«Ich will mit euch über die Liebe reden»

Mit der Theologie des Leibes legt Johannes Paul II. die Vision eines gelingenden Lebens in Fülle vor. Das Ehepaar Birgit und Corbin Gams entdeckte und lebt diese Vision – die Schönheit der Liebe und der Sexualität.

Unsere Lebenswirklichkeit im Jahr 2004 war – und ist es immer noch – die eines glücklichen, katholischen, kinderlosen Ehepaars, das sich in den damals elf zurückliegenden Ehejahren sowohl in der Pastoral, in Katechese und Evangelisation als auch in Sozialprojekten engagiert hatte. Zu unserer Lebenswirklichkeit gehörten auch Dissonanzen und Meinungsverschiedenheiten, die wohl allen Verheirateten vertraut sein dürften. Kurz: ein ganz normales Ehepaar.

Die Theologie des Leibes lernte ich (Corbin) durch Vorträge eines amerikanischen Theologen kennen. Für mich, der ich in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Theologie studiert hatte, waren diese Gedanken vollkommen unbekannt. Trotz meines Studiums blieben viele moraltheologischen Fragen gerade auch im Bereich der Sexualmoral unbeantwortet und das nicht in einem äusseren, vielmehr in einem sehr persönlichen Sinn. Ich kannte die gängigen Richtungen, die entweder alles als «nicht so schlimm», «normal»  oder «auch hier gibt es Werte» rechtfertigte, oder die andere Richtung, die quasi noch an einer Vergangenheit festhielt. Den dritten Weg des «nicht darüber Redens» scheinen jedoch die meisten gewählt zu haben.

Doch diese Vorträge über die Theologie des Leibes veränderten mein Leben. Während ich in meinem Hinterkopf immer noch die Kategorien aus meiner Kindheit «Das tut man nicht – weil man es nicht tut» hatte, begannen die Gedanken Johannes Pauls II. in mir eine Vision entstehen zu lassen, eine Vision von dem, was Gott für mein Leben vorgesehen hat. So habe ich begonnen, in kleinen Schritten mein Verhalten meiner Frau gegenüber zu ändern, ohne jedoch meiner Frau Birgit von meinen Gedanken und Vorsätzen zu erzählen. Nach ungefähr vier Wochen fragte sie mich: «Corbin, was ist passiert, warum bist du so anders?» Dies war der Beginn unseres gemeinsamen Weges mit der Theologie des Leibes.

Die Sehnsucht des Menschen

Der Ansatz der Theologie des Leibes ist ein gänzlich anderer als der der gängigen Moraltheologie. In Johannes Pauls II. Vision vom Menschen steht die Frage nach Gott immer im Mittelpunkt. Wer nach dem Menschen fragt, stellt auch die Frage nach Gott. Wer versucht, die Geschichte der Menschen ohne Gott zu verstehen, wird sie nur oberflächlich verstehen. Johannes Paul II. fragte dabei immer auch nach der Erfahrung und der Sehnsucht des Menschen. Legendär sind seine Begegnungen mit den Jugendlichen, die er mit den Worten begann: «Ich will mit euch über die Liebe reden, die Liebe, für die ihr erschaffen seid, die Liebe, nach der sich jeder von euch sehnt.» Er fragt nach der Erfahrung und in gleicher Weise fragt er anhand der Genesis nach dem Plan Gottes für die menschliche Liebe und den Urerfahrungen des ersten Menschenpaares. Diese Urerfahrungen weisen ihm den Weg in der konkreten Seelsorge. Die Argumentationslinien der meisten Menschen und sehr vieler Moraltheologen gehen in die Richtung, dass das, was alle tun, «normal» ist und daher auch zu rechtfertigen sei.

Mit dem Verweis auf Mt 19 gibt Johannes Paul II. einen Hinweis auf seine Art der Seelsorge. Wenn wir diese Worte Jesu in unsere Sprache übersetzen wollten, könnte es etwa so lauten: Denkt ihr, dass all das, was ihr in eurer Sexualität erlebt, dass all die Spannungen und Verletzungen normal sind? Nein, sie sind es nicht. Es ist nicht die Weise, wie Gott die Liebe gedacht hat. Die Antworten auf eure Fragen findet ihr nicht, wenn ihr auf die gefallenen und gebrochenen Lebenswirklichkeiten schaut. Euer Blick muss hinter die Kulissen gehen, dorthin, wo Gott selbst euch die Liebe und den Weg zur Liebe gezeigt hat.

Dieser, in aller notwendigen Kürze dargelegte Kerngedanke, ist unserer Meinung nach Grund, weshalb immer mehr Menschen die Theologie des Leibes für sich entdecken. Hier geht es weder um Puritanismus, noch um Laissez-faire, noch weniger geht es um eine in Moral gehüllte Kirchenpolitik. Nein, hier geht es um das echte Leben, das möglichst erfüllt und nicht gebrochen gelebt werden will.

Eine Vision für gelingendes Leben

Johannes Pauls II. Frage – wiederum pointiert verkürzt – ist nicht: Wie weit kann ich gehen, damit ich bei diesem oder jenem Tun kein schlechtes Gewissen zu haben brauche? Und falls ich doch ein schlechtes Gewissen haben sollte, dann müsste man das Ungute einfach «gut» nennen, nach dem Motto: Tut, was euch guttut, lebt nach eurer Lebenswirklichkeit. Seine Frage ist: Wo findest du wirkliches Leben, Leben in Fülle? Er stellt die Frage nach dem Plan Gottes für unser Leben, mehr noch: Es ist die Frage, nach welchem Bauplan wir als Abbild Gottes geschaffen sind. Nur wenn wir diesem Plan der Liebe Gottes für uns folgen, können wir erfülltes Leben finden.

Genau dies war für uns der Unterschied: Nicht etwas nichttun, sondern das umsetzen, was ein Leben in Fülle verheisst. Als ein Mann, der seit 28 Jahren in der Pastoral und Glaubensvermittlung tätig ist, kann ich sagen: Eine Vision für das eigene Leben zu haben, motiviert in einer ganz anderen Dimension als die Frage, was darf ich, was darf ich nicht. Die Intention Johannes Pauls II. ist im Blick auf die Schönheit von Liebe, Sexualität und Hingabe, eine Vision für gelingendes Leben anzubieten.

Die eigene Würde erkennen

Was heisst das jetzt konkret? Aus Platzgründen kann jetzt nicht tiefer in die unterschiedlichen Aspekte der Ehevorbereitung, Familienbegleitung oder die Sexualerziehung der Kinder eingegangen werden. Dennoch möchten wir einige Haltungen und Werte aufzeigen, durch die die Theologie des Leibes ihren Ausdruck finden kann.

Ein erster wertvoller Schritt ist, den Menschen ihre Herkunft und damit ihre Würde vor Augen zu führen: In den meisten theologischen und kirchlichen Diskussionen scheint diese Tatsache unbedeutend zu sein. Vielleicht gibt es noch ein vages Bewusstsein davon, dass jeder Mensch Abbild Gottes ist. Aber wird dies in der ganz konkreten Seelsorge sichtbar, indem es heisst: Du bist Abbild Gottes, du bist in seiner Ähnlichkeit geschaffen? In einem zweiten Schritt gilt es aufzuzeigen, dass mit dieser Ähnlichkeit auch eine ganz eigene, individuelle Würde einhergeht. Es gibt viele Menschen, die an ihrer Würde zweifeln. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass andere oder sie selbst diese Würde verletzt haben und dass sie mit ihrer Gebrochenheit anscheinend fehl am Platz sind. Hier gilt es aufzubauen. In einem dritten Schritt wird betont, dass Gott die Liebe ist, und dann konkret gefragt: Wie liebt Gott und was können wir von seiner Art und Weise zu lieben für uns ableiten?

Dieses Wie der Liebe Gottes gilt es jetzt mit unserem Wie der Liebe zu vergleichen. Der Unterschied wird schnell deutlich. Viele Menschen sind auf ihrer Suche nach wahrer Liebe auch den Fälschungen der Liebe begegnet. Das, was ihnen als Liebe verkauft oder vorgegaukelt wurde, hat sie verletzt und enttäuscht zurückgelassen. An diesem Punkt angekommen ist der Mensch oft bereit, hinter seine eigene Maske zu blicken und sein Herz zu öffnen. Er steht da als Person, ohne Maske – vor sich selbst und wenn er will auch vor Gott oder einem Menschen, den er um Hilfe bittet. Hier ist dann der Seelsorger gefragt, der zuhört, aufnimmt, nicht urteilt, beisteht, mitleidet, versteht und – wichtig – zunächst nichts sagt! Erst nach einiger Zeit könnte als nächster Schritt dann die Frage kommen: Was wäre deine Sehnsucht gewesen? Diese beiden Elemente – Erfahrung und die Sehnsucht – bringen den Menschen im Tiefsten zu sich selbst und von diesem Punkt aus können viele Einzelfragen angegangen werden.

Ein besonderer Schlüssel zum Verständnis der  Theologie des Leibes ist der Begriff «Geschenk». Eines der am häufigsten von Johannes Paul II. gebrauchten Zitate aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist: «Der Mensch, […], kann sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden» (Gaudium et spes 24,3). Die Erfahrung lehrt: Damit ich mich schenken kann, muss ich mich selbst zuerst empfangen, ja mich selbst besitzen. Hier keimt die Frage auf: Besitze ich mich wirklich oder besitzt etwas anderes mich? Diese Logik des Schenkens1 bildet gleichsam die Grundmelodie der Theologie des Leibes. Der aus Liebe gewollte Mensch verwirklicht sich selbst, indem er sich schenkt. Gerade in diesem sich Verschenken findet er das Glück, das er sucht, und nicht zuletzt sich selber. Auf dieser Grundlage zeichnet sich die weite Dimension der Theologie des Leibes ab – eine Vision für gelingendes Leben in jeder Lebenswirklichkeit.

Birgit und Corbin Gams

 

1 Auf diese Logik des Schenkens verweist auch Papst Franziskus in Amoris Laetitia (AL) 151. Insgesamt verweist er in AL knapp fünfzigmal auf Texte von Johannes Paul II. und seine Theologie des Leibes.

Studiengang: Die «Theologie des Leibes» von Johannes Paul II. näher kennenzulernen und zu studieren, ist möglich. Der Studiengang «Theologie des Leibes» bietet eine intellektuelle und fundierte Einführung und eine spirituelle und menschliche Schulung. Der Studiengang umfasst acht Module innert vier Semestern. Er findet an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz (A) statt. Mehr Informationen unter
www.theologiedesleibes.org

Weiterführende Literatur

  • Tanner, Leo / Gams Birigit und Corbin, Sexualität als Liebeskraft leben – Orientierung und Hilfe, Koblenz 2016.
  • Gams, Corbin, Liturgie der Liebe  – Die Sprache des Leibes in ihrer ganzen Tiefe, Altötting 2015.
  • Granados, José, Zur Liebe berufen – Eine Einführung in die Theologie des Leibes von Johannes Paul II., Kisslegg 2014.
  • Gams, Birgit und Corbin, Eine Vision von Liebe. Die Theologie des Leibes nach Johannes Paul II., zweite Auflage, Dornbirn 2021.

Gams

Birgit Gams ist Sozialpädagogin. Sie hat die Leitung «Wohnen» inne und ist Mitglied der Geschäftsleitung in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung in Altstätten SG. Seit 2005 ist sie gefragte Referentin und Autorin zum Thema Theologie des Leibes in den deutschsprachigen Ländern. Lic. theol. Corbin Gams MTh ist Dozent für Theologie des Leibes und Leiter des Studiengangs «Theologie des Leibes» an der Phil.-theol. Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz (A). Er ist Mitarbeiter der «Initiative Christliche Familie» bei der sterreichischen Bischofskonferenz. Seit 2005 ist er zusammen mit seiner Frau gefragter Referent und Autor zum Thema Theologie des Leibes in den deutschsprachigen Ländern.