Pastorale Differenzierung ist angesagt!

Zahlreiche Seelsorgende und Personalverantwortliche der Deutschschweizer Bistümer waren Anfang Februar der Einladung zur Jahrestagung des Pastoralinstituts der Theologischen Hochschule Chur ins Centrum 66 nach Zürich gefolgt. Unter dem Motto «Let’s complexify – Vom Wert differenzierten pastoralen Handelns» widmete sich die Tagung den psychologischen, soziologischen und theologischen Hintergründen unangemessener Simplifizierungen in der Pastoral und ermutigte zum Gegensteuern. Arnold Landtwing, Informationsbeauftragter des Generalvikariats Zürich, und Livia Wey-Meier, Theologin und Mediatorin aus Basel, moderierten die pastoraltheologische Tagung.

Die Kunst der Vereinfachung wird heute mit dem Slogan «Simplify your life …!» grossgeschrieben. Es verwundert nicht, dass so betitelte Bücher die Lebenshilfe-Regale der Buchhandlungen füllen, denn die Unübersichtlichkeit der Welt überfordert viele Menschen, löst Ängste aus und lässt die Sehnsucht nach einfachen Antworten wachsen.

Vor diesem Hintergrund wies der Leiter des Pastoralinstituts der THC, Prof. Manfred Belok (Chur), in seiner Begrüssung darauf hin, dass Vereinfachung eine hohe Kunst sei und in Theologie, Kirche und Seelsorge nicht zur Banalisierung werden dürfe.

Ungleichzeitigkeiten aushalten

Kompetente Vereinfachung gelingt nach Belok jenen, die mit der Komplexität von Sachverhalten vertraut sind und professionell differenzieren können. Wo differenzierte Analysen ins Hintertreffen geraten, bleiben Vernunft, Sachgemässheit und letztlich auch Wahrheiten auf der Strecke. In der Katholischen Kirche hat die Komplexität der Realität laut Belok zur Folge, dass Ungleichzeitigkeiten und unterschiedliche Positionen auszuhalten sind. Seien es Spannungen zwischen der Weltkirche und den verschiedenen Ortskirchen, seien es Ausgrenzungen und Polarisierungen in ein und demselben Land oder Bistum. Verantwortetes kirchliches Handeln setze voraus, dem Wunsch nach vermeintlich einfachen Lösungen zu widerstehen. Auf Dauer lasse sich die Komplexität der Realität, und wie mit ihr menschen- und situationsgerecht umzugehen ist, nicht leugnen, das zeige sich etwa am Streit um die Deutungshoheit des nachsynodalen Schreibens Amoris laetitia.

Seelsorgende dürften daher dem Sog zur Vereinfachung bei anderen wie bei sich selbst nicht nachgeben. Die menschlichen Lebenssituationen, welche die Pastoral vom Lebensanfang bis zum Lebensende zu begleiten hat, sind eben nicht in ein Schema zu pressen. Die christliche Botschaft sei nicht auf banale Einfachheit zu reduzieren, vielmehr gilt: Spannungen müssen ausgehalten und Verschiedenheiten integriert werden. In Theologie, Kirche und Seelsorge braucht es angesichts der Komplexität der Wirklichkeit eine Komplexitätsreduzierungskompetenz, die mit der Komplexität von Sachverhalten vertraut ist und professionell differenzieren kann.

Ambiguitätstoleranz einüben

Der Sozialpsychologe Prof. Heiner Keupp (München) zog daraus die Schlussfolgerung, die Professionalität von Seelsorgenden müsse durch «Ambiguitätstoleranz» gekennzeichnet sein. Mit diesem Begriff umriss er die häufig in sozialen Berufen erforderliche Fähigkeit, durch Komplexität hervorgerufene Spannungen im Alltag auszubalancieren. Keupp, der seit den 1990er-Jahren als Vordenker in der soziologischen Identitätsdebatte international bekannt ist1, hinterfragte starre Formen von Identität gerade in den Kirchen. So versucht etwa der «Identitätskatholizimus» (ähnlich wie evangelikale Strömungen bei den Reformierten) das durch die sinkende öffentliche Plausibilität von Kirche entstandene «Krisengefühl» zu nutzen, um mit konservativen Grenzziehungen auf die Sehnsucht mancher Katholiken nach einer stabilen Identität zu antworten. Dabei würden Mauern aufgerichtet, die vermeintlich gegen Veränderungen abschirmen: Weil es am Ende aber doch nur um eine Flucht vor religiöser Pluralität als Grundsignatur unserer Gegenwart gehe, hielt Keupp dieser Tendenz den Begriff der «Ambiguitätstoleranz» entgegen. Er sei die Basis des «demokratischen Charakters», der im Raum der Kirche mehr und mehr als Abgrenzung gegen fundamentalistische Tendenzen nötig werde. Keupp zitierte den Schriftsteller Navid Kermani mit dem Satz «Identität darf alles sein, nur nicht eindeutig. Dann wird sie gefährlich».

Katholisch, evangelisch und darum komplex

Unter dem Titel «Kirche: katholisch, evangelisch und darum komplex» verglich die Dogmatikerin Prof. Eva-Maria Faber (Chur) Aspekte postmoderner «Unübersichtlichkeit» mit christlichen Prinzipien. Evangelisch-evangeliumsgemäss sei es, die Begrenztheit und Ergänzungsbedürftigkeit aller geschöpflichen Perspektiven anzuerkennen, jedem und jeder einzelnen nachzugehen und eine Kirche der pluralen Partizipation anzustreben. Katholisch, dem Ganzen gemäss, die Sorge um das Lebensrecht und die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Teile ebenso wie die Ausrichtung auf das Ganze. Diese evangelisch-katholische Ausrichtung von Kirche mache kirchliches Leben unübersichtlich und komplex. Simplifizierende Uniformierungen und Ausgrenzungen oder der Rückzug auf die überschaubare kleine Herde verböten sich. Konsequenzen für die Pastoral, z. B. die Sakramentenpastoral, liegen auf der Hand. Sie müsse sich auf plurale Vorgehensweisen einstellen und verschiedenartige Partizipationsmöglichkeiten für Menschen in verschiedenen Situationen bereithalten. Die Sehnsucht nach kurzen Wegen zu einer ultimativen Lösung auf Sprach- und Relevanzprobleme der heutigen Verkündigung übersehe die Vielschichtigkeit der Herausforderung. Die Komplexität kirchlicher Gemeinschaft mache aber auch den mühsamen Fortgang von Reformprozessen verständlich.2

Komplexität und Rollenvielfalt

Der Religionspädagoge Prof. Christian Cebulj (Chur) gab zu bedenken, dass die aktuelle Situation in den Deutschschweizer Bistümern durch einen Widerspruch gekennzeichnet sei: Zwar wäre in den Pfarreien und Seelsorgeeinheiten in Zeiten wachsender Komplexität die sinnvolle Reduktion von Komplexität sinnvoll. Stattdessen wird die Komplexität von Seelsorgestrukturen weiter erhöht, indem immer mehr Pfarreien zusammengelegt werden, die viel Energie dafür verwenden müssen, neu zusammenzuwachsen.

Der sich dramatisch zuspitzende Priestermangel führe gegenwärtig in so gut wie allen Diözesen der Schweiz, in Österreich und in Deutschland zu pastoralplanerischen Reaktionen, die bei allen Unterschieden eines gemeinsam haben: Sie lösen das Normalbild einer um den Priester gescharten, überschaubaren, einander verbundenen und kommunikativ verdichteten Glaubensgemeinschaft auf. Es zählt zu den Herausforderungen für kirchliches Komplexitäts-Management, dass Erkennbarkeit, Erreichbarkeit und Zugänglichkeit heute notwendige Kategorien einer Kirche sind, die vor Ort präsent bleibt.3

Komplexität im Pfarreialltag

Wie sich Komplexität im Alltag einer Pfarrei darstellt, schilderten die beiden Gemeindeleiter Zita Haselbach und Marcus Scholten aus Winterthur. Sie berichteten aus ihrer Gemeindeerfahrung, dass sie als Pastoralassistent/in nicht als «Lückenbüsser/in» wahrgenommen wurden, sondern als Gabe des Heiligen Geistes und eine besondere Chance der Kirche Schweiz. So war die Tagung insgesamt ein Plädoyer für mehr pastorale Differenzierung, die freilich noch an vielen Orten auf ihre Einlösung wartet.4

 

1 Vgl. Heiner Keupp: Reflexive Sozialpsychologie, Heidelberg 2016.

2 Vgl. Eva-Maria Faber, Integrieren statt disputieren, in: SKZ 185 (16–17/2017) 193–194.

3 Vgl. Pastoralplanungskommission der SBK (Hg.): Seelsorgeberufe in Veränderung, St. Gallen 2014.

4 Das Jahresthema des Pastoralinstituts 2017 lautet «Komplexität als Gestaltungsaufgabe». Zu den Angeboten vgl.: www.pastoralinstitut.ch

Christian Cebulj

Christian Cebulj

Dr. Christian Cebulj ist Rektor der Theologischen Hochschule Chur (THC) und betreut den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Katechetik.