Für ein solidarisches, geschwisterliches Wir

Die Schweizer Bischofskonferenz und die Römisch-katholische Zentralkonferenz veröffentlichten Ende 2020 ihr neues Gesamtkonzept für die Migrationspastoral.1 Seine Umsetzung beginnt.

Wie kann, soll oder gar muss eine zukunftsfähige Migrationspastoral gestaltet werden? Diese Frage beschäftigte die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) und die Römisch-katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) in den letzten 15 Jahren immer wieder. Die Migrationspastoral und mit ihr die heutige SBK-Dienststelle «migratio» erfuhren in der Folge regelmässige Veränderungen. Für die anstehenden Herausforderungen boten sie jedoch keine nachhaltige Lösung. 2017 beschlossen SBK und RKZ deshalb, ein gemeinsames Projekt zu lancieren, welches den Fokus der Migrationspastoral und der Kirche in der Schweiz in 20 Jahren im Blick hat – das «Gesamtkonzept Migrationspastoral».

Grenzen des bisherigen Modells

Eine der anstehenden Herausforderungen ist, dass die «klassischen» Ortspfarreien auf der einen Seite und die Missionen der anderssprachigen Gemeinschaften auf der anderen Seite vielerorts wenig miteinander zu tun haben. Gleichzeitig nehmen die Verantwortlichen von SBK und RKZ bei den anderssprachigen Gemeinschaften sich verändernde Realitäten wahr: Angefangen von Migrantinnen und Migranten, die nicht mehr zurück in die Heimat gehen, in der Schweiz bleiben und sich integrieren, über vermehrten Mangel an Berufungen in den Heimatländern, was die Besetzung von Missionen mit qualifizierten Seelsorgenden erschwert, Probleme der anderssprachigen Gemeinschaften, an einzelnen Orten gleichberechtigt Räumlichkeiten zu nutzen, obwohl die Migrantinnen und Migranten wie alle anderen ebenfalls Kirchensteuern entrichten, bis hin zu häufigen Reisen der anderssprachigen Seelsorgenden durch die ganze Schweiz, was von den Betroffenen einiges abverlangt.

Die «klassischen» Ortspfarreien wiederum widmen sich meist den Herausforderungen der einheimischen Seelsorge und weniger den Bedürfnissen und Herausforderungen der Migrantinnen und Migranten der ersten und zweiten Generation.2 Die pastoralen Strukturen in der katholischen Kirche in der Schweiz hatten dafür Missionen geschaffen. Eine Studie von Simon Foppa analysiert dies3: Die Willkommenskultur in den Missionen ist mit sogenannten Türöffnerinnen und Türöffnern, die auf neue Gemeindemitglieder zugehen, und Rezeptorinnen und Rezeptoren, die diese in ihre Gemeinschaft aktiv aufnehmen, stärker auf die Situation der Migrantinnen und Migranten ausgerichtet.

Zudem stellen SBK und RKZ fest, dass die «klassischen» Ortspfarreien und die anderssprachigen Gemeinschaften noch mehr von den jeweiligen Stärken des anderen profitieren und sich gegenseitig bereichern könnten.

Kernanliegen des Gesamtkonzeptes

Das nun vorliegende «Gesamtkonzept für die Migrationspastoral in der Schweiz» will kein fertiges Konzept liefern. Die pastorale Situation stellt sich von Ort zu Ort anders dar. Positiv gesprochen ist das Gesamtkonzept ein Arbeitsinstrument, das die Situation und Herausforderungen der Migrationspastoral aufzeigt, Grundsätze für die Zukunft, Leitsätze und Massnahmen auf nationaler Ebene sowie Empfehlungen auf regionaler Ebene und für die Kirche vor Ort formuliert.

Und doch hat das Konzept ein klares Ziel vor Augen. Die SBK hat als pastoral gewünschte Stossrichtung und zentrales Anliegen das «vermehrte Miteinander und bewusstere wertschätzendere Nebeneinander» formuliert.4 Oder wie Papst Franziskus es in seinem Motto für den Tag der Migrantinnen und Migranten am 26. September 2021 ausdrückt: «In Richtung eines immer grösseren Wir».5 Der Papst verweist dabei auf Fratelli tutti 35. Am Ende gibt es nicht mehr die anderen, sondern bei allen Unterschieden nur noch ein solidarisches, geschwisterliches Wir. Dieses universale Wir soll immer mehr Realität in unserer Kirche werden, die aufgerufen ist, immer mehr Gemeinschaft in Verschiedenheit zu werden. Dieses Ziel hat das Gesamtkonzept vor Augen. Dies unterstreicht auch P. Fabio Baggio CS, Untersekretär des Dikasteriums für ganzheitliche Entwicklung des Menschen der römischen Kurie, in seinem Nachwort zum Gesamtkonzept.6

Erste geplante Schritte

Es gibt verschiedene Wege hin zu einer interkulturellen Pastoral und einem vermehrten Miteinander. Gemeinsam ist ihnen, dass sie den Menschen in den Mittelpunkt stellen und die Realitäten vor Ort einbeziehen. Für die nationale Ebene wurden konkrete Schritte formuliert, deren Umsetzung innerhalb der nächsten vier Jahre erfolgen soll. Auf diözesaner und kantonalkirchlicher Ebene und auf der Ebene der Ortspastoral wurden Empfehlungen für die Entwicklung erarbeitet. Wichtigste konkrete Schritte auf nationaler Ebene durch migratio sind:

  • Übergabe von pastoraler und administrativer Führung von Missionen an die diözesane und kantonalkirchliche Ebene mit dem Ziel, das vermehrte Miteinander, den Austausch und die Koordination auf diesen Ebenen zu verbessern;
  • Sensibilisierung für die Pastoral von anderssprachigen Gemeinschaften;
  • Beratung und Unterstützung der Bistümer und Kantonalkirchen bei der Umsetzung der Empfehlungen des Gesamtkonzeptes;
  • Beratung und Unterstützung von Bildungsinstitutionen bei der Entwicklung von interkulturellen Weiterbildungen in der Deutsch- und Westschweiz;
  • Online-Dokumentation von pastoralen Projekten «best» und «good practice» und interkulturellen Weiterbildungen. Einige Beispiele seien hier bereits genannt: das Online-CAS «Pastoral in den Kontexten menschlicher Mobilität und Migration» der Universität Freiburg i. Ü.; ein diözesaner Weiterbildungskurs «Interkulturelle Kompetenz im kirchlichen Kontext» des Bistums Basel; die Deutschschweizerische Ordinarienkonferenz (DOK) ist daran, gemeinsam mit ForModula für die Deutschschweiz interkulturelle Bildungsangebote zu entwickeln; das gleiche geschieht für die Westschweiz im Centre catholique romand de formations en Église.

Wesentliche Empfehlungen für die diözesane und kantonalkirchliche Ebene sind (siehe Gesamtkonzept Migrationspastoral 26–29):

  • Aufbau bzw. Stärkung eines Teams für interkulturelle Pastoral und Stärkung der interkulturellen Kompetenz;
  • Förderung von interkulturellen Pastoralkonzepten;
  • Förderung des Einbezugs und Engagements von Mitgliedern der Sprachgemeinschaften in kirchlichen Behörden und Körperschaften.

Empfehlungen für die Kirche vor Ort sind (siehe Gesamtkonzept Migrationspastoral 30–31):

  • Gelebte Vielfalt stellt höhere Anforderungen, denen Rechnung zu tragen ist;
  • Vermehrtes sprach- und kulturübergreifendes Miteinander;
  • Beauftragung von Brückenbauerinnen und -bauern, welche dem vermehrten Miteinander besondere Aufmerksamkeit schenken.

Mit Offenheit und Mut

Heute schon gibt es in verschiedenen Kirchgemeinden und anderssprachigen Gemeinschaften Orte und Momente des Miteinanders, z. B. wenn Gottesdienste gemeinsam gefeiert werden oder der Tag der Migrantinnen und Migranten zusammen begangen wird. Dies gilt es zu vertiefen und weiterzuverbreiten. Im Weiteren sind schöne, kleine Initiativen entstanden, so z. B. der «Jerusalema – Ostergruss aus Luzern» 2021 der katholischen Kirche Stadt Luzern, bei der auch eine anderssprachige Gemeinschaft mitgewirkt hat, oder das als Malbuch für Kinder gestaltete Markusevangelium in vier Sprachen.7 Solche positiven Beispiele sollen weiter gefördert werden.

Zusätzlich zu diesen kleinen Projekten wird es auch Veränderungen von Einstellungen in unseren Köpfen und Herzen und in den Strukturen unserer Kirche bedürfen. Erste Schritte dazu werden beispielsweise in der interkulturellen Pfarrei in Renens oder im aktuell laufenden Projekt zur Migrationspastoral im Kanton Aargau unternommen. Diese beiden Projekte zeigen, dass die uns bevorstehenden Veränderungen viel Sensibilität, Mut, Offenheit und Engagement bedürfen. Mit ihnen können durchaus auch schmerzliche Erfahrungen verbunden sein, die gut und professionell begleitet sein wollen.

Ziel all dieser Schritte bleibt dabei immer das vermehrte Miteinander, das wertschätzende Nebeneinander und folglich das immer grössere Wir.

Karl-Anton Wohlwend

 

1 Auf dem Weg zu einer interkulturellen Pastoral. Gesamtkonzept für die Migrationspastoral in der Schweiz, 2021. Das Gesamtkonzept finden Sie unter www.migratio.ch.

2 Baumann-Neuhaus, Eva, Glaube in Migration, St. Gallen 2019, siehe auch in dieser Ausgabe S. 200–202.

3 Foppa, Simon, Kirche und Gemeinschaft in Migration. Soziale Unterstützung in christlichen Migrationsgemeinden, St. Gallen 2019.

4 Mediencommuniqué vom 28.2.2019 von der 323. ordentlichen Vollversammlung der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) vom 25.–27. Februar 2019 im Kloster Mariastein.

5 Vgl. https://migrants-refugees.va/world-day-of-migrants-refugees.

6 Baggio, Fabio, Nachwort, in: Auf dem Weg zu einer interkulturellen Pastoral. Gesamtkonzept für die Migrationspastoral in der Schweiz, 36.

7 Marchesi, Sara / Ruffoni, Massimo, Insieme nel mondo con San Marco, 2020. Das Malbuch zum Markusevangelium ist als Initiative von Gläubigen der Missione Catholica die Lingua Italiana Zimmerberg entstanden. Dort kann es auch bezogen werden (MCLI Zimmerberg, Burghaldenstrasse 7, 8810 Horgen, ).

 

 


Karl-Anton Wohlwend

Karl-Anton Wohlwend (Jg. 1968) ist Volkswirt und Theologe. Von 2019 bis Ende 2020 war er Nationaldirektor a. i., seit Anfang 2021 ist er Nationaldirektor der Dienststelle «migratio» der Schweizer Bischofskonferenz. Nach dem Einstieg in die Pastoral war er fast 20 Jahre lang im Sozial- und Gesundheitswesen tätig.