Jesus von Nazareth – eins mit Gott? (II)

Die Trilogie von Benedikt XVI. in der exegetischen Diskussion

b) Die Methode des Buches

Die johanneischen Dimensionen des Denkens, das hinter dem Jesusbuch steht und durch die Exegesen historisch plausibilisiert werden soll, sind unverkennbar. Gerade sie sind es, die harsche Kritik an der historischen Belastbarkeit der Beschreibungen befeuert haben. Allerdings darf zweierlei nicht verkannt werden: Erstens ist der argumentative Weg des ersten Bandes, der theologisch die Weichen stellt, von einem Primat der Synoptiker geprägt: Taufe, Versuchung, Basileia, Bergpredigt, Vaterunser, Gleichnisse – eindeutiger kann die Orientierung an Markus, Matthäus und Lukas nicht sein, einschliesslich der Verklärung. Allerdings gibt es einen stark akzentuierten Abschnitt über das Johannesevangelium – freilich nicht in der Breite der Überlieferung, sondern fokussiert auf einige ganz wenige Worte, die zwar das «Ich» Jesu stark machen (das auch bei den Synoptiker nicht gerade schwach ausgeprägt ist), zugleich aber Bilder wie das Brot, den Hirten und den Weinstock prägen, die geradezu aus der synoptischen Tradition erwachsen scheinen. Zum anderen ist Joseph Ratzinger nicht der Auffassung, im Johannesevangelium O-Töne Jesu herausfiltern zu können. Die traditionelle Suche nach ipsissima verba sieht er ohnedies als Irrweg, der in permanent schrumpfende Inseln von Restbedeutungen führen; statt dessen denkt er eine Hermeneutik der Erinnerung an, die in der Auswahl und im Rückblick das, was für Jesus wesentlich sei, kenntlich mache: seine Gemeinschaft mit Gott. Die Architektur des ersten Bandes folgt im Wesentlichen der altkirchlichen Überzeugung, die Clemens Alexandrinus laut Eusebius (hist. eccl. VI 14,7) auf den Punkt formuliert hat: «Johannes habe als letzter, von seinen Schülern angespornt und vom Geist inspiriert, in der Erkenntnis, dass das Leibliche in den Evangelien schon dargelegt sei, ein pneumatisches Evangelium verfasst.»

Dann aber zeigt sich an der johanneischen Frage, wie notwendig es ist, die Methodik des Buches genauer zu betrachten. Joseph Ratzinger hat sie im Vorwort seines ersten Bandes mit scharfen Strichen knapp skizziert. Die historisch-kritische Exegese sei notwendig, aber nicht hinreichend. Sie sei notwendig, weil sie, so Ratzinger, nicht nur erfolgreich und etabliert, sondern theologisch gefordert ist. «Denn für den christlichen Glauben ist es wesentlich, dass er sich auf wirklich historisches Geschehen bezieht» (Jesus I, 14); diesen Bezug aber kann man nur mit Hilfe historischer Methode wissenschaftlich überprüfen, kritisch gegenüber den Angaben der Quellen, kritisch gegenüber der Tradition, kritisch aber auch gegenüber den eigenen Plausibilitäten derer, die Forschung betreiben.15 Allerdings sei die historisch-kritische Exegese nicht hinreichend; denn zum einen müsse sie bei der Schriftauslegung «das Wort in der Vergangenheit belassen» (Jesus II, 15), obwohl es selbst das lebendige Wort Gottes bezeuge, das Zeit und Ewigkeit überspannt, um «heute» gehört und beantwortet werden zu können; zum anderen müsse sie «die Gleichmässigkeit allen Geschehenszusammenhangs» voraussetzen (Jesus II, 15) und den «Mehrwert» des Bibelwortes vielleicht erahnen, aber nicht erfassen, ohne sich selbst zu transzendieren; zudem könne und wolle sie die Bibel nicht als «Einheit» erfassen, sondern löse sie methodisch in ihre Bestandteile auf (Jesus III, 16). Historisierung, Relativierung und Fragmentierung sind die harten Kritiken, die nicht die grossen Leistungen der historisch-kritischen Exegese schmälern sollen, die Welt Jesu vor Augen zu führen und die Vielfalt der Stimmen von Zeugen hörbar zu machen, aber ergänzt werden müsse.16 Die Frage, wie das geschehen soll, hat Joseph Ratzinger mit einem Verweis auf den «canonical approach» beantwortet.17 Hier wird, vor allem vom Alten Testament her, die Einheit der Schrift stärker als ihre Genese gewichtet und die Bedeutung der Lesergemeinde für die Konstitution des Textsinnes stärker als die Kritik der Texte an ihren Adressaten betont. Für die Jesusforschung ist dieser Ansatz beachtlich, weil er die prinzipielle Gleichberechtigung aller Evangelien bei der Rückfrage nach Jesus unterstreichen will und die konstitutive Bedeutung des Alten Testaments für die Verkündigung Jesu reflektiert.

Allerdings ist nicht ausgemacht, wie gut die «kanonische Exegese» wirklich zur Methode Ratzingers passt. Sie ist aus der reformierten Bundestheologie erwachsen, die dem «sola scriptura» eine ekklesiale Form gibt, mit der katholischen Ekklesiologie aber nicht ohne weiteres kompatibel ist; sie neigt strukturell zu einer Harmonisierung der verschiedenen Stimmen in der Heiligen Schrift, die aber gerade durch den Unterschied der beiden Testamente und die verschiedenen Handschriften der Autoren geprägt ist, was gerade das katholische Traditionsprinzip zur Geltung bringen will; vor allem leidet sie an dem Widerspruch, dass die historische Referenz – wenigstens – für das Neue Testament theologisch konstitutiv ist und deshalb methodisch notwendig ist, wie Ratzinger selbst es sieht.

Wichtiger als der Seitenblick zur «kanonischen Exegese» ist deshalb der Rückblick auf das Zweite Vatikanische Konzil (Jesus I, 17).18 In «Dei Verbum» 1219 werden der Exegese zwei Aufgaben zugewiesen: zuerst die Suche nach der Vielfalt, dann die Suche nach der Einheit der Heiligen Schrift. Wie beide Aufforderungen erfüllt werden sollen, wird (Gott sei Dank) nicht vorgeschrieben. Wie sie zusammengehören, wird mit einem (leider) verkürzten Augustinus- Zitat zu Beginn des Paragraphen wenigstens angedeutet: «Gott spricht durch Menschen nach der Art von Menschen, weil er, so redend, uns sucht» (De Civ. Dei XVII., 6, 2: PL 41, 537; CSEL 40, 2, 228). Wenn diese Sentenz ein hermeneutischer Richtungspfeil ist, gibt es keinen anderen Weg, das Wort Gottes im Wort der Schrift zu hören, als zuerst auf das zu lauschen, was die Menschen zu sagen hatten, die in der Bibel zu Wort kommen. Wenn aber das, was sie sagen, von Gott kommt und zu Gott führt, kann die Exegese in der Tat nicht bei der Identifizierung der vielen Stimmen stehen bleiben, sondern muss nach der Einheit der Schrift suchen, kann sie dann allerdings nicht in einem Ausgleich, sondern nur im Aufweis der Unterschiede entdecken und auf der breiten Landkarte theologischer Positionen in der gemeinsamen Perspektive auf den einen Gott und sein Wort entdecken.

Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. hat Recht, wenn er im Vorwort zum zweiten Band erwähnt, dass die «methodischen Grundsätze», die «vom Zweiten Vatikanischen Konzil (in Dei Verbum 12) für die Exegese» formuliert worden sind, bislang kaum aufgegriffen wurden (Jesus II, 12). Sein Jesusbuch soll der Versuch sein, diese Lücke zu füllen. Damit ist ein Ansatz gefunden, das Gespräch über dieses Buch aufzunehmen. Am zentralen Beispiel der Jesusforschung ist eine methodologische Grundsatzdebatte über die Ambitionen und Resultate der wissenschaftlichen Jesusforschung notwendig; sie muss mit der Frage verbunden werden, welche christologische Relevanz der Geschichte Jesu von Nazareth zukommen soll.

3. Die Felder der Diskussion

Die exegetische Kritik an der Trilogie von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. ist vielstimmig. Sie wird durch die gleichfalls vielsprachige Zustimmung nicht ausmanövriert, sondern ihrerseits herausgefordert. Sie erklärt sich aus den grossen Ambitionen der historisch-kritischen Exegese und dem alternativen Ansatz dieses Buches.

Die exegetische Jesusforschung hat sich im 19. Jahrhundert neu aufgestellt, weil sie den Mann aus Nazareth von den Fesseln des kirchlichen Dogmas befreien wollte, um ihn so erkennen zu können, wie er wirklich war. Albert Schweitzer 20 hat zwar herausgearbeitet, wie hoch die Subjektivität bei allen Bestrebungen der Leben-Jesu-Forschung um Objektivität gewesen ist. Aber das Versprechen der Exegese ist geblieben, mit der «Rückfrage» hinter die Kulissen der österlich geprägten Evangelien zu schauen, um durch philologische Analysen, religionsgeschichtliche Vergleiche und soziologische Feldstudien die Eckdaten der Biographie wie die Verkündigung Jesu so rekonstruieren zu können, dass sie als Ereignisgeschichte erkennbar werden und methodisch sauber von den Jesusbildern der Evangelien unterschieden werden. Im Zuge dieses Projekts hat sich die Gewissheit gebildet, dass im Vierten Evangelium eher narrative Dogmatik als gepflegte Erinnerung an Jesus zu finden sei und dass die christologisch virulenten Partien aller Evangelien eher redaktionelle Interpolationen als literarische Explikationen der Verkündigung Jesu seien. Die neuere Exegese hat zwar das «Kriterium der Diskontinuität», mit dem Ernst Käsemann die damals «neue» Rückfrage anstossen wollte,21 zur Disposition gestellt, weil sie zu der Überzeugung gelangt ist, dass Jesus nicht aus der Distanz zum Judentum seiner Zeit, sondern nur aus seiner Zugehörigkeit zu ihm heraus historisch korrekt verstanden werden kann.22 Das erhöht die geschichtliche Plausibilität der Gestalt wie der Botschaft Jesu erheblich. Es ist auch theologisch stimmig, weil das Judentum Jesu ein theologisches Datum ist, wie im Neuen Testament vor allem Paulus reflektiert hat (Röm 9,1–5). Aber zum einen verstärkt es in der konkreten Durchführung die Tendenz zur Historisierung und Relativierung Jesu, die das theologische Vermittlungsproblem enorm verschärft; zum anderen fehlt es an einer methodischen Aufarbeitung der Wirkungsgeschichte, die Jesus in Gang gesetzt hat, um eine Nachfolgebewegung anzustossen, aus deren Fortgang die Evangelien, die mit Abstand wichtigsten Quellentexte, entstanden sind. Beides wird zum Problem, wenn die philosophischen und theologischen Voraussetzungen, unter denen die Exegese antritt, um Bibel- und Traditionskritik zu treiben, nicht ihrerseits auf den Prüfstand der Philosophie und Theologie gestellt werden, um den Radius ihrer Beobachtungen und die Färbung ihrer Erkenntnisse zu bestimmen.23 Das hermeneutische Grundproblem ist, welche theologische Bedeutung geschichtliche Forschung hat und welche historische Dimensionen theologische Reflexion öffnen muss. Die Geschichtswissenschaft ist sowohl auf das Prinzip der Kritik als auch auf die Kriterien der Analogie und Korrelation festgelegt.24 Weder gegen das Prinzip noch gegen die Kriterien können theologische Einwände erhoben werden. Gerade die Jesusforschung zeigt dies. Denn die Prophetie verlangt die Unterscheidung der Geister auch im Innersten der Tradition; die Analogie wird wie die Korrelation christologisch durch die Inkarnation, durch das Leben, durch die Passion und die Auferweckung Jesu begründet. Allerdings muss die Kritik zuerst Selbstkritik sein, wenn sie nicht aporetisch sein soll; die Analogie erhellt gerade jene Ähnlichkeit, die durch eine je grössere Unähnlichkeit transzendiert wird, und die Korrelation verlangt, die überlieferten Darstellungen in einen Wirkzusammenhang mit dem Dargestellten zu bringen – was wiederum einen kritischen Diskurs voraussetzt.

Diese Zusammenhänge werden aber in der historisch- kritischen Exegese älterer Bauart kaum diskutiert. Das Ergebnis ist, dass die Plausibilitäten der Moderne und ihres wissenschaftlichen Weltbildes zum letzten Urteilsmassstab werden, so dass die Ergebnisse einer systematisch antidogmatischen Forschung ihrerseits dogmatisiert werden. Damit wird aber ausgeblendet, dass Jesus nicht in einer dogmenfreien Zone agiert, sondern sich auf einem intensiv beackerten Feld jüdischer Theologie mit einem klaren Gottesbekenntnis, profilierten Reformideen und diffusen Messiaserwartungen bewegt hat, auf dem er seine Spuren gezogen hat. Jesus nicht theologisch zu interpretieren ist historisch unplausibel. Es werden auch – in wechselnder Folge – wesentliche Facetten des überlieferten Wirkens Jesu ausgeblendet, von der Gerichtsbotschaft über die Sündenvergebung und die Leidens- wie die Auferstehungsprophetie, von der expliziten Christologie zu schweigen – obgleich all dies von den wenige Jahrzehnte später geschriebenen Evangelien als (im Rahmen des antiken Denkens) historisch verlässliche Überlieferung gestaltet worden ist und sich weder im religionssoziologischen25 noch im religionsgeschichtlichen26 Diskurs falsifizieren lässt.

Joseph Ratzinger hat diese Widersprüchlichkeit scharf analysiert und mit seiner intellektuellen Offensive, das Verhältnis von Glaube und Vernunft neu auszuloten, zu beantworten versucht. Allerdings muss er sich die Frage gefallen lassen, ob seine Methodik der kanonischen Exegese den Anspruch, die Theologie historisch zu erden, einlösen kann. Was seiner Jesustrilogie fehlt, ist eine Quellenkritik in der Form, dass die jeweiligen Voraussetzungen, Charakteristika, Intentionen und Interessen, damit aber auch Grenzen und Färbungen der Darstellung Jesu in den vier kanonischen Evangelien genau beschrieben und miteinander verglichen werden, von den Apokryphen zu schweigen. Im Einzelfall geschieht dies durchaus, aber nicht methodisch, obwohl die Hermeneutik der Erinnerung, die er verfolgt, diesen Aufwand nötig machte. Dadurch bleibt aber unklar, auf welcher genauen Textbasis er seine historischen Recherchen anstellt. Mehr noch: Es wird nicht methodisch aufgearbeitet, dass es einen direkten Zugang zu Jesus schlechterdings nicht mehr gibt, sondern dass alles, was von ihm heute in Erfahrung zu bringen ist, durch den Filter der frühen synoptischen und johanneischen Tradition gegangen ist. Weil diese Fragen nicht bearbeitet, sondern nur die theologischen «Highlights» der Evangelienüberlieferung reflektiert werden, entsteht der Eindruck der Harmonisierung und der Überinterpretation.

Vergleicht man die Resultate der neueren Jesusforschung mit den Thesen der Trilogie, zeigen sich fundamentale Gemeinsamkeiten neben deutlichen Unterschieden. Die Gemeinsamkeiten betreffen die Dominanz der «Basileia»-Thematik, die Pluralität der Lehrformen und -inhalte, die Aufmerksamkeit für die Jüngerschaft, die Herausforderung der Passion und die Verwurzelung im Alten Testament. Der entscheidende Unterschied ist vielleicht nicht einmal die Einbeziehung der johanneischen Tradition. Vielmehr reflektiert Joseph Ratzinger das, was die historisch- kritische Exegese als Thema und Gegenstand der Verkündigung Jesu identifiziert, als Wahrheit des Evangeliums. Das ist für ihn der Weg, Schriftauslegung als Theologie zu treiben. Die theologische Perspektive gewinnt er, indem er die Bedeutung eines bestimmten Wortes konsequent ins Licht des Alten Testaments hält, wie es sich ihm in Christus neu zeigt, und von Zeugnissen der Tradition her erschliesst, die es vom Credo und vom Leben der Kirche her öffnen. Die Grenzen historisch-kritischer Methodik werden dadurch zweifellos überschritten; aber das ist ihm ebenso klar wie seinen Kritikern. Die Frage ist nur, ob durch dieses Verfahren die geschichtliche Verkündigung Jesu ideologisiert oder identifiziert wird.

Ratzingers Anspruch ist es, Jesus dadurch als geschichtliche Person besser zu erkennen, dass er ihn als Theologen ernstnimmt. Die prinzipielle Richtigkeit dieser Hypothese lässt sich schwerlich bestreiten, auch wenn das Ethos der Gerechtigkeit, die Kritik der Heuchelei, der Einsatz für die Armen vielleicht noch stärker hätten betont werden kann. Zweifellos schlägt das Herz Jesu in der Gottesliebe, aus der die Nächstenliebe strömt; zweifellos identifiziert Jesus sich mit der Herrschaft Gottes; zweifellos ist das Vaterunser ein Schlüssel zum Evangelium. All das zu erkennen, hätte es aber vielleicht auch gar nicht der Trilogie bedurft, wenn sie nicht von dort aus das breite Spektrum der christologieträchtigen, besonders der johanneischen Traditionen einbezogen hätte, weil sie dem «Ich», der Person Jesu, entscheidendes Gewicht gibt. Über Einzelheiten der historischen Rekonstruktion wird immer gestritten werden; das liegt in der Natur der philologischen und historischen Forschung; es ist im Zweifel auch kein Nachteil, sondern ein Vorzug. Grundsätzlicher kann die Kritik an zwei Stellen werden. Zum einen ist trotz des Dialoges mit Neusner das Eigengewicht, das der jüdischen Schriftauslegung zukommt, kaum angemessen bestimmt; dadurch wird aber das zeitgenössische Judentum kaum einmal zu einem angemessenen Gesprächspartner; das relative Recht der pharisäischen Jesuskritik, das Wahrheitsmoment im Widerspruch, bleibt implizit. Zum anderen entsteht bei der hermeneutischen Schlüsselbedeutung, die bestimmten Kirchenvätern zuerkannt wird, inmitten aller Lesefrüchte, die man gern geniesst, die Frage, wo die moderne Theologie die Augen für den Sinn der Texte öffnet, die traditionelle ihn aber eher verdunkelt hat. Anders formuliert: Joseph Ratzingers Jesusbuch liegt in der hermeneutischen Fluchtlinie des Zweiten Vatikanischen Konzils, indem es die grosse Übereinstimmung zwischen Schrift und Tradition affirmiert. Der Kommentar Joseph Ratzinger hat sich den Hinweis nicht verkniffen, dass «Dei Verbum» das traditionskritische Potential der Schrift nicht erschliesst und damit eine wesentliche Frage der Reformation unbeantwortet lässt.27 Im Jesusbuch jedoch ist die Traditionskritik kaum zu erkennen. Ebenso wenig wird das theologisch zentrale Thema der bleibenden Erwählung Israels diskutiert, das aber Ratzingers Voraussetzung, die Bibel mit Blick auf Jesus als Buch der Kirche zu lesen, nicht ohne erhebliche Differenzierung plausibel scheinen lässt.

Die entscheidende Frage aber lautet, ob sich, wenn diese Desiderate zu Recht beständen und erfüllt würden, im Ergebnis der Darstellung etwas ändern müsste. Bei aller wechselseitigen Kritik sind sich Joseph Ratzinger und die Protagonisten historischkritischer Exegese darin einig, dass es im Allerheiligsten der Theologie geschichtliche Forschung braucht, weil das historische Wirken und Leiden Jesu theologisch wesentlich ist; das ist im Zeitalter des Konstruktivismus28 und der Systemtheorie29 alles andere als selbstverständlich. Einig sind sie sich auch darin, dass nicht so etwas wie eine Psychologie Jesu eruiert werden kann, weil die Evangelien kein Psychogramm Jesu zeichnen; das ist im Zeitalter grassierender Esoterik gleichfalls alles andere als selbstverständlich. Uneinig sind sie sich allerdings im Hinblick auf die Einheit Jesu mit dem Vater. Der Vorwurf der Dogmatisierung steht gegen den der Banalisierung.

Dies ist der «crucial point» in der exegetischen Diskussion über die theologische Relevanz der Geschichte Jesu. Auch bei einem sozial-, literatur-, kultur- und religionswissenschaftlichen Ansatz stösst man auf ihn. Wenn man ihn genauer betrachten will, muss freilich der biblische Begriff der Einheit leitend sein.30 Im Falle der Gottesbeziehung Jesu ist er gefüllt von der Liebe des Vaters zum Sohn und der Liebe des Sohnes zum Vater. Die wird zwar erst in der johanneischen Tradition akzentuiert und reflektiert,31 aber auch schon in der synoptischen Tradition impliziert und expliziert. Dass Ratzinger sich von der johanneischen Theologie hat leiten lassen, diese Verbundenheit aus Liebe als Verständnisschlüssel des gesamten Evangeliums Jesu anzusetzen und die Konsequenzen im kritischen Diskurs mit der historisch-kritischen Exegese zu ziehen, ist ein grosser Gewinn, den die Jesusforschung durch seine Bücher erzielt hat.

Allerdings gehört zur Liebe auch die Anerkennung und Bejahung von Unterschieden, das Aushalten der Ferne, die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Von diesen Spannungen sind die Evangelien voll. Nach Lukas sagt Jesus seinen Jüngern im Abendmahlssaal: «Ihr habt mir ausgehalten in meinen Versuchungen» (Lk 22,28). Aber dieses Wort wird nicht ausgelegt, wiewohl Joseph Ratzinger die Versuchungsgeschichten, die alle Synoptiker an den Anfang ihrer Evangelien stellen, als Antizipationen der Versuchungen liest, die Jesus auf seinem «ganzen Weg» zu bestehen hat (Jesus I, 55). Würde aber die Gethsemane-Perspektive den Zugang zur Christologie der Einheit bestimmen, würde das Dynamische, das Spannungsreiche und Widersprüchliche, das Suchen und Aufbrechen Jesu deutlicher. Es würde dann auch klarer, dass Johannes zwar die Synoptiker vertiefen will, aber auf ihnen aufbaut und von ihnen her in seiner Bedeutung für die Rekonstruktion der Geschichte Jesu erschlossen werden muss.

Die Trilogie stellt die Gottesfrage ins Zentrum der Jesusforschung. Das ist ihr grosses Verdienst. Sie plausibilisiert die historische Substanz der Evangelien. Das bleibt notwendig im Streit der Exegese. Sie fusst auf einer Hermeneutik des Wortes Gottes. Das fordert den Dialog der gesamten Theologie über das Verhältnis von Offenbarung und Geschichte.

 

15 Als Begründung und Ausführung verweist der Autor auf: Päpstliche Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche. Città del Vaticano 1993.

16 Siehe Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini von Papst Benedikt X VI. über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche. Bonn 2010.

17 Er nennt keine Literatur. Im Dokument der Päpstlichen Bibelkommission werden aber z wei Autoren im Hintergrund erkennbar: Brevard S . Childs: Biblical Theology of the Old and New Testaments. London- Philadelphia 1992 (deutsche Übersetzung: Theologie der einen Bibel I –II. Freiburg-Basel-Wien 1996); James A. Sanders: Canon and Community. A Guide to Canonical Criticism. Philadelphia 1984; James A. Sanders: From Sacred Story to Sacred Text. Philadelphia 1987. Childs setzt im Rahmen einer Bundestheologie auf eine theologische Komplementarität beider Testamente, Sanders auf die Einbindung der Heiligen Schrift in das Volk Gottes.

18 Siehe Thomas Söding: Fare esegesi – f are teologia. Un raporta necessario e c omplesso, in: Ernesto Borghi (ed.): Ascoltare – r ispondere – vivere. Atti del Congresso Internazionale «La Sacra Scrittura nella vita e n ella missione della Chiesa» (1– 4 dicembre 2010). Milano 2011, 77– 87.

19 Siehe Helmut Hoping: Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung, in: Peter Hünermann / Bernd Jochen Hilberath (Hrsg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil III. Freiburg-Basel- Wien 2005, 695– 831.

20 Geschichte der Leben- Jesu-Forschung (1906/1913), Nachdruck ed. Otto Merk (UT B 1302). Tübingen 91984.

21 Albert Schweitzer: Das Problem des historischen Jesus (1953), in: Ders.: Exegetische Versucheund Besinnungen, Band I. Göttingen 1968, 187–214; Sackgassen im Streit um den historischen Jesus, in: Ebd., Band II (1968), 31– 82.

22 Siehe Gerd Theissen / Annette März: Der historische Jesus. Ein akademisches Lehrbuch. Göttingen 1996.

23 Einen starken Vorstoss, das Problem aufzuarbeiten, unternimmt: Klaus Berger: Exegese und Philosophie (= SBS 123/4).Stuttgart 1986.

24 Siehe Ernst Troeltsch: Über historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898), in: Ders.: Zur religiösen Lage. Religionsphilosophie und Ethik. Gesammelte Schriften II. Tübingen 21922, 729–753.

25 Siehe Gerd Theissen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh 2000.

26 Klaus Berger: Jesus. München 2004; Nicholas Thomas Whright: Simply Jesus. Who he was, what he did, why it matters. New York 2011. Eine andere Sache ist, dass sich die Religionsgeschichtliche Schule des 19. Jahrhunderts als Anti-Theologie zu etablieren suchte; siehe Karsten Lehmkühler: Kultus und Theologie. Dogmatik und Exegese in der religionsgeschichtlichen Schule (= Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 76). Göttingen 1996.

27 Kommentar zu Dei Verbum, in: LT hK.E 13 (1967), 498 –528.571–581, hier 521 f.

28 Siehe Peter Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie Frankfurt a. M ain 161999 (11969).

29 Siehe Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Hrsg. von André Kieserling. Frankfurt a. M ain 2000.

30 Siehe Thomas Söding: Einheit der Heiligen Schrift? Zur biblischen Theologie des Kanons (= QD 215) Freiburg-Basel- Wien 2008 (2005).

31 Siehe Enno Edzard Popkes: Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften. Zur Semantik der Liebe und zum Motivkreis des Dualismus (= WUNT II/197). Tübingen 2005.

Thomas Söding

Thomas Söding

Prof. Dr. Thomas Söding ist seit 2008 ordentlicher Professor für Neues Testament an der Ruhr-Universität Bochum, zuvor war er von 1993 bis 2008 Professor für Biblische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal