Kriterien für eine weltwirksame Liturgie (II)

Serima Zimbabwe SchnitzereiKunst

Liturgie hat das Potenzial, die Feiernden als Einzelne zu prägen wie auch die feiernde Gemeinschaft und so die Kirche, die dadurch Impulse für die Gesellschaft setzt.1

In konkret gefeierten Gottesdiensten ist dieses Potenzial jedoch in sehr unterschiedlichem Masse wahrnehmbar.

In der Auseinandersetzung mit (nach-)konziliarer Liturgietheologie sowie durch eine interkulturell vergleichende Feldstudie in einem Slum von Nairobi, wo Gottesdienste und soziales bzw. politisches Engagement auf herausragende Weise miteinander verbunden wurden, zeigen sich mir sieben Kriterien: 1. Der Gottesdienst hat einen Bezug zum konkreten Leben. 2. Die Liturgie steht in Beziehung zu einer lebendigen diakonischen Praxis. 3. Der Gottesdienst hat Modellcharakter für das Handeln der Gläubigen. 4. Die Feiernden sind aktiv und mitgestaltend beteiligt. 5. Der Gottesdienst ist als gemeinschaftliche Feier gestaltet. 6. Die liturgischen Zeichenhandlungen sind sinnenhaft entfaltet. 7. Die einzelnen Menschen wie die feiernde Gemeinde sind als «Orte» der Gegenwart Christi liturgisch wahrnehmbar.

Auf das dritte, vierte, fünfte und siebte Kriterium gehe ich im Folgenden genauer ein.

Gottesdienst als Modell für die christliche Praxis

Der Gottesdienst prägt die Feiernden zu Handelnden gemäss dem Reich Gottes, wenn er in sich selbst eine entsprechende Praxis aufweist und somit Modellcharakter hat. Wenn die Gestaltung des Gottesdienstes dem Heilswillen zuwiderläuft, dann wird die Erfahrung des Heils gestört und seine prägende Wirkung beschnitten. Mit R. Schaeffler gesprochen: Die Bildgestalt des Kulthandelns muss transparent sein für den göttlichen Ursprung, damit dieser in Kultgemeinde und Welt ankommen kann – bzw. im Sinne der Liturgie als Proberaum (Saliers/Searle): Das Einüben in die Rollen als Bürgerin und Bürger des Reiches Gottes gelingt dann, wenn tatsächlich das Stück vom Reich Gottes gespielt wird, und nicht, wenn nur in Worten davon gesprochen wird. Der Gottesdienst muss also die Liebe Gottes zu den Menschen widerspiegeln.

Der Modellcharakter des Gottesdienstes wird jedoch auf verschiedene Weise gestört: wenn wieder verheiratete Geschiedene vom Kommunionempfang ausgeschlossen sind. Wenn die Zuweisung von Frauen in untergeordnete Rollen, wie sie in vielen Gesellschaften praktiziert wird, im Gottesdienst nicht – Reich-Gottes-Praxis vorwegnehmend – aufgehoben, sondern sogar noch manifestiert wird. Wenn Gottesdienste ganz auf die einheimische bürgerliche Mitte ausgerichtet sind und Menschen in prekären Lebensverhältnissen oder Menschen anderer Nationalitäten sich nicht willkommen fühlen und darum nichts von der Überwindung sozialer Schranken im Reich Gottes sichtbar wird.

Wo sich allerdings Reiche und Arme, Einheimische und Migranten, Junge und Alte, Menschen mit und ohne Behinderung im Gottesdienst zusammenfinden, da wird etwas vom Reich Gottes erlebbar.

Aktive Teilnahme

Wenn die Feiernden vom Gottesdienst geprägt werden sollen, dann müssen sie Mitspielende sein in diesem «Stück».2 Sie dürfen nicht distanzierte Zuschauer bleiben, während das «Stück» im Altarraum als der «Bühne» aufgeführt wird.

Auch die Liturgiekonstitution bezeichnet die «volle und tätige Teilnahme» als «erste und notwendige Quelle, aus der die Christen wahrhaft christlichen Geist schöpfen sollen»3. Deshalb wurde nach dem Konzil viel zur Förderung der aktiven Teilnahme getan. Der vor mehr als 50 Jahren eingeschlagene Weg muss heute jedoch weiterentwickelt werden: Der Mitvollzug vorgegebener Texte und Handlungen genügt nicht mehr, sondern es geht auch um Mitgestaltung. Die einzelnen Feiernden sind handelnde Subjekte und nicht nur Rezipienten des Gottesdienstes.4 Wie das konkret aussehen kann, zeigen wenige Beispiele aus einer Fülle von Möglichkeiten:

  • Wechselnde Gruppen bereiten Gemeindegottesdienste vor.5
  • Die Mitfeiernden werden in der Predigt eingeladen, ihre Gedanken vor der Gemeinde zu äussern oder im Zweiergespräch auszutauschen.6 Sie bringen sich in freiem Dank oder freien (Für-)Bitten ein.
  • Kinder tragen im Familiengottesdienst nicht von Erwachsenen formulierte Fürbitten vor, sondern sie fassen in der Vorbereitung ihre eigenen Anliegen in eigene Worte.
  • Am Hohen Donnerstag können sich die Mitfeiernden spontan an der Fusswaschung beteiligen – indem sie anderen die Füsse waschen oder sich selbst die Füsse waschen lassen.
  • Die Menschen werden eingeladen, sich im Stillen persönlich zu verorten (Welche Freuden oder Sorgen bringen Sie heute mit in den Gottesdienst? Welche Erfahrungen haben Sie mit …?). So wächst die persönliche Beteiligung auch ohne sich zu exponieren.

Verwirklichung der Gemeinschaftsdimension

Ein gemeinschaftlicher Charakter der Feier ist wesentlich dafür, dass Christen ihre Beziehungen aus dem Gottesdienst heraus gestalten. Wenn die Beziehungen untereinander in den Blick kommen, kann der in der Liturgie verkündete und gefeierte Heilswille Gottes auch auf diese bezogen werden und sie prägen.

Die gemeinschaftliche Feier ist ein zentraler Aspekt konziliarer Liturgietheologie.7 Dabei geht es um mehr als um das gleichzeitige Anwesendsein vieler Einzelner. Wenn laut Art. 26 die Feiernden den mystischen Leib der Kirche sichtbar machen, dann wird vorausgesetzt, dass es sich um eine Gemeinschaft in Beziehung handelt – so wie die Glieder eines Leibes in Beziehung zueinander stehen.

Deshalb ist zu fragen, wie die Beziehungen im Gottesdienst aktualisiert werden können. Eine Möglichkeit ist der o.g. Weg der aktiven Mitgestaltung, wodurch Menschen füreinander sichtbar werden. Bei besonderen Gelegenheiten, insbesondere wenn Menschen zusammenkommen, die nicht regelmässig miteinander feiern (ökumenischer Gottesdienst, internationaler Gottesdienst), kann im Eröffnungsteil zu einer gegenseitigen Begrüssung eingeladen werden. Das Zusammensein kann nach dem Gottesdienst fortgesetzt werden (Pfarreikaffee). Eine wesentliche Rolle für das Gemeinschaftserleben spielt die Nutzung des Gottesdienstraums: Manchmal können die Feiernden zur Eucharistie um den Altar versammelt werden oder zur Taufe um das Taufbecken. Bei einer kleinen Schar empfiehlt es sich, einen passenden Raum oder einen Teil des Kirchenraums für die Feier auszuwählen. Auch eine Sitzordnung, die Blickkontakt ermöglicht.

Es ist ein Charakteristikum der von Jesus Christus gestifteten Gemeinschaft, dass sie soziale Grenzen überwindet. Diese Qualität von Gemeinschaft soll im Gottesdienst erfahrbar sein. Meist sind Gottesdienstgemeinden sozial sehr homogen; daher ist nach Wegen zu suchen, wie Menschen verschiedener sozialer Milieus, Menschen verschiedener Nationen oder Generationen, Menschen mit und ohne Behinderung im Gottesdienst zusammengebracht werden – und so etwas von der gottgewollten universalen Gemeinschaft erleben und diese auch ausserhalb des Gottesdienstes leben können.

Sakramentalität des Nächsten und der versammelten Gemeinde

Für einen achtsamen, lebensfördernden Umgang der Menschen miteinander ist es bedeutsam, dass die Christusgegenwart nicht nur in den eucharistischen Gestalten, im Altar, im Priester liturgisch hervorgehoben wird, sondern auch in der versammelten Gemeinde und im Nächsten. In der Liturgiekonstitution wird unter den Gegenwartsweisen Christi die versammelte Gemeinde ausdrücklich genannt;8 in der Allgemeinen Einführung ins Messbuch steht sie sogar an erster Stelle.9 Dennoch wird sie in der Liturgie bisher kaum zeichenhaft umgesetzt. Wenn die Gegenwart Christi im Nächsten (auch im fremden Nächsten) zum Ausdruck kommt, kann dies viel dazu beitragen, dass Menschen die Würde der anderen achten und solidarisch leben.

Im Bericht von der Messfeier einer kleinen christlichen Gemeinschaft am Bett einer sterbenskranken Jugendlichen in Korogocho/Nairobi wird deutlich, wie die Wahrnehmung der Christusgegenwart in einem Menschen auch die Wahrnehmung seiner Würde stärkt. Mit diesem Beispiel von dem Ort und den Menschen, denen ich viel Inspiration verdanke, möchte ich schliessen. Der langjährige Pfarrer Alex Zanotelli schreibt:

«Weihnachten des Lebens, Weihnachten des Todes, jenes von Florence Awino, einem Mädchen von sechzehn Jahren. Mit zwölf Jahren hatte sie begonnen, sich zu prostituieren auf den Bürgersteigen von Nairobi. Schon bald hatte sie dann Aids (…) Wenige Tage vor ihrem Tod war ich bei ihr gewesen für die letzte Eucharistie. ‹Es tut mir leid, dass dich deine Mutter so im Stich gelassen hat›, sagte ich ihr, als ich bei ihr eintrat. Awino sah mich an und antwortete ernst: ‹Aber Gott ist doch meine Mama.› Ich betrachtete sie nochmals genau beim Lampenlicht. Sie schien mir ein Bild des Gekreuzigten zu sein, so entstellt war sie. Mir kam es spontan in den Sinn, sie zu fragen: ‹Wer ist denn aber das Antlitz Gottes?› Jenes gekreuzigte Gesicht, gequält von Aids, erstrahlte von einem so schönen Lächeln (ein Leuchten in der Nacht!): ‹Ich bin dieses Antlitz Gottes!› Das Angesicht jenes Kindes, geboren ‹draussen vor der Stadt›, gekreuzigt vor den Mauern (…) oder ist es Ostern?»10

 

1 Barbara Feichtinger: Die Liturgie prägt die Feiernden, SKZ 47/2017, S. 608–609.

2 So auch die Idee des Theaters der Unterdrückten (Forumtheater) von Augusto Boal, wo diejenigen, die sich verändern wollen, in das Stück mit einbezogen werden. Vgl. ders.: Theater der Unterdrückten, Frankfurt a. M. 1989.

3 Liturgiekonstitution Art. 14.

4 «Wie die ‹Versammlung am Ort› aussieht und erlebt wird, wie weit sie ‹Zeichen des Pascha-Mysteriums› ist und sein kann, hängt letztlich von allen Anwesenden ab, genauer davon, wie weit die ‹Teilnehmer› an der Feier sich als ‹Akteure des Dramas›, als ‹Mit-Spieler›, als ‹Festgäste› und zugleich auch ‹Veranstalter des Festes› begreifen und engagieren.» Werner Hahne: De arte celebrandi oder Von der Kunst, Gottesdienst zu feiern, Freiburg 21991, 322.

5 Vgl. die équipes liturgiques in einigen französischen Diözesen.

6 Auch der Bibliolog ist eine einfache und wirkungsvolle Art der Mitgestaltung.

7 Vgl. Liturgiekonstitution Art. 7, 21, 26 f u. a.

8 Liturgiekonstitution Art. 7.

9 AEM 7.

10 Alex Zanotelli: Brief an die Freunde: Chronist, Heft 2, 1994, 27–29, 27.

Barbara Feichtinger

Barbara Feichtinger ist Pastoralassistentin in der Seelsorgeeinheit St. Gallen-Ost.