Philosophie ist eine Form der Distanznahme, nicht vom menschlichen Leben und seinen Phänomenen überhaupt, sondern von den gängigen Deutungen dieser Phänomene. Zum menschlichen Leben gehört die Moral und zur Moral der Begriff des Gewissens. Das Gewissen zeigt sich oft in moralischen Konfliktsituationen, und zwar im Sinne einer kritischen, d. h. unterscheidenden und urteilenden (griechisch: krinein) Instanz.
Konkrete Situation und moralische Norm
Es kann Situationen geben, in denen mir begründete Zweifel kommen, ob tatsächlich einer bestimmten allgemeinen Norm zu folgen ist, und mein Gewissen mir zu einer anderen Handlungsweise rät oder sogar drängt: So komme ich etwa nach gründlicher Abwägung aller moralisch relevanten Gesichtspunkte zu dem Urteil, dass es hier und jetzt richtig ist, einem Menschen, der in einer schweren Notsituation ist, konkrete Hilfe zu leisten, auch wenn ich dadurch ein Versprechen, das ich einem Freund gegeben habe, nicht einhalten kann. Ist mein Urteil wahr, d. h. meine Einschätzung der Situation zutreffend, dann wäre mein entsprechendes Handeln ein Fall von Nothilfe und nicht ein Fall von Wortbruch. An der allgemeinen Geltung der moralischen Norm, dass gegebene Versprechen zu halten sind, ändert mein Gewissensurteil nichts. In meinem Gewissensurteil bringe ich nur die (durchaus irrtumsanfällige) Überzeugung zum Ausdruck, dass hier und jetzt eine andere Handlung von mir verlangt ist, als es die allgemeine Versprechenspflicht fordert. Mit dem britischen Moralphilosophen William David Ross ist zwischen «prima facie»-Pflichten und der tatsächlichen Pflicht, die sich aus dem Ganzen der Situation ergibt, zu unterscheiden.
Das Gewissen kommt aber nicht nur im Vorfeld einer Entscheidung zum Tragen, sondern bekanntlich auch im Nachgang: Es klagt uns an, wenn wir etwa wider besseres Wissen einer schlechten Neigung gefolgt sind. Oder es ruft in uns das Bedürfnis nach Wiedergutmachung hervor, wenn sich eine Entscheidung, bei Licht betrachtet, als falsch herausgestellt hat.
Gewissen – ein Zusammenspiel
Das Gewissen zeigt sich als ein kritischer Begleiter unseres praktischen Denkens. Dieser Begleiter lässt uns sowohl zu subjektiven Neigungen als auch zu objektiven Normen auf kognitive Distanz gehen und unsere Gedanken in einen Widerstreit geraten (vgl. Röm 2,14–16) – mit dem Ziel, ein wahres Urteil über das situationsgerechte Handeln zu fällen. Wir kennen das Gewissen aber auch von einer mehr affirmativ-inhaltlichen Seite als eine «Stimme», die uns bestimmte allgemeine Normen wachhält und unserem praktischen Denken im Sinne eines Massstabs vorhält: Wir fühlen uns schon immer an ganz bestimmte Normen und Werte gebunden, erfahren uns unter bestimmten moralischen Ansprüchen stehend. Beide Dimensionen des Gewissens, die kritisch-akthafte wie die affirmativ-habituelle, sind zu unterscheiden, aber nicht zu trennen: Ohne einen inhaltlichen Massstab wäre eine kritische Funktion nicht denkbar; das Gewissen würde zu einer leeren Reflexionsinstanz, im schlimmsten Fall zu einer mitlaufenden Selbst-Rechtfertigung und Selbst-Beruhigung unseres Tuns und Lassens. Aber auch das Umgekehrte gilt: Ohne die kritische Funktion würde aus dem Gewissen ein blosser Speicher von Normen und Werten, in dem im schlimmsten Fall nur gesellschaftliche Sanktionen verinnerlicht werden. Der Kern dessen, was im rechten Sinn unter «Gewissen» zu verstehen ist, besteht vielmehr im lebendigen Miteinander von habituellem moralischem Wissen und kritischer Anwendung, von objektiven Vorgaben und subjektiv-kritischer Anerkennung und Anwendung auf die konkrete Situation.
Endlichkeit des moralischen Denkens
Diese Zusammengehörigkeit hat in einer bis heute an Klarheit, Konsistenz und Phänomennähe unübertroffenen Weise Thomas von Aquin in seiner Gewissenslehre entfaltet. Mithilfe des Begriffspaars von «synderesis» und «conscientia», von Josef Pieper übersetzt mit «Urgewissen» bzw. «Situationsgewissen», bindet Thomas von Aquin seine Deutung des Gewissens eng an eine mehrstufige Theorie von praktischer Vernunft. Er vermeidet auf diese Weise die Schwächen einer intuitionistischen Deutung, nach der das Gewissen nichts anderes ist als eine Art «Organ», das uns unmittelbar und unbezweifelbar sagt, was wir zu tun und zu lassen haben. Eine solche Deutung kann zwar die Erfahrung der Bindung erklären, nicht aber die Phänomene des Zweifels, des Irrtums und der Gewissensbildung. Zudem kann eine solche Deutung dazu benutzt werden, das Gewissen gegenüber allgemeinen Normen auszuspielen, indem die sogenannte «Gewissensentscheidung» an die Stelle eines moralischen Grundes tritt. Mit einer solchen Redeweise soll dann nicht mehr (nur) hervorgehoben werden, dass eine Entscheidung nach bestmöglicher Berücksichtigung und Abwägung aller moralisch relevanten Gesichtspunkte und mit voller Verantwortung für die Folgen getroffen wurde, sondern es geht darum, Begründungspflichten abzuwehren und sich ohne Argumente von rechtlichen oder moralischen Ansprüchen zu dispensieren. Als endliche Vernunftwesen verfügen wir aber über kein irrtumsimmunes moralisches Organ; das mühevolle Geschäft der rationalen Begründung unseres eigenen Tuns bleibt uns nicht erspart.
Mit der «synderesis», dem natürlichen «habitus» unserer praktischen Vernunft, steht uns zwar ein Grundstock von allgemeinsten moralischen Prinzipien unmittelbar zur Verfügung, an deren Spitze das praktische Erstprinzip steht: «Das Gute ist zu tun, das Böse ist zu meiden.» Die genauere inhaltliche Anreicherung und Spezifikation dieses Erstprinzips ergibt sich aber erst aus dem Zusammenspiel von Natur und Vernunft, aus dem «Hören» auf die menschliche Natur mit ihren typischen Neigungen und der Formulierung und Begründung der zugehörigen Regeln. Die konkrete Vermittlung dieses in sich differenzierten Prinzipienwissens mit der Situation, die conscientia als eine Anwendung («applicatio»), ist ein mühevolles und fehleranfälliges Unterfangen. Gerade die moderne Moralphilosophie hat eine hohe Sensibilität für unterschiedliche Typen von normativen Gesichtspunkten entwickelt (allgemeine Rechte, besondere Verpflichtungen, Nutzen, intrinsische Werte usw.). Damit sind die potenzielle Konflikthaftigkeit jeder Situation und die entsprechende Endlichkeit unseres moralischen Denkens in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.
Eigene Vernunft als entscheidende Instanz
Wenn also «Gewissen» für etwas Kognitives (also nicht für ein Gefühl oder einen Willensentschluss) steht, das die Form einer kritischen Reflexion unseres praktischen Denkens im Licht von habi- tuell verfügbaren Prinzipien annimmt, mit dem Ziel eines letzten praktischen Urteils – worin liegt dann die Normativität des Gewissens, auch eines irrenden Gewissens, begründet?
Ob jemand seinem Gewissensurteil als einem «Spruch der Vernunft» folgt oder nicht, macht für die moralische Beurteilung des Handelnden einen Unterschied. Das Recht spricht von der Freiheit des Gewissens im Sinne eines Abwehrrechts; niemand darf gegen sein Gewissen z. B. zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Zweite Vatikanische Konzil nennt das Gewissen das «Heiligtum des Menschen». Was also macht die Würde des Gewissens aus?
Im Kern ist es die Unhintergehbarkeit der eigenen Vernunft als Instanz dessen, was ich hier und jetzt nach bestem Wissen für die sittliche Wahrheit halte und in meiner Person zu verantworten bereit bin. Der Wille kann sich, so Thomas von Aquin, nur dann auf eine Handlung als etwas Gutes beziehen, wenn diese Handlung dem Willen zuvor von der Vernunft als etwas Gutes und somit zu Tuendes vorgestellt wurde. Daher ist, so Thomas, jeder Wille, der vom eigenen Vernunfturteil, also auch dem irrigen, abweicht, immer schlecht, aber nicht jeder Wille, der mit dem eigenen Vernunfturteil, also auch dem irrigen, übereinstimmt, ist deswegen schon gut. Vielmehr muss das, was die Vernunft für gut hält, auch tatsächlich gut sein.
Als endliche Vernunftwesen sind wir stets auf die je grössere moralische Wahrheit verwiesen und daher zur steten Gewissensbildung verpflichtet.
Stephan Herzberg