Der Verweis auf das eigene Gewissen ist selbstverständlich geworden, weil die Gewissensfreiheit verfassungsrechtlich geschützt ist. Dieses hohe Gut wurde erkämpft und vielfach bedacht. Ein ausserordentlicher Verteidiger seiner Würde und Analyst seiner Gefährdung ist John Henry Newman (1801–1890). In seiner Lebenszeit verwandelte sich seine Heimat durch die industriellen und bürgerlich-liberalen Transformationen zu jener Welt, die noch heute die unsere ist.
Newman geht davon aus, dass jeder Mensch von Gott eine besondere Sendung erhalten hat. Diese Sendung erfassen wir durch Gewissensbildung, indem wir aufmerksam auf unser Herz und Gottes Wort zu hören lernen. Weil jeder Mensch «allein vor Gott» steht und sich «selbst machen und entwerfen» muss, ist es von besonderer Bedeutung, dass wir lernen, über uns hinauszuhören. Deshalb bestätigt das Gewissen nicht die eigene Willkür, auch wenn es einen allgemeinen moralischen Sinn vermittelt. Gewissen ist vor allem ein «Sinn für Pflicht», das den Menschen mit einer unbedingten Forderung konfrontiert. Deshalb wird es als Richter in der Form einer personalen Begegnung erfahren. Dass der Mensch auf diesem Weg auch dem irrenden Gewissen zu folgen hat, ist unvermeidbar, weil jeder Mensch nur auf seinem Weg zu Gott finden kann. Immer aber geht dieser Weg, den er in seinem Gedicht «Lead, Kindly Light» beschreibt, «aus Schatten und Bildern in die Wahrheit».
Einen Weg entschiedener Aufrichtigkeit ist Newman selbst gegangen. Er führte ihn 1845 in die römisch-katholische Kirche. Auch wenn er nun Frieden gefunden hatte, geriet er mitten in den Richtungsstreit der damaligen Zeit. Er sah deutlich, wie reformbedürftig diese wahre Kirche Jesu Christi ist. Das kam nicht gut an. Auch in England setzten die massgeblichen Kräfte auf unbedingten Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität. Diente das Gewissen jetzt nur noch als passives Umsetzungsorgan für die Entscheidungen des Lehramtes?
Newman widersprach deutlich in seiner Interpretation der Unfehlbarkeit des Papstes nach dem Ersten Vatikanischen Konzil (1870). Der letzte Massstab für den Menschen bleibt das Gewissen. Deshalb könne er weder dem König noch dem Papst absoluten Gehorsam gewähren. Natürlich höre er in weltlichen Angelegenheiten auf den König und in geistlichen mit besonderer Aufmerksamkeit auf den Papst. Doch: «Wenn ich genötigt wäre, bei den Trinksprüchen nach dem Essen ein Hoch auf die Religion anzubringen (was freilich nicht ganz das Richtige zu sein scheint), dann würde ich trinken – freilich auf den Papst, jedoch zuerst auf das Gewissen und dann erst auf den Papst.»
Newman ist dafür berühmt geworden, dass er, wie er es ausdrückt, ein Leben lang gegen den theologischen Liberalismus gekämpft habe. Damit meint er, dass auch in der Religion von Wahrheit die Rede sein müsse und nicht ein Bekenntnis so gut wie ein anderes eingeschätzt werden könne. Gewissen ohne Wahrheitsorientierung ist absurd. In seiner Rede vor der Ernennung zum Kardinal betont er aber auch die Bedeutung der Liberalität und der Toleranz für die Gesellschaft. Die liberale Theorie beinhalte sehr viel Gutes: die Vorschriften der Gerechtigkeit, der Vertrauenswürdigkeit, der Mässigkeit, Selbstbeherrschung, des Wohlwollens, die für jede Gesellschaft überlebensnotwendig sind. Deswegen könne dieser Theorie nur dann widersprochen werden, wenn Religion von der Öffentlichkeit ausgeschlossen würde; wirkliche Liberalität gibt dem religiösen Zeugnis einen öffentlichen Raum.
Seine Kirche hat erst im Zweiten Vatikanischen Konzil seine Orientierungen aufgegriffen und angenommen. Nicht umsonst wird er der «geheime Peritus» dieses Konzils genannt. Seine Unruhe und Ernsthaftigkeit tun uns noch heute gut.
Roman A. Siebenrock*