Helden wohnen nebenan

Vorbilder erfahren gerade eine Renaissance. Welche Vorbilder eignen sich für den Unterricht? Für Hans Mendl sind es besonders Menschen von nebenan, die – medial unscheinbar – zivilcouragiert sind.

Welcher Held darf es sein? Wilhelm Tell, Niklaus von Flüe oder Paul Grüninger? Die Frage nach dem geeigneten Modell oder Vorbild lässt sich aus religionspädagogischer Sicht nur beantworten, wenn man das lernende Kind und den lernenden Jugendlichen als Ausgangspunkt in den Blick nimmt und ein angemessenes Lernverständnis im Umgang mit fremden Biografien entwickelt.

Der Mensch wird am Du zum Ich

«Der Mensch wird am Du zum Ich», so formuliert es Martin Buber.1 Kinder und Jugendliche brauchen für die Entfaltung einer eigenen Identität personale Orientierungspunkte. Niemand kann sich ausschliesslich aus sich selbst heraus entwickeln. Nach einer Krise des Vorbilds am Ende des 20. Jahrhunderts spricht man heute von einer Renaissance des Vorbilds. Dies lässt sich auch empirisch belegen. Weit mehr als noch vor 30 Jahren geben heute Jugendliche an, dass sie ein Vorbild haben. Auch gesellschaftlich erscheint es als unverzichtbar, dass es zivilcouragierte Persönlichkeiten und ehrenamtlich Tätige gibt: Sie sind der gesellschaftliche Kitt, der dafür sorgt, dass die Welt nicht aus den Fugen gerät.

Sich in fremde Biografien «einklinken»

So verstanden dienen fremde Biografien als ein Gegenüber, an dem Kinder und Jugendliche ihre Identität entwickeln können: Sie beschäftigen sich mit den Idealen, Werten und Entscheidungen anderer Personen und überlegen, wie sie sich selber verhalten würden, was ihnen wichtig ist und was ihre eigene Vorstellung eines guten Lebens ist. Von diesem Ausgangspunkt her ist aber bereits eine Vorentscheidung darüber getroffen, wie fremde Biografien didaktisch ins Spiel kommen: Es geht nicht darum, ideale und vollkommene Helden zu präsentieren, die die Kinder und Jugendlichen nachahmen sollen. Ein solcher Umgang mit Heiligen und Helden bestimmte die Pädagogik und religiöse Erziehung bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein: «Sei mutig wie Wilhelm Tell!» – «Sei so fromm wie Niklaus von Flüe!» – «Sei zivilcouragiert wie Paul Grüninger!». Der Schriftsteller Siegfried Lenz bezeichnete Vorbilder, wenn sie so ins didaktische Gefüge eingebracht werden, als «pädagogischen Lebertran» und «peinliche Überbautypen», die bei den Kindern und Jugendlichen nur zu Minderwertigkeitskomplexen führen würden.2 Papst Franziskus folgert in seiner Enzyklika «Gaudete et exsultate» (GE Nr. 11) mit Recht: «Es gibt Zeugnisse, die als Anregung und Motivation hilfreich sind, aber nicht als zu kopierendes Modell.» Von daher verbietet sich ein Umgang mit fremden Biografien, der einem einfachen Nachahmungsmodell entspricht.

Ein Lernen an fremden Biografien heute ist einem diskursethischen Ansatz verpflichtet: Kinder und Jugendliche sollen sich immer wieder mit biografischen Skizzen ganz unterschiedlicher Personen auseinandersetzen; beim «Einklinken» vor allem in Lebensentscheidungen dieser Personen scheinen auch eigene Wertoptionen auf: Würde ich auf meinen Sohn zielen wie Wilhelm Tell? Meine Familie verlassen wie Niklaus von Flüe? Juden mit gefälschten Pässen die Flucht ermöglichen wie Paul Grüninger, der Schweizer Polizeioffizier? Was würden mir die Menschen in meinem Umfeld raten? Darf ein Familienvater seine Familie verlassen? Welche Folgen hat mein Handeln – bei Paul Grüninger folgte die Amtsenthebung und erst eine sehr späte posthume Rehabilitation für sein zivilcouragiertes Handeln! Wenn Kinder und Jugendliche dann aus guten und nachvollziehbaren Gründen zu einer gegenläufigen Entscheidung kommen, müssen das die Lehrenden akzeptieren.

Ein Himmel voller Vorbilder

Von einem solchen Ansatz her ist die Wahl der Personengruppen, an denen gelernt werden soll, beinahe schon zweitrangig: «Bei Vorbildern ist es unwichtig, ob es sich dabei um einen großen toten Dichter, um Mahatma Gandhi oder um Onkel Fritz aus Braunschweig handelt, wenn es nur ein Mensch ist, der im gegebenen Augenblick ohne Wimpernzucken gesagt oder getan hat, wovor wir zögern», meint Erich Kästner.3 Personen der Geschichte, Persönlichkeiten heute, biblische Personen inklusive Jesus Christus, literarische Figuren oder mediale Figuren und Stars können didaktisch eingespielt werden, um sich an ihnen abzuarbeiten, an ihren Lebensentscheidungen und den damit verbundenen Wertoptionen.

Auf die Frage nach den Personen, die besonders wichtig in ihrem Leben und für sie ein Vorbild sind, geben Jugendliche seit vielen Jahren konstant an, dass es sich hier um Personen aus dem familiären Umfeld handelt: Eltern, Grosseltern oder Geschwister. Auch Lehrkräfte, Trainer und Freunde werden genannt. Und selbst an sogenannten gebrochenen Biografien und negativen Vorbildern kann man etwas lernen.4

Helden des Alltags

Seit über 20 Jahren widmen wir uns an der Universität Passau dem Forschungs- und Lehrprojekt der «Local heroes»5: Zwischen den grossen Helden und medialen Personen und den familiären Vorbildern erscheinen uns besonders die Menschen dazwischen als ergiebig für ein orientierendes Lernen zu sein: «Heilige der Unscheinbarkeit», nennt Romano Guardini solche Personen; ein Mensch, der «immer nur das tut, was von Mal zu Mal die Stunde von ihm verlange».6 Es handelt sich also um die Menschen von nebenan, die in einem bestimmten gesellschaftlichen oder kirchlichen Segment aktiv sind: sich für Kranke, Sterbende und Trauernde einsetzen, Friedensarbeit oder Nachbarschaftshilfe betreiben, zivilcouragiert handeln, einen Freiwilligendienst ableisten oder einfach nur ehrlich und fair sind. Man findet sie in allen Ländern und an allen Orten. Auf dem Marktplatz der vielfältigen personalen Angebote in der Postmoderne verdeutlichen solche Menschen: Man kann auch inmitten unserer Wohlstandsgesellschaft Ausflüge in gute Welten wagen! Solche «Helden von nebenan» (viele Hunderte findet man in unserer Datenbank der «Local heroes») können weit mehr als die grossen Heiligen und Helden, die oft so weit weg sind vom eigenen Leben, dazu motivieren, selber aktiv zu werden: «Wir sind alle berufen, heilig zu sein, indem wir in der Liebe leben und im alltäglichen Tun unser persönliches Zeugnis ablegen, jeder an seinem Platz, an dem er sich befindet» (GE Nr. 14).7

Und immer wieder scheinen neue Personengruppen auf, die Anlass für ein orientierendes Lernen bieten: Aus dem schier unüberschaubaren Feld der digitalen Influencer, die sicher in ihrer Darstellungsweise und Wirkung nicht unumstritten sind, widmen wir uns aktuell den sogenannten «Sinnfluencern»: Menschen, die auf originelle Weise ethische Werte leben, die allesamt dem Nachhaltigkeitsgedanken gewidmet sind. Sie setzen sich für Chancengleichheit, verantwortbare Reisemöglichkeiten, Konsum, Ernährung und Produktion oder Tierschutz ein.8

Denkanregung statt Denkmal

Der skizzierte Umgang mit fremden Biografien kann auch auf die klassischen Vorbilder angewendet werden: Auch die grossen Heiligen sind, wenn man genau hinsieht, weit spannender als das, was die Kirche in den legendarischen Überhöhung aus ihnen gemacht hat. Franz von Assisi beispielsweise ist sicher eher ein Denkanstoss als ein unmittelbares Vorbild zur Nachahmung, der gerade in seinen sperrigen Einstellungen und Lebensperspektiven zur Auseinandersetzung anregt. Die biblischen Personen eignen sich auf besondere Weise für ein orientierendes Lernen, weil es sich bei ihnen um Menschen mit Stärken und Fehlern handelt.

Holt die Helden von ihren Sockeln, dann können sie zum Denken anregen! Und orientiert euch an den Helden von nebenan!

Hans Mendl

 

1 Buber, Martin, Ich und Du, in: Ders., Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954, 7-121, hier 32.

2 Lenz, Siegfried, Das Vorbild, Hamburg 1973, 45.

3 Kästner, Erich, Die vier archimedischen Punkte, in: Gesammelte Schriften für Erwachsene, Bd. 7, Zürich 1969, 258.

4 Siehe dazu auch: Mendl, Hans, Modelle – Vorbilder – Leitfiguren. Lernen an außergewöhnlichen Biografien, Stuttgart 2015.

5 Mehr Informationen: www.uni-passau.de/local-heroes

6 Guardini, Romano, Der Heilige der Unscheinbarkeit, in: Katechetische Blätter 102 (1977), 677.

7 Siehe dazu auch: Mendl, Hans, Helden wohnen nebenan. Lernen an fremden Biografien, Ostfildern 2020.

8 Vgl. www.uni-passau.de/local-heroes/sinnfluencer

 


Hans Mendl

Prof. Dr. Hans Mendl (Jg. 1960) studierte Theologie, Germanistik und Sprecherziehung/Sprechwissenschaft an der Universität Regensburg. Er ist seit 1999 Professor für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts am Department für Katholische Theologie an der Universität Passau.