keine vorfabrizierten Lösungen. Weder auf der Seite derer, die sagen, dass wir nichts ändern dürfen, noch auf der Seite jener, die denken, dass alles geändert werden muss. Nur die Geduld in der ständigen Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes, mit der Geschichte, mit anderen und zwischen uns kann uns zu einer weisen und fruchtbaren Annäherung an die Wirklichkeit führen.
Welche Fragen oder Angelegenheiten des Bistums beschäftigen Sie aktuell?
Natürlich werden wir in diesem Jahr Überlegungen anstellen müssen, wie die Meinungsäusserung in der katholischen Kirche im Tessin sichergestellt werden kann nach der erzwungenen Schliessung unserer Zeitung. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die sorgfältig zu prüfen sind.1 Es gibt auch Entwicklungsprojekte in der Zusammenarbeit zwischen der «Università della Svizzera italiana» und unserer Theologischen Fakultät. Ich möchte in diesem Jahr anlässlich der Jugendsynode der Jugendpastoral besondere Aufmerksamkeit widmen. Es ist ein Bereich, in dem ich mich persönlich gefordert fühle, und ich setze meine Energien gerne für Treffen zur Schriftlesung, der Bildung und des Zuhörens ein. Ich bin überzeugt, dass hier ein grosses Potenzial für die heutige Verkündigung des Evangeliums besteht.
In anderen Bistümern werden aufgrund des Priestermangels immer mehr Pfarreien zusammengelegt. Wie ist die Situation im Bistum Lugano?
Auch wir haben seit einiger Zeit verschiedene Schritte in diese Richtung unternommen. Seit einigen Jahren gibt es zumindest auf dem Papier «Pastoralräume». Die Herausforderung für uns besteht darin, uns nicht auf organisatorische Überlegungen zu beschränken, sondern zu versuchen, ein kirchliches Gefühl zu fördern, das eine gemeinsame pastorale Aktion möglich macht, die nicht auf die Grenzen der Pfarrei beschränkt ist. Deshalb sprechen wir lieber von «Netzwerken» als von «Pastoralräumen». Der Prozess hat begonnen, aber nachdem entschieden wurde, eine Bewegung «von unten» zu bevorzugen, ist dieser verständlicherweise langsamer und mit weniger unmittelbaren Ergebnissen verbunden.
Sie waren lange Dozent und auch Spiritual im Priesterseminar in Lugano. Wie ist die Situation des Seminars und wie sieht es mit dem Priesternachwuchs aus?
In der Diözese haben wir seit Jahren zwei Seminare. Am internationalen Seminar «Redemptoris Mater» in Melano werden etwa 15 Seminaristen des neokatechumenalen Weges ausgebildet. Im Diözesanseminar San Carlo in Lugano studieren sechs Priesteramtskandidaten unserer Diözese und weitere aus anderen Bistümern, die von ihren Bischöfen zum Studium an die Theologische Fakultät von Lugano geschickt wurden.
Wie sieht Ihre Zukunftsvision für das Bistum Lugano aus?
Heute ist es für jeden schwierig, Vorhersagen für die Zukunft zu treffen. Ich bin davon überzeugt, dass, was auch immer passiert, für diejenigen, die es wollen, im Tessin immer Platz sein wird, um das Evangelium zu leben. Ich war nie versucht zu glauben, dass die wahre Kirche noch nicht verwirklicht worden sei. Ich denke im Gegenteil, dass die einzig wahre Kirche diejenige ist, die heute existiert, obwohl sie durch eine so grosse Müdigkeit und Schwere gekennzeichnet ist. Es ist die Kirche, der ich dankbar bin, weil sie mich dazu gebracht hat, Jesus Christus zu erkennen. Es ist die Kirche, der ich zu dienen versuche, damit sie im Lauf der Zeit ihre Mission erfüllen kann. Die Kirche, an der ich natürlich die Wunden sehe, von der ich aber glaube, dass sie auch in Zukunft der Welt eine Schönheit und einen Zauber bringen wird, den die Welt sich selber nie geben und garantieren kann.
Sie sind innerhalb der SBK verantwortlich für Glauben, Liturgie und Verkündigung. Welche Themen müssten Ihrer Meinung nach in der Kirche Schweiz Priorität haben?
Ich sage es etwas provokativ: Der Primat Gottes und die Erwartung der Parusie, das Kommen des Herrn Jesus in Herrlichkeit. Mir scheint, dass ein Grossteil der Polemiken, der endlosen Diskus- sionen und Sackgassen, in denen wir feststecken, einem Verlust des Innehaltenkönnens entstammen. Diese Art des Erstickens nimmt unserer Kirche das Bewusstsein, dass wir nicht be- stimmt sind, uns endgültig im Jetzt niederzulassen. So werden Strukturen, Verfahren und Vorschriften wichtiger als das Leben, dem sie eigentlich dienen sollen. Ich glaube nicht, dass dies auf schlechten Willen oder böswillige Absicht zurückzuführen ist, aber auf eine Unfähigkeit, zu vertrauen, sich auf Neues einzulassen. Dies ist Folge unserer Schwäche, uns im Herzen nicht auf die Verheissung Gottes, ihre Erfüllung in Christus, dessen glorreiche Wiederkunft wir erwarten dürfen, einzulassen. Das fehlende Erkennen einer solchen «eschatologischen Reserve» lässt uns die Lösung von aktuellen Fragen zu wichtig nehmen. Dies macht uns traurig, macht uns zu fruchtlosen Kritikern, lähmt uns durch sinnlose Auseinandersetzungen zwischen Verteidigern der Tradition und Befürwortern des Wandels. Tatsächlich aber sind diese Dispute nur Vertuschung einer spirituellen Leere.
Sie haben Ihre Dissertation im Bereich «Spiritualität» geschrieben und waren auch Professor für spirituelle Theologie in Lugano. Als Bischof haben Sie einen sehr dichten Terminkalender. Finden Sie noch genügend Zeit für Ihre Spiritualität?
Spiritualität ist kein vom Alltag getrennter Garten, in dem man sich der Kultivierung seltener Pflanzen widmet, die auf dem gewöhnlichen Boden unseres Alltags nicht wachsen können. Natürlich habe ich weniger Gelegenheiten für lange und ruhige Zeiten der Betrachtung und um sozusagen «auf das wachsende Gras zu hören». Ich versuche jedoch, einen regelmässigen Gebetsrhythmus einzuhalten und so viel wie möglich zu lesen; ich würde sonst nicht leben können.
Das Tessin ist durch die Alpen, aber auch durch die Sprachbarriere von der Deutschschweiz getrennt. Sie sind bei uns nicht so bekannt. Wer ist Valerio Lazzeri?
Alles in allem scheint mir dies ein uninteressantes Thema. Und weder die Alpen noch die Sprache sind so unüberwindliche Barrieren. Warum kommen die Deutschschweizer nicht zahlreicher zur heiligen Messe, die wir jedes Jahr am 1. August auf dem Gotthard feiern? Es wäre eine gute Gelegenheit, sich besser kennenzulernen!
Interview und Übersetzung: Rosmarie Schärer