In Frankreich hält die Association des Amis de Jules Isaac (1877-1963) das Andenken an den jüdischen Historiker und Pazifisten bis heute aufrecht, während sein Name im deutschsprachigen Raum fast vergessen wurde und allenfalls im Rahmen der Internationalen Konferenz von Juden und Christen in Seelisberg (1947) erwähnt wird. Isaac war der geistige Schöpfer der Seelisberger Thesen und ein Wegbereiter der Konzilserklärung Nostra Aetate (1965).
Im bewegten Leben von Jules Isaac spiegeln sich die Katastrophen eines Jahrhunderts. 1948 hielt Jules Isaac eine Rede an der Fribourger Konferenz von Christen und Juden und blickte auf sein Leben zurück, das von revolutionären Ereignissen, Entdeckungen und Krisen geprägt war. In seinem Geburtsjahr 1877 wurde das Telefon erfunden, er sah radikale Neuerungen aufkommen wie Fahrrad, Automobil, Flugzeug, U-Boot, Panzer, Stickgas und schliesslich die Atombombe. Er erlebte zwei Weltkriege, den Ersten im Schützengraben als Frontsoldat. In seiner Jugend traf ihn der antisemitische Skandal der Dreyfus-Affäre und in seinem Alter die nationalsozialistische Rassenpolitik, die Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums. Diese historischen Erschütterungen führten ihm zweierlei vor Augen: den Sturz in den moralischen Abgrund und die Tragödie der Gegenwart. Er sah, wie «eine Zivilisation sich aufbaute und sich abbaute». Verdiente diese Zivilisation noch gerettet zu werden, und welche Werte wären zu wahren? Gewiss: Freiheit und Menschenwürde, doch mehr noch die alles durchdringende Leidenschaft für die Wahrheit, «la passion de la vérité». Dieses Wort seines Freundes und Vorbilds Charles Péguy leuchtet als Leitstern über sein ganzes Leben.
Humanist ohne religiöse Etikettierung
Geboren wurde Jules Isaac in der Garnisonsstadt Rennes. Isaacs Familie väterlicherseits stammt aus Lothringen, die Vorfahren seiner Mutter (1844– 1891) aus dem Elsass. Jules wächst mit seinen beiden älteren Schwestern Laure und Henriette in einem bürgerlich-nationalen und jüdisch-assimilierten Elternhaus auf. Die religiöse Gesinnung war weitgehend der patriotischen gewichen. Jules Isaac hat zeitlebens ein religiöses Bekenntnis abgelehnt, aber ebenso jede religiöse Leugnung vermieden. In seinem Testament hat er den beiden Söhnen anvertraut, dass ihn der Kampf gegen den Antisemitismus an Israel und dessen strengen Monotheismus herangeführt habe, und er bittet um ein jüdisches Gebet in französischer Sprache bei seinem Begräbnis. Er ist die einzige Person, die auf der Teilnehmerliste der Seelisberger Konferenz keine Religionszugehörigkeit benennt. In der zweiten Auflage seines Buches Jésus et Israël stellt er die Frage, welchem Glauben der Verfasser angehöre, und antwortet mit einem einzigen Wort: «keinem». Doch sein Werk bezeuge «seine Inbrunst für Israel und seine leidenschaftliche Liebe zu Jesus, dem Sohn Israels». Isaac glaubt an den Schöpfergott und sieht in Jesu Verkündigung das überzeugendste Wunder dieser Welt, doch institutionelle Glaubensgemeinschaften und kirchliche Dogmen lehnt er ab. Als freier Denker weist er jede religiöse Etikettierung zurück und nennt sich selbst «un humaniste» (Brief an Daniel, 1954).
Verlusterfahrungen
Sein Leben ist überschattet von den historischen Katastrophen zweier Weltkriege und von schweren persönlichen Verlusterfahrungen. 1891 verliert er innerhalb einer Woche seine Eltern; der Vater stirbt an einem Schlaganfall, wenige Tage später erliegt die Mutter ihrer diabetischen Erkrankung. Als dreizehnjähriger Vollwaise wird der Junge von seinem Schwager im Internat des Lycée Lakanal in Sceaux bei Paris angemeldet, das er zuvor als Externer besucht hatte. Das Elite-Gymnasium, das seine Klassen für die Aufnahmeprüfung in die École normale supérieure vorbereitete, vermittelte eine hohe altphilologische und humanistische Bildung und glich einer militärischen Kaserne, die das Gefühlsleben der Schüler unterdrückte.
Isaac erinnert sich an die soziale Isolation, die emotionale Kälte und an seine Sehnsucht nach mütterlicher Wärme. Bei dem fünf Jahre älteren, ebenso unglücklichen Halbwaisen und rebellischen Internen Charles Péguy findet er einen freundschaftlichen Halt und ein geistiges Ideal, vor allem in seinem sozialistischen Gerechtigkeitsempfinden und seiner Kritik der Fortschrittsideologie. Doch 1914 fällt der junge Leutnant und Schriftsteller Péguy. Der verlorene Freund begleitet Isaac durch sein ganzes Leben. Péguys Zitate durchziehen sein Werk.1
«Geschichtsprofessor der Nation»
Isaac wird Geschichtslehrer für die Sekundarschule. Über vierzig Jahre ist er an der namhaften Schulbuchreihe für den Geschichtsunterricht im Hachette-Verlag beteiligt. Als Autor Albert Malet 1915 an der Front von Artois fällt, folgt Isaac als Redaktor und wird die Geschichtsschreibung nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg durch die Edition «Malet-Isaac» revidieren und didaktisch prägen. So wird Jules Isaac im kulturellen Gedächtnis Frankreichs zum «Geschichtsprofessor der Nation» (P. Nora). «La Grande Guerre» hat alles verändert. Isaacs Erfahrung als jüdischer Frontsoldat im Ersten Weltkrieg, wo er in der Schlacht um Verdun schwer verletzt wurde, verwandelt einen Kombattanten der Kriegskultur in einen militanten Verteidiger des Pazifismus. Er erkennt die Notwendigkeit einer neuen Geschichtsschreibung aus zweierlei Perspektiven und setzt sich für die Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen ein. 1936 wird Isaac zum Generalinspekteur des öffentlichen Erziehungswesens ernannt. Dieses hohe Amt wird ihm 1940 in Folge der «Judengesetze» des Vichy-Regimes aberkannt werden.
Jésus et Israël – aus der Verfolgung geboren
Im Jahr 1902 hatte Isaac die Malerin Laure Ettinghausen geheiratet, die aus einer jüdisch-observanten Familie stammte. Von ihren drei Kindern, Juliette (1903), Daniel (1907) und Jean-Claude (1918), wählten die Tochter und der jüngste Sohn unter dem Namen Janet eine künstlerische Laufbahn. Das zweite grosse Trauma ereignet sich am 7. Oktober 1943, als Isaac für kurze Zeit das Versteck in Riom verlässt und so zufällig der Gefangennahme durch die Gestapo entgeht, während seine Familie nach Drancy deportiert wird. Seine Frau und seine Tochter werden drei Wochen später in Auschwitz ermordet. Sein Schwiegersohn Robert Boudeville, ein katholischer Widerstandskämpfer, wird in Bergen- Belsen hingerichtet, und der jüngste Sohn überlebt Drancy, Auschwitz und Dora, weil er als Portraitzeichner der Nazi-Befehlshaber verdingt wird. Jules Isaac wollte sich nach der Deportation seiner Familie selbst ausliefern, doch es war der letzte Brief seiner Frau aus dem Lager Drancy, in dem sie ihn bat, sein Leben zu retten und «das Werk zu vollenden, das die Welt erwartet». Für Isaac wurde dies, mit seinen Worten, das kostbarste Papier, das ihn zum Überleben bewegte. Seine Mission sah er fortan in der Bekämpfung des Antisemitismus, und das Werk, das er als Zeugnis und Überlebenspflicht verstand, ist sein Buch Jésus et Israël, das er mitten im Krieg auf der Flucht begonnen hatte: «Aus der Verfolgung wurde es geboren. Während es verfasst wurde, hat sich ein Drama abgespielt. Wer könnte sagen, wie es das überlebt hat. Ein Wunder, das mir die Pflicht auferlegt, es zu einem Denkmal zu machen (…). Es ist der Aufschrei eines empörten Bewusstseins, eines zerrissenen Herzens. Es wendet sich an das Gewissen und die Herzen der Menschen.»2
In dieser Studie setzt sich Isaac mit der jahrhundertealten christlichen Judenfeindschaft auseinander, die er als Hauptquelle des Antisemitismus versteht. Anhand des Neuen Testaments zeigt er auf, dass Jesus, Maria, seine Jünger und ersten Apostel jüdisch waren, dass Jesus nach der jüdischen Lehre lebte, dass er nicht von der Masse und Mehrheit seines Volkes abgelehnt wurde und als Opfer der römischen Fremdherrschaft am Kreuz starb. Die Quelle des christlichen Antijudaismus entdeckt Isaac nach exegetischer und historischer Textanalyse nicht in den Evangelien, sondern in der traditionellen Lehre der Kirche, vor allem bei den Kirchenvätern und in der Dogmatik der Jahrhundertwende. Aus den 21 Lehrsätzen am Ende dieses Buches gingen Isaacs 18 Thesen hervor, die auf der Seelisberger Konferenz 1947 in 10 Punkten veröffentlicht wurden.
Lehre des Respekts
Isaacs Analyse und seine Abwehr von Antijudaismus und Antisemitismus sind im Grunde «Betrachtungen über Auschwitz»: «Der Schein des Krematoriumofens von Auschwitz ist für mich der Leuchtturm, der alle meine Gedanken lenkt» (ebd. 463). Sein zweites Hauptwerk, Genèse de l’antisémitisme (1956), das die pagane Judenfeindschaft der Antike und den Antijudaismus der christlichen Welt bis zum ersten Jahrtausend untersucht, verstand der Autor als eine «logische Fortsetzung» von Jésus et Israël, und seine letzte Veröffentlichung L’enseignement du mépris (1962) fordert statt Verachtung «eine Lehre des Respekts» und eine tiefgreifende geistige und religiöse Erneuerung von Theologie und Kirche im Verhältnis zum Judentum. In der Konzilserklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, Nostra Aetate, wurde Isaacs Hoffnung weitgehend erfüllt.
Am 16. Oktober 1949 wurde der 83-jährige Isaac am 13. Juni 1960 von Johannes XXIII. in einer Privataudienz empfangen. Er bat um eine Überarbeitung der Karfreitagsfürbitte für die Juden, legte ihm die Seelisberger Thesen und ein Dokument zur Revision der christlichen Lehre über das Judentum vor, mit der Bitte um Prüfung und Verbreitung in der Weltkirche. Auf seine Frage am Ende der Audienz, ob er denn ein wenig Hoffnung mitnehmen dürfe, antwortete Johannes XXIII.: «Sie haben Recht auf mehr als eine Hoffnung!» Am 31. Dezember 1961 schrieb Isaac in seinem Dankesbrief an den Papst, dass es für einen alten Historiker wohl leichter sei, die Vergangenheit als die Zukunft vorauszusagen, doch zögere er nicht, seine feste Überzeugung zu bekunden, dass das Pontifikat von Johannes XXIII. als «ein einzigartiger Moment in der Geschichte zählen werde, als eine Zeit der tiefen Erneuerung im Sinne der Brüderlichkeit, Wahrheit und Hoffnung».
Beide sollten das Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht mehr erleben: Johannes XXIII. starb am 3. Juni 1963 in Rom, Jules Isaac am 6. September desselben Jahrs in Aix-en-Provence. Ihr vertrauensvolles Gespräch hatte zwanzig Minuten gedauert, und es trug zu einer Kopernikanischen Wende im Verhältnis der Kirche zum Judentum bei.
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Am 19. Oktober 2017 findet am IJCF eine öffentliche Tagung statt: «70 Jahre Konferenz von Seelisberg (1947)», Eintritt frei und ohne Anmeldung. Programm ab Ende Mai unter: www.unilu.ch/fakultaeten/tf/institute/institut-fuer-juedisch-christliche-forschung-ijcf/