Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist ein hohes Gut, das von der schweizerischen Bundesverfassung – bereits in der Helvetischen Verfassung von 1798 –, den meisten Kantonsverfassungen, der Europäischen Menschenrechtskonvention und den universalen Menschenrechten als unbedingtes Recht einer jeden Person geschützt wird. Am Beginn der Entwicklung der neuzeitlichen Idee der Menschenwürde – als Fundament der Menschenrechte – steht die ältere Vorstellung von der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Diese häufig als Tandem auftretenden Freiheiten haben religiöse Ursprünge. Sie verorten Glaubensüberzeugungen in einer höchst persönlichen Sphäre, die dem Zugriff Dritter und des Staates entzogen ist.
Unter dem Eindruck der blutigen Religionskriege in Folge der reformatorischen Glaubensspaltungen setzte sich der Gedanke durch, dass ein verlässlicher Religionsfrieden nur auf Grundlage einer allgemeinen Glaubensfreiheit erreicht werden könne. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 und der Westfälische Frieden von 1648 fokussierten allerdings auf die Glaubensfreiheit der Herrschenden und nicht der Beherrschten. Diese elitäre Sicht wurde in der neuzeitlichen, profanen Naturrechtslehre und Aufklärungsphilosophie «demokratisiert». Seither gelten die persönlichen religiösen und moralischen Überzeugungen als inneres und unveräusserliches Eigentum, das zum Wesen eines jeden Menschen gehört.
Gewissensfreiheit vs. Glaubensfreiheit
Ungeachtet ihres Status als Menschen- und Grundrecht bleibt die Gewissensfreiheit seltsam unbestimmt und vage. Laut einer Äusserung des Soziologen Niklas Luhmann aus dem Jahr 1965 hatten die deutschen Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtler das Grundrecht schlichtweg übersehen. Und der Jurist Martin Hilti attestiert 2007 der Gewissensfreiheit ein Schattendasein in der schweizerischen Rechtswirklichkeit. Das Bundesgericht beruft sich gar nicht auf sie. Juristische Aufmerksamkeit erhalte die Gewissensfreiheit lediglich indirekt bei Fragen zur Glaubens- und Religionsfreiheit. In den religionspolitischen Debatten der jüngsten Vergangenheit (Islamismus, Minarett, Verschleierung) berufen sich Befürworterinnen und Befürworter einer pluralen Religionspolitik ebenso auf die Glaubensfreiheit, wie Gegnerinnen und Gegner bei ihren antiislamischen Kampagnen die Gewissensfreiheit für sich reklamieren. Die Glaubensfreiheit der einen lässt sich knallhart mit Hinweis auf die Gewissensfreiheit bekämpfen.
Hinter dieser gemeinsamen Berufung der Konfliktparteien auf die gleichen Freiheitsrechte stehen die strittigen Fragen, ob das Diskriminierungsverbot der Gewissensfreiheit Schranken setzen sollte oder ob umgekehrt der Antidiskriminierungsartikel im Streitfall gegenüber der Gewissensfreiheit den Kürzeren ziehen müsse. Die schweizerische Rechtspraxis gewichtet die negative Freiheit der uneingeschränkten Meinungsäusserung gegenüber dem Diskriminierungsschutz sehr hoch. Das Recht tut sich zurecht schwer mit dem intimen Innenleben seiner Rechtssubjekte. Wenn die Frage «Kann denn Liebe Sünde sein?» Sinn macht, dann stellt sie sich erst recht im Blick auf das Gewissen. Aber die Überzeugung, dass die Gewissensfreiheit die eigenen Äusserungen oder höchstpersönlichen Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit in besonderer Weise schützt, muss nicht in Zustände moralischer Subversion und Anarchie münden, wie Petrus und die Apostel deutlich machen – im Gegenteil: «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen» (Apg 5,29). Die Verweigerung gegenüber den Forderungen einer menschlichen Ordnung(smacht) als «ultima ratio» erfolgt nicht willkürlich und freischwebend, sondern ausdrücklich mit der Berufung auf eine höhere Ordnung(sinstanz).
Mit sich mitwissen
Die Gewissensfreiheit teilt ein wesentliches Merkmal mit den Menschenrechten insgesamt: Sie schützt die einzelne Person gegenüber unrechtmässigen Übergriffen des Staates, der Gesellschaft oder einer Mehrheit. Dem korrespondiert die Vorstellung, dass Personen und nicht Kollektive über ein Gewissen verfügen. Aber was macht das Gewissen einer Person aus, auf welche Instanz beruft sich ein Mensch, der einen Gewissensvorbehalt geltend macht, und was gibt dem Gewissen sein besonderes Gewicht, das sogar der Reichweite und Gewalt des Staates und seiner Gesetze einen Riegel vorschiebt?
Das deutsche Wort Gewissen ist abgeleitet vom lateinischen «conscientia», wiederum eine Übersetzung des griechischen «syneídesis». Die Vorsilben ge-, con- bzw. syn- verweisen auf die soziative Funktion der Grundbedeutung der drei Begriffe: das Mit-Wissen mit jemandem in einer Sache, das bei einem geheimen oder verbotenen Wissen auch zur Mit-Schuld werden kann. In der reflexiven Bedeutung meint Ge-Wissen dann das, was ich selbst als Person mit mir mitweiss. Der fundamentale Beziehungsaspekt des Gewissens wurde in der Antike und im Mittelalter naturrechtlich begründet: als die geschöpfliche Anlage aller Menschen zum Guten, das heisst die allgemeinmenschliche Fähigkeit, die obersten naturrechtlichen Prinzipien irrtumsfrei erkennen zu können (vgl. Röm 2,14 f). In der Neuzeit, allen voran bei Kant, wird die anthropologische Qualität als Vermögen zur Selbstreflexion formalisiert. Das Gewissen wird zum inneren Gerichtshof (vgl. Röm 2,15) der autonomen Person, die selbst das Urteil über ihre Gedanken fällt.
Einzigartigkeit der Identität
Obwohl die antiken material-normativen Fundamente des Guten und Erstrebenswerten nicht in die Neuzeit hinübergerettet werden konnten, blieb die relationale Funktion des Gewissens erhalten. Das «forum internum» rückt die Person, die jemand ist, zu der Person, die sie sein könnte, sein sollte oder zu der sie bestimmt ist, in Beziehung. In der formalen Denkweise des positiven Rechts geht es darum, die Dignität und Einzigartigkeit der Identität und Integrität der Person zu garantieren und sie vor der äusseren Nötigung zur Selbstwidersprüchlichkeit zu schützen. Woran das individuelle Gewissen gebunden ist, was die persönliche Identität ausmacht und worin die Kohärenz zwischen der inneren und äusseren Existenzweise eines Menschen besteht, kann weder objektiv festgestellt noch normativ von aussen gesetzt werden.
Das moderne Recht interessiert sich nicht dafür, sondern fokussiert auf die äussere Verhaltensseite der Bürgerinnen und Bürger. Ein Gericht fragt zwar nach den Motiven und inneren Beweggründen einer Person, Gegenstand seines Urteils sind aber ausschliesslich die daraus hervorgegangenen, der Person zurechenbaren Äusserungen und Handlungen. Nicht die moralische Qualität der inneren Motive oder Antriebe sind relevant, sondern der Nachweis, dass die Tat als das freiwillentliche Handeln einer Person zugerechnet werden kann.
Die Freiheit des Andersdenkenden
Von der rechtlichen ist die demokratietheoretische Funktion der Gewissensfreiheit zu unterscheiden. Das demokratische Grundprinzip – «one person, one vote» – gründet seine Legitimität darauf, dass jede Stimme die persönliche Überzeugung der stimmberechtigten Person selbstbestimmt und frei zum Ausdruck bringt. Ohne das Grundrecht auf freie Kommunikation, die «Freiheit der Feder» (Kant), sind demokratische Willensbildungs- und Urteilsfindungsprozesse undenkbar. Das gilt umso mehr in Zeiten, in denen die ursprüngliche Idee des herrschaftsfreien Streits um das bessere Argument zunehmend von Empörungs- und Skandalisierungsrhetoriken übertönt wird. Schliesslich gehört in der Mehrheitsdemokratie die Gewissensfreiheit zum unverzichtbaren Fundament des legitimen Widerspruchs und im Zweifelsfall auch des Widerstands von Minderheiten, deren Rechtsansprüche und Partizipationsrechte gebeugt oder beschnitten werden. Die Gewissensfreiheit macht Ernst mit der Einsicht Rosa Luxemburgs, dass die Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden ist.
Frank Mathwig