In fruchtbarer Spannung zweier Pole

«Thule» und «Hellas» stehen für zwei ganz unterschiedliche Kulturen: die germanische und die griechisch-römische. Sie schliessen einander nicht aus, sondern ergänzen und befruchten sich gegenseitig.

Romano Guardini lebte als Italiener in Deutschland und besuchte als deutscher Gelehrter immer wieder Italien. Er steht zwischen Geburts- und Wahlheimat und findet eine Identität in Europa. Wie ihm am Anfang des 20. Jahrhunderts ergeht es heute Hunderttausenden jungen Menschen in unseren Ländern. Sein Leben und sein Denken können deshalb Anstoss für heutige Denkmodelle für ein einheitliches Europa sein.

Italienisches Elternhaus – deutsche Bildung

Romano Michele Antonio Maria Guardini wurde am 17. Februar 1885 in Verona geboren. Bereits 1886 erfolgte die Übersiedlung der Familie nach Mainz, da der Vater Romano Tullo Guardini (1857–1919) dort ein Geschäft übernahm.

Dieser schätzte zwar seine neue Heimat, empfand sich aber immer als Gast. Er eröffnete Romano in der Heranführung an Dantes Divina Commedia auch die Welt tiefer italienischer Sprache und Geistlichkeit, deren Bedeutung für das gesamte spätere Schaffen kaum überschätzt werden kann. Guardinis Dante-Studie1 trägt deshalb auch die liebevolle italienische Widmung: «Dem Andenken meines Vaters, von dessen Lippen das Kind die ersten Verse Dantes pflückte».

Die Mutter Paola Maria Guardini (1862–1957) vertrat noch stärker als der Vater das Italienische in der Familie. Sie war im Südtirol aufgewachsen und entdeckte schon als Kind als «Irredenta»2 ihre Liebe zu Italien. Ausser einigen Höflichkeitsbeziehungen, dem sonntäglichen Kirchgang und den täglichen notwendigen Besorgungen lebte sie ganz im Haus und hielt auch ihre Kinder in diesem geschlossenen Rahmen. Sie zeichnete sich durch unverbrüchliche Treue ihres Herzens und Willens zu ihrer Familie, aber auch zu ihrem Heimatland aus.

In Mainz besuchte Guardini von 1894 bis 1903 das humanistische Gymnasium, womit das Deutsche als Sprache in den Vordergrund rückte:

«Zu Hause wurde italienisch gesprochen; die Sprache der Schule und der geistigen Bildung aber war das Deutsche. Dieses gewann, wie es nicht anders sein konnte, als die Sprache, in der Wissen und Lebenskenntnis zuflossen, die Oberhand. Später war es auch die Sprache der Universitäten, die ich besuchte und in der sich eigenes geistiges Schaffen zu entfalten begann.»3

In Spannung zur sich entwickelnden Geistestätigkeit in nordischer Bildung pflegte das Elternhaus hingegen eine beinahe gänzlich unzugängliche Insel italienischer Sprache und Kultur im sie umgebenden deutschen Meer zu sein. So äusserte Guardini einmal Bewunderung für das italienische, ganz abgeschlossene Hauswesen und wünschte andermal geradezu, die nordische Bildung hätte sich in den Nachmittag hinein fortgesetzt. Diese Gegensätzlichkeit, nicht Widersprüchlichkeit (!), zwischen Geburts- und Wahl- heimat manifestierte sich in der Schulzeit, in der Wahl des Berufs, 1911 in der Annahme der hessischen Staatsbürgerschaft und schlussendlich im nicht mitvollzogenen Umzug der Mutter und seiner Brüder 1920 an den Comer See.

Denkmodell für heute: Thule und Hellas

Das ständige existenzielle Problem der Heimat zwischen Italien und Deutschland sucht Guardini theoretisch 1920 in seinem Aufsatz «Thule oder Hellas?»4 zu fassen. Sieht er bereits 1915 die einzige Brücke zwischen Italien und Deutschland in der Liebe Christi, bilden germanischer Drang und südliche Form – gehalten in Christus – eine fruchtbare Spannung zweier Pole, die sich gegenseitig bedürfen. In einem Thule oder Hellas erblickt Guardini hingegen eine gefährliche Verkürzung. Im Hintergrund des Aufsatzes schwelt auch ein grosses inneres und ihn tief bewegendes Ringen mit der Gestalt und dem radikalen Denken Friedrich Nietzsches. Auf dessen Grundlage der Prophezeiung des Übermenschen suchten einige einseitig abgleitende Theoretiker der völkischen Schulreform und der Jugendbewegung, unter ihnen Ludwig Gurlitt und Oscar Schütz, Jugendbildung unter «Betonung des Willens, des Vitalismus, des Mythos und des Heldentums»5 zu betreiben. Der Nationalsozialismus sollte diese Stränge in seinen Formeln von Blut, Boden und Rasse aufgreifen und Nietzsche depotenzieren für das reine vitale, aber entpersonalisierte und durch die Nation kontrollierte deutsche Heldentum. Die erwähnten Ursprünge stehen Guardini 1920 vor Augen, besonders immer auch Nietzsche, den er jedoch keinesfalls überwindet oder negiert, vielmehr – um einen Ausdruck Martin Heideggers zu adaptieren – verwindet.

Erstreb(t)en einige Pädagogen die Jugend allein mit Thule, der «Urgeschichte des eigenen Volkes»6, zu bilden und die fremde klassisch-humanistische Bildung zu ersetzen, sieht Guardini in diesem Bildungsprogramm eine doppelte Verfehlung. Einesteils bedeutet ihm das Oder-Denken ein Schisma uralter gewachsener Lebensverknüpfungen und andernteils berge eine rein germanische Erziehung eine Grenze in sich. Mit spürbarer Emphase schildert Guardini die unbändige Kraft der Sprache der isländischen Sagas der Sammlung Thule. Die in ihnen geschilderten Menschen sind durch Drang, Masslosigkeit und einen tiefen Ernst für die Wirklichkeit gekennzeichnet und von einem reichen Innenleben und von Treue getragen. Die nordische Kultur ist verwurzelt in Wille und Tat, in den Tiefen des Gemüts, ja im Irrationalen und steht nur in einer losen Beziehung zur deutenden Vernunft. Ein Grundzug des Germanischen ist deshalb auch das «Chaotische»7. Wird das germanische Wesen zum alleinigen Bildungsideal erhoben, d.h. rein in der Kontradiktion verwirklicht, isoliere es sich aufgrund der im Germanischen gegebenen Irrationalität selbst. Es bedürfe daher als notwendiger konträrer Ergänzung und auch zur weltkulturbildenden Wirkung der «Formklarheit»8 der griechisch-römischen Klassik. Sie besitzt eine befreiende Wirkung für den germanischen Drang. Die Gefahren der Einseitigkeit können jedoch nicht durch Nachahmung der griechisch-römischen Kultur und damit eine Aufhebung jener in diese gelöst werden, vielmehr muss spannungs- und damit lebensreiche Befruchtung und Anregung geschehen: «Diese [die klassische Kultur, P.M.] ist kein Widerspruch zu deutschem Wesen, sondern ein Gegensatz, und zwar einer der fruchtbarsten, lebenskräftigsten, die es vielleicht überhaupt gibt. […] Also Thule und Hellas»9!

Die grundlegende Denkstruktur für das Verhältnis zwischen Drang und Form, ja zwischen zwei Nationen, ist weder Negation noch Unterordnung, sondern Einheit als polares Spannungsgefüge. Dieses auch für eine heutige Theorie von Europa sehr hilfreiche Denkmodell formuliert Guardini 1925 in seiner «Gegensatzlehre» aus.

Heimat als Europäer

Guardinis grundlegende Lebensspannung zwischen Italien und Deutschland treibt ihn zur Suche nach einer Einheit, die er methodisch und strukturell in seiner Gegensatzlehre und existenziell als Europäer findet:

«Da ist mir aus persönlichster Beanspruchung heraus jene Realität deutlich geworden, deren Name heute in aller Munde ist, von der man aber damals kaum sprach: das Faktum ‹Europa›. Ich erkannte es als die Basis, auf der ich allein existieren könne: hineingewandt in das deutsche Wesen, aber in Treue festhaltend die erste Heimat; und beides nicht als blosses Nebeneinander, sondern eins in der Realität ‹Europa› […] Ich habe daher Anlass, hervorzuheben, dass ich schon sehr früh den Drang nach dem Norden empfunden habe – manchmal stärker als mir lieb sein konnte […] So erwachte das Bewusstsein von ‹Europa› als Antwort auf eine höchst persönliche Frage […] Und man empfindet die Sorge, was Europa gross gemacht hat, könne ihm zum Verhängnis werden – so wie einst Hellas an seiner eigenen Differenzierung und Spannungsfülle zu Grunde gegangen ist.»10

Europäer zu sein bedeutet für Guardini keine Ablösung von den eigenen Wurzeln, kein Aufheben des Eigenen in einem Dritten. Europa ist für ihn der Einheitsgrund und der Zusammenhang für das Lebenkönnen in den Spezifika der eigenen Herkunft. Er sieht sich nicht als Kosmopolit, der letztlich nirgendwo ganz zu Hause ist, vielmehr als italienisch-deutschen Europäer. Die Weite des Ausgreifens Europas bedarf als Gegenpol eines Raumes der Treue, den Guardini in der Beheimatung in der Nation erblickt. Die in ihm und in Europa heraufziehende ungeheure Spannungsfülle verschiedenster Nationen vermag für ihn allein die Gestalt Jesu Christi zu vereinen.

Im Jahr 1962 wird dem Deutsch-Italiener Romano Guardini schliesslich der Erasmuspreis in Brüssel als einem «der grössten Europäer von heute»11 verliehen.

Paul Metzlaff

 

1 Guardini, Romano, Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, Leipzig 1937.

2 Als «Irredenta» wurden die unter habsburgischer Fremdherrschaft stehenden Italiener bezeichnet.

3 Guardini, Romano, Europa – Wirklichkeit und Aufgabe. Rede nach der Verleihung des «Praemium Erasmianum» zu Brüssel am 28. April 1962, in: Ders., Sorge um den Menschen. Band 1, Mainz – Paderborn 41988, 238 f.

4 Vgl. Brief an Weiger vom 26. Mai 1915, Mainz, in: Gerl-Falkovitz (Hg.), «Ich fühle, dass Grosses im Kommen ist». Romano Guardinis Briefe an Josef Weiger 1908–1962, hg. von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Paderborn 2008, 165.

5 Guardini, Romano, Thule oder Hellas? Klassische oder deutsche Bildung?, in: Der Wächter 3,1 (1920), 2–16.66–79; hier zitiert nach: Ders., Wurzeln eines grossen Lebenswerks. Aufsätze und kleine Schriften. Band 1, Mainz – Paderborn 2000, 345.

6  Guardini, Thule oder Hellas, aaO., 366.

7  Ebd., 371.

8  Guardini, Romano, Stationen und Rückblicke, Mainz – Paderborn 21995, 296 f.

9  Vgl. Guardini, Europa, aaO., 241.

10 Vgl. Guardini, Romano, Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik. Eine theologisch-politische Besinnung, Stuttgart 1946, 46 f.

11 Prinz Bernhard der Niederlande, Würdigung, und Theo Lefèvre, belgischer Ministerpräsident, Festansprache, in: FAZ, 30.4.1962, Der Erasmuspreis.


Paul Metzlaff

Dr. theol. Paul Metzlaff (Jg. 1987) ist als Referent für Glaubensbildung in der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz tätig. Er studierte in Rom, Dresden und München Katholische und Orthodoxe Theologie und Philosophie und promovierte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar über Romano Guardini. Er ist verheiratet und lebt in Düsseldorf.

 

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