Was der frühere Abt von Einsiedeln hier provokativ vorträgt, fasst er im Titel sehr treffend zusammen: Für vieles ist es in der Kirche zu spät; das letzte Konzil wurde systematisch verlangsamt – nicht vom gläubigen Volk, sondern von den leitenden Instanzen. Die Vorwürfe sind happig, sie werden klar benannt, auch die verantwortlichen Personen sind eindeutig erkennbar oder mit Namen erwähnt. «Fünf vor zwölf» veranlasst zu hektischen Rettungsmassnahmen, «fünf nach zwölf» lädt zu Besinnung und Umkehr ein. Heftig wehrt sich Martin Werlen gegen jene, die «Traditionen» – einfach alles Überkommene – krampfhaft festhalten und darüber die «Tradi- tion», die Botschaft Christi, die immer wieder neu verständlich gemacht werden muss, vernachlässigen.
Glauben – ein offenes Wagnis
Man hat das Buch bzw. dessen Verfasser seit dem Erscheinen oft an einigen Forderungen festnageln wollen: dem Frauenpriestertum, der Segnung von homosexuellen Partnern, einem radikalen Wandel (der am Abbruch seines Klosters bildhaft in Erwägung gezogen wird), klügeren Nuntien, ausgewogeneren Bischofsernennungen und was an solchen Themen längst bekannt ist. Aber es geht ihm um viel mehr: um einen lebendigen, tapferen, mutigen Glauben. Jeder Einzelne «wird ganz gehörig herausgefordert. Er nimmt Abschied von der Verteidigung eines Systems oder einer Ideologie. Und stattdessen: Glauben. Schlicht und einfach glauben» (S. 155).
Aber er versteht darunter eben nicht «einfach nicken, sich von den Kirchenfürsten dirigieren lassen, passiv bleiben» (S. 155). Glauben ist Leben, Alltag, Ringen. «Glauben ist Suchen. Glaube ist Wagnis. In echtem Glauben kann nie alles klar sein. Alles klar ist nie im Leben, höchstens in Ideologien. Glaube ist Vertrauen» (S. 157). Und das wird an vielen Beispielen aus dem Leben, aus der Literatur, aus der Geschichte gezeigt. Ja, der Leser wird mit Vorteil den Hinweisen aufs Internet folgen, er wird mit Entdeckungen überrascht, auch musikalischen.
Martin Werlen bringt den Taten und Worten von Papst Franziskus volle Sympathie («Mitgefühl, Einhelligkeit») entgegen und von Benedikt XVI. erstaunliche Zitate v. a. aus seiner früheren Zeit als Theologe ein; anderen gegenüber bekundet er bei aller Vornehmheit der Gesinnung hie und da wohlbegründete Distanz.
Mit den Menschen reden
Und noch etwas ist von Martin Werlen zu lernen: die Kommunikation. Der Bahnfahrer und Nachtläufer im Trainingsanzug in düsteren Quartieren der Stadt kommt mit vielen Leuten in Kontakt und weiss, was sie umtreibt. Er findet, dass die Theologen und in der Kirche Tätigen nicht so sehr über die Leute und ihre Probleme schreiben sollten, sondern mit ihnen reden, dann kämen sie oft zu realitätsnäheren Lösungen. Dazu schreibt er fesselnd. Das Buch hebt mit einem fürchterlichen Knall mitten in der Nacht an, der ihn im Hotelbett aufschreckt. Der Leser erfährt erst im Abschnitt 48 (von 77), was die genaue Ursache war, aber der Autor kommt dadurch wieder zum alttestamentlichen Buch Jona mit dem widerspenstigen Propheten, bei dem allerhand Aktuelles nachzulesen ist, was er sich selber für seine Aufgaben merkt.
In «Zu spät» spricht ein Mensch, der dankbar seiner einfachen Herkunft gedenkt, seine Berufung zum Mönch dankbar vermerkt, der vielen Menschen dankbar verpflichtet ist und sich jetzt die Freiheit nimmt, sehr offen und klar, ohne Drumherumreden, in die heutige Situation hineinzusprechen. Ob die vielen, die er anspricht, seine Gedanken auch lesen und in die Tat umsetzen? Jedenfalls macht er Mut zum Weitermachen, da wo man eben gerade ist.
Iso Baumer