Ikonen als Zugang zum Göttlichen

Der rumänische Ikonograf Gabriel Solomon beendet mit dem «Omega» sein Ikonenfresko in Freiburg i. Ue. (Bild: Barbara Hallensleben)

 

Die Zeit, in der Ikonen als typisch ostkirchlich galten, ist vorbei. Ikonen haben Einzug gehalten in unsere Kirchen, in den Alltag unseres Glaubens. Angesichts der gegenwärtigen Bilderflut, einschliesslich der unzähligen «Icons», die wir selbstverständlich in unserer Computersprache benutzen, wäre der Bildersturm ein aussichtsloses Unternehmen und würde nur die Woge aufdringlicher, manipulativer Bilder noch unkontrollierter vordringen lassen. Welche Bilder helfen uns, die Welt zu sehen und miteinander zu kommunizieren? Wer heute die Bilder beherrscht, beherrscht die Welt.

Im nachreformatorischen Streit zwischen Katholiken und Protestanten wurde erbittert um die Frage gekämpft: Wort oder Sakrament? Die Sakramente wurden bekämpft, weil sie uneindeutig waren, nur Zeichen, Symbole, Bilder, nicht die Wahrheit. Das Wort als Wort Gottes hingegen galt als klar und eindeutig. «Es legt sich selbst aus», sagten die Reformatoren. Inzwischen haben wir gemeinsam gelernt: Es gibt kein eindeutiges Wort. Das Wort selbst ist Bild eines Logos, der sich immer wieder auch entzieht. Der bekannte Religionsphilosoph Sergej Averincev sagte einmal zu Beginn eines Vortrags: «Es gibt zwei Kulturen, um eine Wahrheit zu vermitteln. Im Westen sagt man: Ich erkläre es dir mit Worten, Begriffen, logischer Argumentation. Wenn du es nicht verstehst, dann versuche ich es mit einem Bild. Im Osten sagt man: Ich zeige dir ein Bild. Wenn du nicht fähig bist, es zu verstehen, dann muss ich es halt mit meinen armseligen Worten versuchen […]. Wie finden beide Kulturen zueinander?»

In ostkirchlicher Tradition wird ein Ikonenmaler nicht Maler, sondern Ikonograf genannt. Er «schreibt» die Ikone. Sein Bild wird zu einem Wort. Es macht den Logos sichtbar, der im Anfang bei Gott war (Joh 1,1). Dieses ewige Wort Gottes ist Fleisch geworden. Jesus Christus ist Wort des Vaters – selbst, wenn er vor Pilatus steht und schweigt, selbst wenn er tot im Grab liegt. In den Ikonen kommt die Flut der Bilder und die Flut der Worte zur Ruhe. Wort und Bild wenden sich kontemplativ ihrem Ursprung im Logos zu. Wer Ikonen schreibt, muss nicht in erster Linie eine künstlerische Begabung haben. Er oder sie muss fasten und beten und fähig sein, das Geschaute im Bild zu zeigen. Der Ikonograf ist nicht das einsame Genie, als das der Künstler der Moderne gilt. Ikonen werden nie signiert; ihre Urheber treten hinter ihrem Werk zurück. Allerdings sind Ikonen in der Regel worthaft, indem sie die Namen der dargestellten Personen oder Szenen der Heilsgeschichte tragen.

In seinem exzellenten Werk «Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst» (München 1990) erinnert der Kunsthistoriker Hans Belting daran, dass Ost und West eine gemeinsame Tradition des Bildes haben. Bis zur Renaissance waren die Bilder fast immer zugleich Kultbilder, weil sie ein Angesicht offenbarten. Belting beobachtet, wie im Bilderstreit in der Regel die einfachen Gläubigen und die Mönche auf der Seite der Bilder standen, die Theologen und die Kaiser hingegen die Bilder bekämpften. Unter dem Titel «Die Macht der Bilder und die Ohnmacht der Theologen» schreibt er: «Wenn sie die Bilder erklärt und den Zugang zu ihnen reguliert hatten, waren die Theologen zuversichtlich, die Dinge wieder in der Hand zu haben» (Belting, 11).

Heute entgleiten uns die Bilder und die Worte – und mit ihnen der Zugang zu den Herzen der Menschen. Vielleicht können wir in der Schule der Ikonen wieder lernen, die «Visitatio Verbi», den «Besuch des Wortes (Gottes)» zu erwarten, von dem der heilige Bernhard von Clairvaux in seinen mystischen Schriften immer wieder Zeugnis gibt. So kann unsere Sprache zum Bild der Wirklichkeit werden – und unsere Bilder werden wieder sprechen lernen.

Barbara Hallensleben1/Stefan Constantinescu2

 

1 Personenangaben zu Prof. Dr. Barbara Hallensleben s. Seite 482.

2 Stefan Constantinescu (Jg. 1986) ist ein rumänischer orthodoxer Doktorand und orthodoxer Kodirektor des Zentrums St. Nikolaus für das Studium der Ostkirchen. Er ist
Koordinator des Doktoratsprogramms «De Civitate Hominis» sowie Präsident des Vereins St. Nikolaus der orthodoxen Studierenden an der Universität Freiburg i. Ue.