Kleiner werden, damit Neues möglich wird

Wie werden sich die Ordensgemeinschaften in Zukunft entwickeln? Welche Aufgaben stehen an? Wie kann ihr Charisma weitergetragen werden? Darüber sprach die SKZ mit Priorin Sr. Irene Gassmann OSB und Provinzial Br. Josef Haselbach OFMCap.

Sr. Irene Gassmann OSB, Priorin des Klosters Fahr, und Br. Josef Haselbach OFMCap, Provinzial der Kapuziner in der Schweiz, im Gespräch. (Bild: mh)

 

Klöster und Ordensgemeinschaften schreiben eine jahrhundertelange Geschichte in der Schweiz. Aktuell ist bei vielen von ihnen einiges in Bewegung. Im benediktinischen Zentrum in Sarnen leben seit 2019 die Schwestern des Klosters Melchtal und des Klosters Wikon zusammen mit den Schwestern des Klosters Sarnen. Es werden Vereine, Stiftungen oder Genossenschaften gegründet, um das spirituelle und kulturelle Erbe in Zukunft zu sichern; es kommt zu neuen Nutzungen von klostereigenen Gebäuden.

SKZ: Sr. Irene, wie geht Ihre Klostergemeinschaft den Weg in die Zukunft? In welchen Prozessen stehen Sie aktuell?
Sr. Irene Gassmann (IG): Vor sechs Jahren haben wir einen Strategieprozess für die Annexgebäude und Betriebe – die Landwirtschaft, das Restaurant und die ehemalige Bäuerinnenschule – des Klosters Fahr eingeleitet. Wir spürten, jetzt können wir den Prozess noch angehen und aktiv mitgestalten. Später werden uns die Ressourcen fehlen. Der Prozess dauert länger, als wir uns vorgestellt hatten. 2017 starteten wir eine öffentliche Ausschreibung für die Entwicklung und Nutzung aller drei Gebäude, gefragt waren Projektideen sowie Investoren und Betreiber für alle Annexgebäude. Es gab 26 Eingaben. Das Team «erfahrbar»1 aus Dietikon reichte zusammen mit der Stiftung für die berufliche Vorsorge «Prospertia» das Projekt «Christliches Mehrgenerationenwohnen in den Gebäuden der ehemaligen Bäuerinnenschule – inspiriert von der benediktinischen Tradition» ein. Die Nutzung des Landwirtschaftbetriebes und des Restaurants sollen modernisiert und auf eine nachhaltige Grundlage gestellt werden. Das sprach uns sehr an. Die Partnergemeinschaft «Fahr-Erlebnis» aus Wettingen will eine Erlebnislandwirtschaft mit Gastronomie aufbauen.2 Den Hof haben wir inzwischen an sie verpachtet. Ende Januar haben wir die Baurechtsverträge sowohl für das Restaurant als auch die Bäuerinnenschule mit «Prospertia» unterschrieben. Die Bäuerinnenschule ist aktuell eine Baustelle. Die neuen Wohnungen werden im Frühjahr 2023 bezugsbereit sein. Das ökumenische Team «erfahrbar» hat inzwischen einen Verein gegründet. Der Vorstand dieses Vereins wird aus den Wohninteressenten die Mieterinnen und Mieter auswählen. Ein wichtiges Kriterium ist, dass die Interessierten in ihrer Kirche beheimatet sind und gleichzeitig den Alltag und ihren Glauben gemeinschaftlich leben wollen. Die Bewohnerinnen und Bewohner werden im nächsten Frühling einziehen. Sie werden sich als Gemeinschaft finden müssen. Wir schauen, was sich dann ergibt im Kontakt mit uns. Ich freue mich von Tag zu Tag mehr, mit dem Team «erfahrbar» unterwegs zu sein. Es finden jetzt schon Kennenlerntage statt. Anfangs war es ein fragendes Tasten: Ist dies der Weg, den Gott mit uns gehen will?

Br. Josef Haselbach (JH): Die gleiche Frage besprach ich heute Morgen mit dem Guardian des Klosters Wesemlin. Wer wird zukünftig im Neubau Francesco3 bei uns im Klostergarten wohnen? Welche Kriterien haben wir? Wie wird sich das Zusammenleben zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern und uns als Klostergemeinschaft gestalten? Gefühlsmässig ist es franziskanisch paradox, dass wir ein Haus als zukünftige Finanzierungsquelle bauen.

Br. Josef, Sie haben gerade eine Entwicklung im Kloster Wesemlin angesprochen. In welchen Prozessen steht Ihre Ordensgemeinschaft?
JH: Ich nenne Ihnen kurz die Ist-Situation. In der Deutschschweiz haben wir noch sechs Klöster – Wil, Schwyz, Olten, Mels, Luzern und Rapperswil –, in der Westschweiz sind es noch vier Klöster – Sion, Delémont, Fribourg und St. Maurice. Im Sommer werden wir ein Provinzkapitel haben. Da wird uns die Frage des Loslassens sehr beschäftigen. Wir hatten zwar meist eine Prioritätenliste. Aber plötzlich wurden unerwartete Aufhebungen nötig, wie z. B. Altdorf, obwohl es das älteste Kapuzinerkloster diesseits der Alpen war. Jedes Kloster hat seinen Schwerpunkt. Schwyz und Wil sind unsere beiden Altersklöster. Das Kloster Wesemlin in Luzern ist ein Kloster mit viel Kultur und Tradition. Vor zwölf Jahren starteten wir hier das Projekt «Oase-W».4 In Mels lebt eine kleine, eher jüngere Gemeinschaft. Wir haben einen Teil des Klosters zu Wohnungen umgebaut. Im Kloster in Rapperswil haben wir schon in den 1990er-Jahren ein neues Projekt gestartet, das sehr guten Anklang fand. Die Zeiten des Mitlebens im Kloster werden rege genutzt. Nach rund 30 Jahren setzen wir hier neue, weiterführende Impulse. Unser Dreijahresrhythmus in den Ämtern hat seine Vor- und Nachteile. Ich selbst habe drei Jahre gebraucht, um mich ins Provinzialat einzuarbeiten. Falls ich die nächsten drei Jahre nochmals Provinzial sein werde, kann ich hoffentlich mehr vor Ort sein und Impulse geben. Aktuell sind wir in der Schweiz 88 Mitbrüder, davon sind zehn unter 65 Jahren. Der Altersdurchschnitt liegt bei 79 Jahren.

IG: Ich wehre mich gegen die Altersdurchschnittsrechnungen. Für mich zählt die Lebendigkeit der Gemeinschaft, die Offenheit der Mitschwestern, ihre Bereitschaft, Neues zu wagen. Das gemeinsame Wachsen und Lebendigbleiben als Gemeinschaft ist entscheidend. So haben wir nach der Schulschliessung den Gästebereich vergrössert. Die Gastfreundschaft gehört zum benediktinischen Charisma. Die Gäste – wir beherbergen nur Frauen – leben mit uns. Wir haben mehr Anfragen, als wir nehmen können. Ein neues Angebot ist «lernen und schreiben». Da kommen Maturandinnen und Studentinnen, um ihre Arbeiten zu schreiben. Eine Schwester ist für diese Aufgabe der Gästebetreuung freigestellt. Sie führt Gespräche und begleitet die Gäste. Dies ist ein wichtiger Auftrag.

Wie viele Schwestern leben bei Ihnen im Kloster?
IG: In unserem Konvent leben 18 Schwestern. Der benediktinische Tag gibt uns Struktur. In den letzten zwei Jahren der Pandemie habe ich den Wert des Bleibens und Daseins, der Stabilitas, neu schätzen gelernt. Wir führen unseren Haushalt zusammen mit Mitarbeitenden noch weitgehend selber. Das kann in fünf Jahren anders aussehen. Das Gefüge ist sehr fragil. Wenn ich zurückblicke, wie vieles sich in den letzten 15 bis 20 Jahren entwickelt hat, da staune ich nur. Von unserer Seite her braucht es Offenheit und die Bereitschaft, auch unkonventionelle Lösungen anzugehen. Wir probieren sie aus, prüfen sie nach einem halben Jahr und entscheiden uns dann für die nächsten Schritte. Ich mache die Erfahrung: Die Zeit zeigt, wann der nächste Schritt dran ist. 

Was ist das Kerncharisma Ihres Ordens? Welche Rolle spielt es bei den laufenden Prozessen? 
IG: Ich möchte zwei Charismen hervorheben: die Gastfreundschaft und der Gottesdienst. Die täglichen Gebetszeiten sind vorgegeben. Der Ordensvater Benedikt öffnet am Schluss seiner Ausführungen über die Ordnung beim Gottesdienst die Türe für eine gewisse Freiheit in der Umsetzung. Wir nehmen diese Freiheit wahr. Wir behalten die Struktur bei, sie gibt uns Halt. Wir gestalten die Gebetszeiten inhaltlich so, dass sie uns geistlich nähren. Beispielsweise beten wir einmal pro Woche die Terz mit Texten von Silja Walter.

JH: Als Franziskaner haben wir kein explizites Kerncharisma, «nur» das Evangelium leben. Schwerpunkte sind die Einfachheit, die Geschwisterlichkeit, das Dasein für Arme und die Schöpfung. Es gehörte früher zum Charisma der Kapuziner, zu den Menschen zu gehen. Heute lassen wir sie zu uns kommen. Ich frage mich, ob wir dieses Charisma wieder mehr betonen und Wege finden sollen, wie wir wieder näher zu den Menschen kommen. Wenn ich in die Ordensgeschichte blicke, sehe ich, dass wir alleweil neue Aufgabenfelder entdeckt haben. Da war die Hausmission, die Arbeitermission und die Schulbildung. Die Schulen waren ein wichtiges Aufgabenfeld. Wir waren da, wo die Gemeinden finanzarm waren. Nachher kam die Aushilfsseelsorge. Heute fehlen uns die personellen Kräfte hierfür. Einige unserer Mitbrüder tendieren deshalb dahin, Ordensmitglieder aus Ländern des Südens in die Schweiz zu holen. Ich bin skeptisch.

IG: Papst Franziskus hat in seiner apostolischen Konstitution «Vultum Dei Quaerere – über das kontemplative Leben der Frauen» vom 29. Juni 2016 geschrieben, dass Frauenklöster nicht Kandidatinnen aus dem Süden holen sollen, um das Überleben der Gemeinschaften hier zu sichern.5 Ich bin sehr dankbar für sein Votum. Wir müssen am Ort schauen, wie wir die Zukunft gestalten. Wichtig ist, dass wir Netzwerke aufbauen.

JH: Genau bei diesem Punkt liegt die Gefahr. Wenn wir Mitbrüder aus dem Süden holen, gibt es wenig Anlass, Netzwerke aufzubauen. Das Kloster lebt allein aus sich. Vor drei Jahren haben wir diese Frage auf dem Provinzkapitel heiss diskutiert. Sollen wir Ordensmitglieder aus Übersee in die Schweiz berufen oder nicht? Ich bin der Ansicht, wir leben in einem säkularen Umfeld, mit diesem haben wir uns auseinanderzusetzen und in diesem haben wir die Zukunft anzugehen. Das andere ist «Pflästerlipolitik». Auch sehe ich Schwierigkeiten, wie die Mitbrüder aus Übersee eine Brücke zwischen dem Kloster und der Bevölkerung insbesondere zu jungen Menschen bauen können.
IG: Apropos Netzwerke und Aussenkontakte. Ich war schockiert, als ich den Ergebnisbericht des synodalen Prozesses des Bistums Basel las. Da steht: «Missionen, geistliche Gemeinschaften oder Orden sind zuweilen Gruppen, zu denen Laien oder Gläubige an der Basis keinen Zugang haben.»6 Liegen Selbst- und Fremdeinschätzung so weit auseinander? Ich habe den Eindruck, wir sind sehr gut vernetzt und haben offene Türen. 

Klöster haben spirituell und kulturell eine reiche Vergangenheit. Welche Möglichkeiten sehen Sie, dieses Erbe in die Zukunft zu tragen? 
JH: Wir leben nach der franziskanischen Spiritualität. Diese wird von vielen geschätzt, auch weit über unseren Orden hinaus. Es gibt die franziskanische Gemeinschaft, die bewusst die franziskanische Spiritualität lebt. Wir kennen Freundeskreise und Klosterkreise, die mit uns verbunden sind und den franziskanischen Geist weitertragen. Diese Kreise treffen sich regelmässig, um sich in franziskanischen Themen zu vertiefen oder unterstützen die Klostergemeinschaft ideell und materiell vor Ort. Darüber hinaus haben wir das Projekt «Bruder auf Zeit». Da sehe ich noch Potenzial. Ich finde, es ist an der Zeit, mehr in Lebensphasen zu denken. Wer entscheidet sich heute in jungen Jahren lebenslang für einen Ort und eine Gemeinschaft? Die Menschen fassen das Leben vielmehr als einen Prozess, als eine Entwicklung auf.

IG: Unser Kloster weist eine 900-jährige Geschichte auf. Das ist ein sehr grosses Erbe. Wir sind sehr gut vernetzt. Wir haben einen Freundeskreis von ungefähr 600 Mitgliedern, die uns nicht nur finanziell, sondern auch tatkräftig unterstützen. Wir haben zwei Oblatinnen. Sie sind mit uns spirituell verbunden. Sie kennen keine Gelübde, leben dennoch eine gewisse Verbindlichkeit. Wir überlegen, wie wir diese Lebensform aktiver bekannt machen können. Ich sehe sie als eine Form für die Zukunft. Auch ich denke mehr in Lebensabschnitten, zum Beispiel, wenn jemand pensioniert wird, die Kinder längst flügge sind. Da steht bei manchen eine Neuorientierung an. Sie suchen nach Sinn und Lebensfülle, nach spirituellem Leben und Gemeinschaft. 

Inwieweit sind die Herausforderungen bei Frauenklöstern anders als bei Männerklöstern? 
IG: Ich nenne es nicht Herausforderungen. Ich sehe die Chancen im Entwicklungsprozess. Sie liegen für mich in der Entwicklung und Entfaltung weiblicher Spiritualität. Wie feiern jeweils am Sonntag und Dienstag Eucharistie; an den anderen Tagen halten wir Wortgottesdienst oder machen eine Bibelbetrachtung. Wir Frauen haben Freiraum. Ich finde, wir sollten diesen auch nutzen und gestalten. Uns beschäftigen die Fragen: Wie können wir als Frauen miteinander spirituell wachsen? Wie können wir als Gemeinschaft aus dem Wort Gottes leben? 

JH: Ich finde, solche Prozesse hängen sehr stark von der Leitungsperson ab. Wir Kapuziner sind die gemeinsame spirituelle Suche weniger gewohnt. Ich sehe darin eine besondere Herausforderung für uns als Männerkloster. 

Wie sehen Sie die Zukunft der Klöster und Gemeinschaften in der Schweiz? 
IG: Ich sehe für die Klöster und Gemeinschaften eine Zukunft. Klöster sind spirituelle Orte, basierend auf einer jahrhundertelangen Gebetstradition. Ihre Formen werden anders sein. Es werden Klöster sterben. Wir sind mitten in einem Prozess des Kleinerwerdens. Es braucht dieses Kleinerwerden, damit Neues möglich wird. 

JH: Was die Zukunft angeht, da bin ich ganz offen. Ich nehme wahr, dass in der Bevölkerung die Sorge um die Klöster wächst. Als Stichwort nenne ich Ihnen den Verein «Kloster-Leben».7 Weiter nehme ich den Wunsch wahr, dass Klöster auch in Zukunft spirituelle Zentren seien. Ich vermute hinter diesem Wunsch die Hoffnung, die Klöster mögen Rettungsanker für die Kirche sein, deren gegenwärtige Strukturen am Zusammenbrechen sind. Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen. Für viele Menschen haben Klostergebäude eine hohe Bedeutung. Wenn Fragen einer anderen Nutzung im Raum stehen, dann kommen starke Reaktionen aus der Bevölkerung. Bei vielen herrscht das Gefühl von Verlust vor, auch wenn sie sonst keinen Kontakt zur Gemeinschaft haben. Ich glaube auch, dass Kirche wie Klöster noch mehr zugrunde gehen müssen, damit Neues entstehen, wachsen, gedeihen und blühen kann.


Interview: Maria Hässig

 

 

1 Mehr Informationen zum Projekt «erfahrbar» unter: www.erfahrbar.ch

2 Mehr Informationen zum Projekt «Fahr-Erlebnis» unter: www.fahr-erlebnis.ch

3 Mehr Informationen zum Haus Francesco unter: www.klosterluzern.ch (Haus Francesco/Wohnen im Kapuzinergarten).

4 Mehr Informationen zur «Oase-W» unter: www.klosterluzern.ch (Kloster/Klosternahes Wohnen).

5 «Vultum Dei Quaerere – über das kontemplative Leben der Frauen» vom 29. Juni 2016, § 6, S. 41.

6 www.bistum-basel.ch/Organisationsentwicklung-Pastoralraume/Synodaler-Prozess-Ergebnis-im-Bistum-Basel.html, S. 25.

7 Mehr Informationen zum Verein «Kloster-Leben» unter: www.kloster-leben.ch und im Interview mit Susanna Etter in dieser Ausgabe.

 

BONUS

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