Die Tür-Meditation Joh 10,7–10
7Da sagte Jesus wiederum:
Amen, amen, ich sage euch,
Ich bin die Tür zu den Schafen.
8Alle, die vor mir gekommen sind,
sind Diebe und Räuber.
Aber die Schafe hörten nicht auf sie.
9aIch bin die Tür.
Durch mich,
wenn jemand eintritt,
wird er gerettet werden.
9bUnd er wird eingehen und ausgehen
und er wird Weide finden.
10aDer Dieb kommt nur,
um zu stehlen, abzuschlachten und zu verderben.
10Ich bin gekommen,
damit sie Leben haben
und [es] in Fülle haben.
Media vita in morte sumus – so beginnt die mittelalterliche Antiphon, die nach einer schönen Legende Notker Balbulus aus dem Kloster Sankt Gallen im 9. Jahrhundert gedichtet haben soll, als er in den Schweizer Bergen einem gefährlichen Brückenbau zusah und die Einsicht ihn überfiel, in jedem Augenblick seines Lebens vom Tod überrascht werden zu können. Bekannt geworden ist die Übertragung von Martin Luther, die Eingang in viele Gesangbücher gefunden hat: «Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen. Wer ist, der uns Hilfe bringt, dass wir Gnad erlangen?» Unvorbereitet vor seinen Richter treten zu müssen, jagte dem mittelalterlichen Menschen panische Angst ein.
Wer vom Johannesevangelium herkommt, wird den Satz umkehren: «Mitten wir im Tod sind mit dem Leben umfangen.» Für den vierten Evangelisten ist diese Welt ein «Totenhaus» (Dostojewski), das Sein des Menschen ein Dasein zum Tode. Und der Einzige, der eine Bresche aus der Finsternis ins Licht zu schlagen vermag, ist der «Menschensohn», der aus dem Himmel stammt und den Weg ins wahre Leben in seinem Hingang zum Vater eröffnet hat (Joh 3,13 f.): «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; keiner kommt zum Vater, es sei denn durch mich» (Joh 14,6).
Sind Gesundheit und Überfluss alles?
Was der Evangelist in seinem Buch betreibt, ist eine atemberaubende Umwertung dessen, was die Menschen für gewöhnlich Glück und Erfüllung nennen. Selbstverständlich gilt zunächst: Der schon seit achtunddreissig Jahren Gelähmte erhofft sich vom Heilwasser des Teiches Betesda in Jerusalem Gesundung, und Jesus schenkt sie ihm auch durch sein Wort: «Steh auf, nimm deine Liege und geh!» (Joh 5,8). Wenn wir Gesundheit wünschen, fügen wir gerne hinzu: Nichts wichtiger als das! Der vierte Evangelist geht darüber hinaus, indem er erklärt: Was dem Menschen am Teich Betesda durch Jesu Wort widerfuhr, ist Bild für das, was eigentlich zählt – die Aufrichtung oder Erweckung der geistlich «Toten» durch Jesu Wort. «Denn wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, wen er will» (Joh 5,22). Und der Menge, die er am See von Galiläa so überreich mit Brot und Fischen gesättigt hat, und die nun hofft, in ihm den Garanten gegen alle Hungersnot gefunden zu haben, erklärt der johanneische Jesus: «Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben […] Das ist der Wille meines Vaters, dass jeder, der an mich glaubt, das ewige Leben hat» (Joh 6,34.40).
«Ewiges Leben»: Weithin zu einer religiösen Worthülse für etwas Jenseitiges, Fernes geworden, das die Totenmesse für die Verstorbenen erbittet, ruft diese Wendung nach ihrer johanneischen Füllung: «Mitten wir im Tod sind mit dem Leben umfangen». «Leben in Fülle» – darauf müssen wir nicht warten, es erschliesst sich hier und jetzt schon im Glauben, davon ist der vierte Evangelist zutiefst überzeugt. Die sogenannte Hirtenrede Joh 10, aus der das vielzitierte Wort stammt, vermittelt diese Überzeugung und vermag sie uns in ihrem Wirklichkeitsgehalt durch ihre Bildwelt zu erschliessen.
Jesus – nicht nur der Hirt, auch die Tür
Die wohlkomponierte Rede besteht aus zwei Hälften, dem Gleichnis vom Hirten und seinen Schafen (V. 1–6) und einer weiterführenden Auslegung (V. 7–18) mit Meditation zum Bildelement der Tür (V. 7–10) und zu dem, was einen guten Hirten ausmacht (V. 11–18). Dieser Schlussteil geht mit seinen Gedanken zum Tod Jesu (V. 11: «Der gute Hirt setzt sein Leben ein für die Schafe») weit über die Grundrede V. 1–6 hinaus. Das Wort. «Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Fülle haben» (V. 10) beschliesst die Tür-Meditation, die wie ein Vexierbild unterschiedliche Ansichten darbietet. Sie lohnt eine nähere Betrachtung.
Eingangs hiess es in der Gleichnisrede: «Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und Räuber. Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe» (10,1). Das (neben der Hirten-Figur an sich unwichtige) Bildelement der Tür erfährt jetzt eine eigene allegorische Auslegung: «Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen» (V. 7). Die Heilbringer, die vor Jesus gekommen sind (und auch nach ihm weiterhin kommen werden), um sich Zugang zu den Menschen zu verschaffen, sind alles Diebe und Räuber. Jesu Schafe wissen darum und hören nicht auf ihr Werben (V. 8), denn, wie das Basisgleichis sagte: Sie kennen die Stimme ihres Hirten, wie auch dieser sie alle einzeln beim Namen ruft (V. 3).
Mit dem zweiten Türspruch V. 9a ändert sich das Bild: «Ich bin die Tür. Durch mich, wenn jemand eintritt, wird er gerettet werden.» Gemeint ist die Himmelstür, der Zugang zum «Haus des Vaters», von dem die erste Abschiedsrede 14,2 spricht. Durch diese Tür hindurchzugehen, heisst für den Menschen: in das Licht eintreten, im Himmel beheimatet sein, am Leben teilhaben. Ganz ähnlich sagt es 14,6: «Ich bin der Weg …; keiner kommt zum Vater, es sei denn durch mich.»
In V. 9b wandelt sich das Bild ein weiteres Mal, jetzt unter Anspielung auf die Schrift: Wer Jesus glaubt, «wird eingehen und ausgehen und Weide finden». Beheimatet im Schafstall des guten Hirten, finden die Schafe Weide auf den Bergen, können getrost ausziehen und des Nachts in ihren Stall wieder zurückkehren. Die Bitte des Mose erfüllt sich: «Der Herr, der Gott der Geister und allen Fleisches, möchte sich umsehen nach einem Menschen für diese Gemeinde, der vor ihnen hinausgeht und der vor ihnen einzieht und der sie hineinführt, und die Gemeinde des Herrn soll nicht sein wie Schafe, die keinen Hirten haben» (Num 27,15–17; vgl. Ez 34). Unter der Obhut Jesu wird die Erfahrung des Psalmisten auf neue Weise wahr: «Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.»
«… nichts wird mir fehlen» (Ps 23,1)
Das ist keine Idylle. Der Beter von Psalm 23 preist seinen Herrn im Wissen um vielfältige Bedrängnis und Gefahr: «Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab, sie trösten mich. Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde» (Ps 23,4 f.). Die Welt der Hirtenrede Joh 10 ist in gleicher Weise voller Gefährdungen. «Diebe und Räuber» bevölkern sie (V. 1.8), im Schlussteil der Rede begegnet das Gegenbild von «Mietlingen», die bezahlt werden für ihre Hirtendienste und dem Leben der Schafe bei Gefahr ihr eigenes vorziehen (V. 12f.). Wird hier schon vor eigennütziger Gemeindeleitung gewarnt, so hat die Tür-Meditation «Diebe» im Blick, die nur kommen, «um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten» (V. 10a). Es sind wohl Menschen, die mit Heilsversprechungen kommen, Glück und Reichtum, Erfolg und Anerkennung, Macht und Herrschaft verheissen, es aber nur auf den eigenen Gewinn absehen. «Ich bin gekommen» – setzt der gleiche Vers scharf dagegen –, «damit sie das Leben haben und es in Fülle haben» (V. 10b). Jesu Schafe hören auf ihn, die Fremden, die einsteigen, kennen sie nicht.
Realismus und Menschenkenntnis des Johannesevangeliums sind erstaunlich. Gegenüber Heilsversprechungen bleibt es skeptisch. Wer meint, «in den Himmel aufsteigen», Irdisches überspielen zu können, der täuscht sich: «Niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist: der Menschensohn» (3,13). «Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch» (3,6) – Gras, das verdorrt, Blume, die verwelkt (vgl. Jes 40,6–8).
Vom Menschen denkt das Evangelium sehr hoch. Es weiss zwar um die Mächte des Todes und der Finsternis, auch der Sünde, die ihn versklaven (3,19; 8,21.34). Aber es setzt darauf, dass «die Wahrheit» ihn «freimacht» (8,32). Dem Herzen des Menschen traut es viel zu. «Die Stimme der Fremden kennen sie nicht», sagt das Basisgleichnis von den Schafen (V. 5) – «… sie hörten nicht auf sie» (V. 8). Aber wenn sie «beim Namen gerufen werden», wie dies bukolischer Sitte entspricht (Longus IV 26,4: Daphnis «sprach mit den Ziegen, und die Böcke rief er beim Namen»), dann reagieren sie auf ihren rechtmässigen Hirten (V. 3). Was bei den Tieren ihr untrüglicher Instinkt ist, das ist bei den Menschen ihr «Herz, das Gründe hat, welche die Vernunft nicht kennt» (Blaise Pascal). Wird es in seinem unstillbaren Lebensdurst von Jesu Stimme berührt, dann wird es einer Erfüllung gewahr, die alles, was dem Menschen sonst wertvoll erscheinen mag, unendlich übersteigt. «Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!» (Jes 43,1). Alles liegt am Geschenk dieser Beziehung, die zwischen Jesus und den Seinen in deren Erwählung gestiftet wurde: «Wer zu mir kommt, den wird nicht mehr hungern, und wer an mich glaubt, den wird niemals mehr dürsten» (6,35).
«Mitten wir im Tod sind mit dem Leben umfangen»
Wie steht es also um den Wirklichkeitsgehalt der johanneischen Überzeugung, dass, wer glaubt, Anteil am «ewigen Leben» erhält – nicht erst irgendwann nach dem Tod, sondern hier und jetzt schon in seiner irdischen Existenz? Wie erklärt es sich, dass der Evangelist meint vorwegnehmen zu können, was andere, zum Beispiel Paulus, erst für die Auferweckung der Toten am Ende der Zeiten erwarten? Auch der nichtpaulinische Autor des Epheserbriefes ist der Ansicht, die Glaubenden seien schon mit Christus in der Taufe «auferweckt» und in die «himmlischen Bereiche» versetzt worden, und ruft ihnen zu: «Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein!» (Eph 5,14). Was ist das Besondere der johanneischen Überzeugung von der Gegenwart des Heils?
Wie die Hirtenrede zu verstehen gibt, ist es die innige Beziehung der Erwählten zu Jesus, die «Leben in Fülle» bedeutet. Wer nach der Mitte johanneischen Denkens fragt, stösst auf die Theologie der Liebe. «Gott ist Liebe» (1 Joh 4,8) – und wer Jesu Wort festhält, von dem heisst es in der Abschiedsrede Jesu: «Mein Vater wird ihn lieben und wir werden (an Ostern) zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen» (14,23). Liebe ist reine Gegenwart. Wenn «Heil» bedeutet, in glückenden und heilenden Beziehungen zu leben – im «Frieden» miteinander und mit sich selbst –, dann ist der Grund von alldem die Zusage, von Gott geliebt zu sein. Dies aber – in Gottes Liebe zu sein – trägt die Gegenwart und überdauert die Zeiten, auch den Tod. Bedarf es mehr?
Michael Theobald