«Füreinander Andere bleiben dürfen»

Die Interkulturalität ist eine Herausforderung für die Organisation und die Finanzierung des kirchlichen Lebens. Daniel Kosch skizziert zwölf Kernanliegen.

2017 beschlossen die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) und die Römisch-Katholische Zentralkonferenz (RKZ), ein Gesamtkonzept für die Migrationspastoral in der Schweiz zu erarbeiten, das Ende 2020 publiziert wurde.1 Im Folgenden formuliere ich Kernanliegen mit besonderem Fokus auf die grundsätzlichen und strukturellen Aspekte der Thematik.2

1. Die Kirche ist stark migrantisch geprägt

Knapp 40 Prozent der Mitglieder der katholischen Kirche in der Schweiz haben eine Migrationsgeschichte und verdanken ihre kulturelle und kirchliche Prägung mindestens teilweise dem kirchlichen Leben in anderen Teilen der Welt. Gemeinsam mit den in der Schweiz verankerten Getauften bilden sie die «eine, heilige, katholische und apostolische Kirche» in diesem Land. Es gilt, die starke und dauerhafte migrantische Prägung der Kirche bewusst zu machen und als Chance für eine Pastoral zu nutzen, dank der die Mitglieder der Kirche erfahren, dass sie als Geschwister im Glauben zusammengehören, ohne die eigene Identität aufgeben zu müssen.

2. Die Lernprozesse sind anspruchsvoll

Der Übergang von einer kulturell und sprachlich homogenen kirchlichen Gemeinschaft (Mission, Pastoralraum, Seelsorgeteam) zu einer kulturell vielfältigen und mehrsprachigen Gemeinschaft erfordert anspruchsvolle Lernprozesse. Jürgen Habermas benennt die damit verbundenen Anforderungen wie folgt: Die Angehörigen einer solchen Gemeinschaft müssen zur wechselseitigen «Perspektivenübernahme» bereit sein und «sollen sich nicht nur reziprok als Gleiche anerkennen, sondern gleichzeitig in ihrer Andersheit respektieren und füreinander Andere bleiben dürfen».3

3. Regionale Gegebenheiten ernstnehmen

Die Ausgangslage für eine Weiterentwicklung der Migrationspastoral und die Dringlichkeit einer interkulturellen Öffnung der Pastoral sind regional verschieden. In städtischen Räumen, wo Kirchenmitglieder aus 15 oder 20 Kulturen leben und die «einheimischen» Katholiken weniger als die Hälfte ausmachen, präsentiert sich die Lage anders als z. B. dort, wo über 80 Prozent aus der Schweiz und die Zugewanderten hauptsächlich aus ein oder zwei Sprachräumen stammen.

4. Sich gemeinsam verständigen

Für Transformationsprozesse der Migrationspastoral in Richtung einer interkulturellen Pastoral ist das Zusammenspiel von pastoralen Instanzen und staatskirchenrechtlichen Behörden unerlässlich. Gemeinsam müssen sie sich auf ein pastorales Konzept verständigen, das den finanziellen Gegebenheiten Rechnung trägt. Angesichts der personellen und finanziellen Zukunftsperspektiven ist davon auszugehen, dass Neues nur entstehen kann, wenn beim Bisherigen eingespart und Personal reduziert wird. Das ist ohne Schuldzuweisungen zu akzeptieren und erfordert überzeugende Lösungen sowie entschiedenes Handeln.

5. Das Miteinander und das Eigene pflegen

Weder eine Pastoral, die unterschiedlichen Ausprägungen des Katholischseins Rechnung trägt, indem sie für jede einzelne Sprachgemeinschaft eigene pastorale Strukturen schafft, noch eine Pastoral, die von sämtlichen Katholikinnen und Katholiken erwartet, dass sie sich in eine einzige Form kirchlichen Lebens einfügen, trägt dem kirchlichen Prinzip von «Einheit in Vielfalt» Rechnung. Die Kirche der Zukunft braucht eine Balance, die beides berücksichtigt: Die anspruchsvolle Pflege des Miteinanders und die Möglichkeit, den Glauben mit Mitglaubenden zu leben und zu feiern, mit denen man sich verwandt fühlt.

6. Das Selbstverständnis neu formulieren

Die katholischen Migrantinnen und Migranten sind genauso vollwertige Mitglieder der staatskirchenrechtlichen Körperschaften, wie sie Mitglieder der Kirche sind. Je zahlreicher, aktiver und solidarischer auch sie sich an den Aufgaben der staatskirchenrechtlichen Organisationen beteiligen, desto besser und demokratisch legitimierter können diese ihren Auftrag als «Selbstverwaltungskörperschaften aller Getauften» wahrnehmen. Voraussetzung für ihr vermehrtes Engagement ist, dass sie ihre Anliegen wirksam einbringen und auf die Ausgestaltung der Migrationspastoral Einfluss nehmen können.

7. Eine interkulturelle Pastoral stärken

Organisation und Finanzierung der Seelsorge sind weitgehend vom Denkmodell geprägt, dass es einerseits eine territorial strukturierte ordentliche bzw. «einheimische» Pastoral und anderseits eine separat organisierte und finanzierte Migrationspastoral für Mitglieder bestimmter Sprachgemeinschaften gibt. Aber dieses separative Modell stösst an personelle und finanzielle Grenzen und wird den heutigen pastoralen Realitäten vielerorts nicht mehr gerecht. Zu stärken ist eine interkulturelle Gesamtpastoral, welche möglichst für alle erfahrbar macht, dass der Glaube «trennende Mauern niederreisst» (Eph 2,14) und «kein Unterschied mehr gilt» und trotz kultureller und sprachlicher Vielfalt «alle eins sind in Christus Jesus» (vgl. Gal 3,28).

8. Interkulturelle Strukturen fördern

Interkulturelle Strukturen, die mancherorts bereits erprobt werden, erhöhen die Aufmerksamkeit für Übergänge, Zwischenräume und Verbindungen zwischen der «einheimischen» Pastoral und den verschiedenen Sprachgemeinschaften. Sie stärken das interkulturelle Lernen, die Mehrsprachigkeit im wörtlichen und übertragenen Sinn, die Befähigung zur Zusammenarbeit in kulturell vielfältigen Teams oder den konstruktiven Umgang damit, dass unterschiedliche Vorstellungen vom richtigen Weg der Kirche in die Zukunft aufeinanderprallen.

9. In Transformationsprozesse investieren

Für den Übergang vom bisherigen bipolaren Modell mit ausgeprägtem Nebeneinander und der Tendenz zur Verfestigung von gegenseitigen Vorurteilen zu einem multipolaren und interkulturellen Miteinander sind guter Wille und Zugehörigkeit zur gleichen Kirche wichtige Voraussetzungen. Aber die notwendige Transformation geschieht nicht von selbst. Sie bedarf der Anpassung von Strukturen, der Aus- und Weiterbildung von kirchlichen Mitarbeitenden, der finanziellen Förderung von interkulturellen pastoralen Projekten, der Freistellung von Leitungspersonen für den Aufbau einer interkulturellen Pastoral und der Weiterentwicklung der gesamtschweizerischen Dienststelle «migratio» von der «Verteidigerin» der Migrationspastoral zur «Anwältin» der interkulturellen Pastoral.

10. Finanzielle Mittel gerecht verteilen

Bei der Weiterentwicklung der Migrationspastoral sind auch finanzielle Aspekte zu berücksichtigen. Es gilt nicht nur, vermehrt Mittel für interkulturelle Vorhaben bereitzustellen und anderswo einzusparen, sondern auch Fragen der Verteilgerechtigkeit und der Bedarfsgerechtigkeit des Mitteleinsatzes zu klären. Dafür bedarf es griffiger und überprüfbarer Kriterien. Diese müssen auch den finanziellen Disparitäten zwischen den Kirchgemeinden und kantonalkirchlichen Organisationen Rechnung tragen.

11. In lokale Strukturen einbinden

Die weitgehende Abkoppelung der Pastoral für einzelne Sprachgemeinschaften von der territorial organisierten allgemeinen Pastoral, die nötig ist, um sie auf einer übergeordneten Ebene (z. B. kantonal oder gesamtschweizerisch) zu organisieren, erschwert interkulturelles pastorales Lernen und verstärkt das Nebeneinander auf Kosten des Miteinanders. Aus diesem Grund sind die Angebote für einzelne Sprachgemeinschaften bestmöglich in regionale pastorale Strukturen einzubinden.

12. Die Kräfte bündeln und vernetzen

Um auch pastoralen Bedürfnissen gerecht werden zu können, die auf besondere Anspruchsgruppen ausgerichtete Angebote erfordern, bedarf es grossräumiger, netzwerkartiger Organisationsstrukturen. Die eher kleinräumigen staatskirchenrechtlichen Körperschaften können diesem Bedürfnis entsprechen, indem sie die Ressourcen bündeln. Die RKZ, die Urs Josef Cavelti einmal treffend als «lebendigsten Ausdruck schweizerischer Vielfalt, die Gemeinschaft im Handeln sucht»4 charakterisiert hat, kann zum Ausgleich zwischen lokaler Eigenständigkeit und übergreifender Vernetzung beitragen, indem sie vermehrt der Tatsache Rechnung trägt, dass «schweizerische Vielfalt» gesamtgesellschaftlich wie kirchlich zugleich interkulturelle Vielfalt ist.

Daniel Kosch

 

1  Auf dem Weg zu einer interkulturellen Pastoral. Gesamtkonzept für die Migrationspastoral in der Schweiz, herausgegeben von der Schweizer Bischofskonferenz und der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz, 2020.

2 Die Kernanliegen sind hier stark verkürzt formuliert. Siehe Bonusbeitrag (PDF).

3 Habermas, Jürgen, Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd. 2, Berlin 2019, 794.

4 Cavelti, Urs Josef, System und Funktion der staatskirchenrechtlichen Organe in der Schweiz, in: Carlen, Louis   (Hg.), Räte in der Kirche zwischen Recht und Alltag, Freiburg 1987, 31–43, hier 33.


Daniel Kosch

Dr. Daniel Kosch (Jg. 1958) ist seit 2001 Generalsekretär der römisch-katholischen Zentralkonferenz der Schweiz mit Sitz in Zürich.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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