1962 wurde in Rom das Zweite Vatikanische Konzil eröffnet. Eines der wichtigsten Dokumente, das drei Jahre später promulgiert wurde, war «Nostra Aetae». Diese Konzilserklärung über die Haltung der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen wurde, insbesondere, was das leidvolle Verhältnis Judentum-Christentum betrifft, sowohl von christlichen als auch jüdischen Kommentatoren als «kopernikanische Wende» bezeichnet. Doch welches waren die Etappen auf diesem Weg, und wie wurde der bahnbrechende Text in der Praxis umgesetzt? Wo stehen wir heute?
Doppelte Schutzherrschaft
Die Frage, ob Antijudaismus der christlichen Religion von Beginn weg innewohne, gilt bis heute als umstritten. Spät entstandene Texte des Neuen Testaments, die Ausfälle gegen «die» Juden beinhalten, werden heute mehrheitlich so gedeutet, dass sie Ausdruck eines scharfen Abgrenzungskampfes der neuen Glaubensrichtung gegen das Judentum sind. Viele Kirchenväter des dritten und vierten Jahrhunderts trieben diese Polemik dann auf die Spitze, in der Folge setzten sich auch Konzilien mit dem Verhältnis Christen-Juden auseinander – zu Ungunsten der Juden.
Seit dem Pontifikat Gregor des Grossen (590 bis 604) verfolgte das Papsttum in Bezug auf die Juden das sogenannte Konzept der «doppelten Schutzherrschaft», wonach sowohl die Christen vor den Juden als auch die Juden vor den Christen zu schützen seien. Für die Päpste war klar: Die Juden bildeten als Volk des alten Bundes und als Zeugen des Todes Christi einen notwendigen Teil der Heilsgeschichte. Und mit dem Konzept der Zeugenschaft des Kirchenvaters Augustinus im 4. Jahrhundert galt es, die Juden zu schützen, weil sie den christlichen Glauben bestätigten. Gleichzeitig wurden sie aber auch als Gefahr für das Seelenheil der Christen betrachtet und schon früh mit rigorosen Einschränkungen belegt. So erliess das vierte Laterankonzil von 1215 unter anderem eine Kennzeichnungspflicht und ein Verbot, öffentliche Ämter auszuüben. Immer wieder kam es zu Ausschreitungen des christlichen Mobs, zu Pogromen und Massenmorden, insbesondere zur Zeit der Kreuzzüge. Jüdisches Leben in Europa hiess, ständig damit rechnen zu müssen, wie vom Blitz aus heiterem Himmel getroffen zu werden. Da nützte es wenig, wenn die Päpste ihr Kirchenvolk zur Mässigung aufriefen wie zum Beispiel Gregor IX. (1227–1241), der die Bestrafung derjenigen Kreuzfahrer forderte, die jüdische Häuser geplündert hatten, oder Innozenz IV. (1243–1254), der sich gegen die Ritualmordvorwürfe aussprach mit der einleuchtenden Begründung, Juden dürften gemäss ihren Geboten ja gar nicht töten.
Wer meint, die Reformation hätte dem Antijudaismus der katholischen Kirche etwas entgegengesetzt, sieht sich spätestens bei der Lektüre von Martin Luthers giftigen Tiraden gegen die Juden eines Besseren belehrt – unter anderem lasten ihm manche an, dass sich viele deutsche Protestanten ab 1933 so schwertaten, dem Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten etwas entgegenzusetzen.
Ambivalente Haltung
Die Aufklärung und die Französische Revolution von 1789 brachten den Juden dann mehr Rechte, die aber schon in der Restauration ab 1815 wieder eingeschränkt wurden. Kirchlicherseits blieb ein starker Antijudaismus bestehen, der sich durch das Aufkommen des Liberalismus und die Nationalstaatenbildung noch steigerte: Katholischerseits wähnte man sich einer jüdisch-freimaurerischen Verschwörung ausgesetzt, so zum Beispiel, als die italienische Einigung 1870 zur Auflösung des jahrhundertealten Kirchenstaates führte. Es waren dann aber auch wiederum katholische Geistliche, wie die Abbés Joseph und Augustin Lémann, beides jüdische Konvertiten, die zur Zeit des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870 eine neue Betrachtungsweise der Juden ins Spiel brachten. Zwar sollten sie noch immer missioniert und bekehrt werden, aber man solle das Gemeinsame, nicht das Trennende in den Vordergrund stellen. Bedeutsam an der Eingabe war, dass über 500 Konzilsväter sie unterstützten.
Pius IX. (1846–1878) und Leo XIII. (1878–1903) liessen den amtsnahen Kirchenblättern freien Lauf, was die Hetze gegen eine angebliche jüdische Weltverschwörung betraf. Derselbe Leo XIII. wies den aufkommenden biologistischen und rassistischen Antisemitismus aber klar zurück, da alle Menschen Kinder Adams und Gottes Geschöpfe seien und damit unverletzlich.
1928 wurden Versuche einer von Ordensleuten und Priestern getragenen Gruppe namens «Amici Israel», die 1926 gegründet worden war, um die judenfeindlichen Elemente in der Liturgie zu streichen, vom Heiligen Offizium gestoppt, die Gruppe mit Billigung von Pius XI. verboten – mit der Begründung, hier sei ein Bündnis von Juden und Freimaurern zwecks Unterwanderung der Kirche zu orten. Gleichzeitig enthielt das Verbotsdekret aber auch eine klare Verurteilung des Antisemitismus. Das ging damals zusammen, einerseits Antijudaismus, andererseits Ablehnung des Rassenantisemitismus!
Das Pontifikat Pius XII. ist derzeit Gegenstand intensiver Forschung. Hier nur so viel aus der Perspektive damaliger Zeitzeugen jüdischer Provenienz: Im April 1945 bedankte sich Moshe Shertok von der Jewish Agency bei Pius XII. für die grosse Hilfe an den Juden im Krieg. Gleichzeitig forderte er die ungefähr 10 000 jüdischen Kinder zurück, die Mönche in ihren Klöstern vor den Nazis gerettet hatten. Eine Bitte, der stattgegeben wurde. Der israelische Botschafter in Italien, Eliahu Sasson, wie auch Golda Meir, damals israelische Aussenministerin, würdigten den Papst, er habe sich mitleidend offen für die Opfer eingesetzt und sei ein Diener des Friedens gewesen. Der Oberrabbiner von Rom pries ihn als grossherzig, so habe er unter anderem den römischen Juden bei der Golderpressung durch die SS geholfen.
Insgesamt zeichnen die jüdischen Zeitzeugen ein anderes Bild von Pius XII. als Rolf Hochhut 1963 im Nachhinein in seinem Drama «Der Stellvertreter». Hunderttausende von Juden habe der Vatikan geschützt und gerettet, schreibt der amerikanische Rabbiner und Historiker David Dalin. An die 800 000 zählt Pinchas Lapide, Gelehrter und israelischer Diplomat.
Und dennoch, so das Zwischenfazit der Historiker heute, war die «jüdische Frage» für den Vatikan nie prioritär gewesen, aufgrund des immer noch vorherrschenden Antijudaismus in der Kirche und wegen ihres gegen die Moderne gerichteten ökonomischen Antisemitismus.
Jüdisch-christliche Verständigung
Nach Kriegsende und als das Ausmass des Massenmordes deutlich wurde, schossen unzählige Kreise aus dem Boden, die die jüdisch-christliche Verständigung suchten. Und ganz neu: ohne Konversionsgedanken, wie das noch die Amici Israel und die Abbés Lémann angestrebt hatten. Es bildete sich unter anderem der internationale Rat der Juden und Christen, der im schweizerischen Seelisberg 1947 eine Konferenz abhielt und zehn Thesen gegen den Antisemitismus veröffentlichte.
Die Initialzündung zum eigentlichen Durchbruch im Verhältnis Judentum-katholische Kirche brachten die beiden Papst-Audienzen des französischen Historikers und Religionsphilosophen Jules Isaac (1877–1963), der von 1936 bis 1940 Generalinspekteur des französischen Bildungsministeriums war, dieses Amtes durch die Vichy-Regierung enthoben wurde, ein Lehrverbot erhielt und trotz Flucht nach Südfrankreich einen Teil seiner Angehörigen in der Shoah verlor. Er war einer der zentralen Köpfe von Seelisberg. Im Jahre 1949 empfing ihn Papst Pius XII., 1960 dann Johannes XXIII. Isaac hatte in seinem im Untergrund verfassten, 1948 erschienenen Werk «Jésus et Israel» theologisch gegen den Gottesmordvorwurf geschrieben und die Wurzeln des Antisemitismus in der christlichen Verkündigung, genauerhin im christlichen Antijudaismus, verortet. Isaac forderte die Kirche auf, gegen die «Unterweisung in der Verachtung der Juden» und «das System der Herabwürdigung» Stellung zu beziehen.
Johannes XXIII., der ein Jahr zuvor die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils angekündigt hatte, nahm Isaacs Vorschläge auf und übergab alles Kardinal Augustin Bea, dem einstigen Beichtvater von Pius XII. und Leiter des 1960 gebildeten «Sekretariats für die Einheit der Christen».
Thomas Schaffner