SKZ: Was fasziniert Sie am Jodeln?
Nadja Räss: Das Schönste ist, dass ich beim Jodeln auch ohne Text ganz viel sagen kann. Jodeln ist für mich wie eine zweite Muttersprache. Ich finde es faszinierend, dass ich die Menschen auf eine Reise mitnehmen kann, vielleicht auch auf eine emotionale Reise. Ich werde verstanden, weiss aber zugleich nicht, ob das verstanden wird, was ich dabei empfinde. Es ist aber trotzdem sehr berührend. Da Jodeln mit sehr vielen Obertönen funktioniert, viel mehr als beim klassischen Singen, ist es auch physikalisch nachweisbar, dass sich die Schwingungen auf Menschen übertragen. Das ist wirklich faszinierend.
Was sind Obertöne?
Wenn ich einen Ton singe, dann ist das immer ein Zusammenspiel von ganz vielen Tönen. Man hört den Grundton klar raus, aber die Klangfarbe und wie sich ein Ton im Raum verteilt, wird durch die Obertöne ausgemacht und durch die Resonanzen, die mitspielen. Wir kennen das von den Geigen. Hier ist wichtig, dass sie aus gutem Holz gefertigt sind und so gute Resonanzen erzeugen können.
Sie pflegen den traditionellen Jodel, sind aber auch offen für neue Formen.
Die Bandbreite ist faszinierend. Gleichzeitig ist die Auseinandersetzung mit den Wurzeln wichtig. Das versuche ich als Lehrerin und Dozentin zu vermitteln. Man soll grundsätzlich die Wurzeln kennen, das «Alte» singen, verstehen und imitieren können. Daraus entstehen unweigerlich neue Ideen. So hat sich ja auch die Volksmusik entwickelt. Man hat die Musik von Generation zu Generation weitergegeben und jede Generation hat etwas anderes gemacht. Es gab natürlich auch Phasen, in denen man festlegte, dass man etwas nicht mehr weiterentwickeln wollte. Die Geschichte der Volksmusik ist sehr lange und sehr faszinierend. Ich finde es spannend: Ich kann an einer Älplerchilbi mit ganz urchigen Leuten zusammensitzen und einen Juchzer singen, mit den «Alderbueben» in der Appenzellertracht so richtige Appenzellermusik machen oder mit meinen Mitsängerinnen, die zum Teil aus dem Jazz kommen, musizieren. Doch egal, ob urchig traditionell oder etwas Neueres, am Schluss hat es immer etwas Verbindendes. Für mich sind die Menschen sehr wichtig, mit denen ich Musik mache.
Ganz spannend ist Ihre Zusammenarbeit mit Outi Pulkkinen und Mariana Sadovska. Jodel, finnischer Runengesang und ukrainischer Kehlgesang verbinden sich harmonisch.
Ich habe die Klangwelt Toggenburg geleitet. Diese Institution veranstaltet alle zwei Jahre ein Naturstimmen-Festival. Es war eine Tradition, dass in jedem Konzert Sängerinnen und Sänger aus drei unterschiedlichen Kulturen auftraten und jeweils am Schluss noch zusammen etwas gesungen haben, was sie kurz vorher einstudiert hatten. Ich bin ein Fan von Entwicklungsarbeit, d. h. ich nehme mir Zeit. Für das Festival 2016 haben wir deshalb bereits zwei Jahre zuvor mit den Vorbereitungen begonnen. Wir wollten auch eine Plattform für Frauen bieten, da die meisten Interpreten in der Volksmusik Männer sind. So begab ich mich auf die Suche und fand Outi Pulkkinen, die ich bereits von verschiedenen Formationen kannte, in denen sie mitsingt. Ich bin nämlich ein Fan von skandinavischer Volksmusik. Mariana Sadovska lernte ich über ihre Agentin kennen. Wir begannen im November 2015 mit den Proben und daraus entstand nicht nur ein tolles Programm mit toller Musik, sondern auch eine Freundschaft. So leiden wir in der aktuellen Situation (Ukrainekrieg) sehr mit Mariana mit.
Die Musik klingt fremd in unseren Ohren…
In der Schweizer Volksmusik bewegen wir uns meistens in Dur. In der finnischen und ukrainischen Volksmusik sind wir hauptsächlich in Moll und in Kirchentonarten unterwegs. Dies war aber kein Problem beim gemeinsamen Singen. Die Schwierigkeiten bestanden eher darin, dass wir neue Kompositionen machten, die wir entwickelt haben – nicht dem Text, sondern den Silben entlang. In unserer Sprache gibt es aber Klänge, die in anderen Sprachen nicht vorkommen und umgekehrt. Wir singen aber auch traditionelle Gesänge der jeweiligen Kultur. Es ist nicht ganz ohne, in Finnisch oder Ukrainisch zu singen. (Lacht.) Das war auch sehr spannend. Durch das Verständnis für die Sprache wurden auch die Klänge selbstverständlicher.
Sie bezeichnen sich selbst als leidenschaftliche Lehrerin.
Ich habe Gesang und Pädagogik studiert, da es damals noch kein Jodel-Studium gab. Im Bereich der vokalen Volksmusik gab es gar nichts. Ich hatte die Auswahl zwischen Klassik und Jazz. Da ich in Einsiedeln die Klosterschule besucht habe und auch immer Jodellehrerinnen hatte, die sich stimmpädagogisch eher am Klassischen orientiert haben, entschied ich mich für die Klassik. Neben der Leidenschaft fürs Singen habe ich auch eine grosse Leidenschaft fürs Unterrichten. Deshalb war für mich auch die Pädagogik gesetzt. Am liebsten gebe ich Einzelunterricht oder Unterricht in Kleingruppen, da ich hier auf den Menschen eingehen kann. Singen ist ganzheitlich, denn wir Menschen sind das Instrument. Als Gesangspädagogin kann ich an diesem Instrument bauen und mithelfen, dass die Schülerin resp. der Schüler das Instrument spielen kann. Ich habe mir auch überlegt, Psychologie zu studieren, da ich es spannend finde, mit Menschen zu arbeiten. Auch im Gesangsunterricht ist man manchmal Psychologin, ohne aber, dass man es ausdiskutiert. Gewisse Knöpfe konnten sich stimmlich lösen, wenn ein Knopf im Leben gelöst wurde. Singen ist sehr nahe bei der Seele.
Mit Jodel verbindet man Lebensfreude. Nun singen Sie die Kantate «Dorothea». In diesem Werk wird der Abschied der Eheleute Niklaus von Flüe und Dorothea thematisiert – schwere Kost.
Bei meinem ersten Blick auf die Geschichte entstand der Eindruck, dass dieser Niklaus ein ziemlicher Egoist war, der seine Frau einfach sitzen liess. Also nicht das, was ich mir unter einer guten Beziehung vorstelle. Ich habe mich dann in die Materie eingelesen. In der Kantate verzweifelt Dorothea manchmal fast und hadert mit ihrem Schicksal, aber trotz allem hat sie ein grosses Verständnis für das, was Niklaus erlebt. Ich musste meine anfängliche Ansicht total revidieren. Tatsächlich finde ich es gross-
artig, wie sie als Paar miteinander umgegangen sind. Die Beziehung findet eigentlich auf einer ganz anderen Ebene statt. Diese Erkenntnis hat mich dazu bewogen, die Kantate anders zu singen. Für mich ist es eine total emotionale Musik. Es hat Stellen, bei denen es mir fast das Herz zuschnürt. Aber es hat auch Momente, wo viel Freude spürbar wird oder man sich mit jemandem mitfreuen kann. Dorothea hat Niklaus den Weg ermöglicht. Für mich ist sie eine grossherzige Frau. Die Kantate hat eine unheimliche Kraft. Ich erfahre, dass jeder, der die Kantate live gehört hat, danach ziemlich «geflasht» ist. Und ich bin es auch.
Sie haben die Matura an der Stiftsschule Einsiedeln gemacht. Wie haben Sie es mit der katholischen Kirche?
Dadurch, dass ich im Kloster zur Schule gegangen bin, ist einfach ein Draht da. Es sind alles so tolle Menschen, denen ich im Kloster begegnen durfte; mit ihnen habe ich ein sehr gutes Einvernehmen. Ich gehe nicht jeden Sonntag in die Messe und es gibt Dinge in der Kirche, die ich kritisch hinterfrage, die nicht mehr zeitgemäss sind. Ich kann aber über diese Themen mit den Brüdern im Kloster reden. Sie sind offen und das schätze ich sehr. Nebenbei bemerkt: In der Kirche wird auch vieles über den Gesang ausgedrückt. Es gibt Gottesdienste, in denen viele Stellen aus der Bibel gesungen werden, eben auf den Silben gesungen wird. Oder das Halleluja: Es ist so nahe und sagt so viel, ohne dass man viele Worte braucht. Das ist für mich auch immer ein Anknüpfungspunkt.
Interview: Rosmarie Schärer