Psychologie, Wirtschaft und Theologie verwenden den Begriff Leadership unterschiedlich. Die heute als «Unworte» geltenden ‹Führer› und ‹Masse› wurden abgelöst durch Gruppendynamik oder Empowerment. Der Begriff bezeichnet tragende Rollen im Alltag von Unternehmen und Organisationen. Lienhart fragt danach, worum es im Kern bei Leadership geht, allgemein um «soziale Bahnung» als «Änderung des Verhaltens aufgrund der Anwesenheit anderer». Im Bereich der Wirtschaft fliessen Charisma und Persönlichkeit zusammen mit Motivationskraft und Beeinflussung des Verhaltens. Theologie schaut mehr auf Leitung und Führung, wobei sich geistliche Begleitung als Hirtendienst versteht. Führung dagegen fokussiert auf kooperative Haltungen innerhalb von Teams.
Mormonen als Vordenker
Als Vordenker in Sachen Management und Leadership gelten Mormonen. Ihnen gehören u. a. die 16 Millionen Mitglieder der «Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage» an. Im Ranking der Thinkers50 waren 2011 drei mormonischen Glaubens. Lienhart regt an, die Leitideen und Praktiken dieser amerikanischen «Neureligion» im christlich-katholischen Kontext zu realisieren: «sich […] für andere einsetzen […], die eigene Bildung vertiefen […], zur Bildung anderer beitragen […]» und «die Entwicklung von Führungskräften» stärker zu thematisieren.
Dark Leadership
Im Gegenüber von Führung und Macht sieht der Autor spezifische Trennlinien. Auf gute Zusammenarbeit zielende Führung betont Macht als konstruktive Kraft. Mit anderen Worten kann jede gestaltende Einflussnahme auch durch Machtmissbrauch korrumpierend wirken. «Dark Leadership» gilt als Sammelbegriff für «narzisstische, machiavellistische und psychopathische Führung». Lienhart plädiert dafür, die dunklen Seiten des Phänomens nicht nur negativ zu betrachten. Seine Analyse ergänzt er mit Jim Collins «Fünf Stufen des möglichen Niedergangs von Institutionen». Nur kurz verweist er auf die Sozialenzyklika Sollicitudo rei socialis, in der Johannes Paul II. 1987 über die «Wurzel der Übel», die «’Sünde’ und ‘Strukturen der Sünde’» schrieb.
Ein personenbezogenes Leadership-Modell
Die Kernpunkte der Studie zielen auf ein «personenbezogenes Leadership-Modell», das John Maxwell von den fünf Ebenen des Führens her entwickelt hat: Die Position ermöglicht Einfluss oder wirkt in extremis einschüchternd durch «Hackordnung»; die Person steht in Beziehung zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern; die Produktion steigert Gewinne und hält gute Moral bei geringer Fluktuation. Zentral ist die Entwicklung loyaler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Angepeilt wird eine Persönlichkeit mit lebenslang erwiesener Führungsstärke, was kaum je erreicht wird.
Stephen R. Covey hat mit seinen 7 Wegen zur Effektivität und ihren Prinzipien aus den «sechs grossen Weltreligionen» weltweites Echo gefunden und den Wechsel von der Charakter- zur Persönlichkeitsethik erklärt. Dieses Paradigma verbindet Abhängigkeit, Unabhängigkeit und Interdependenz und lädt ein zur Realisierung durch Personen jeden Alters und ihren Organisationen. Die Wege selbst «beruhen auf effektiven Gewohnheiten», gebildet «aus der Schnittmenge von Wissen, Können und Wollen». Derart sollen Personen nach Covey zu ihrer je eigenen inneren Stimme finden. Unabhängig von ihrer Position seien für alle Menschen die vier Rollen effektiver Führung offen: Vorbild, Visionärin, Koordinator oder Coach zu werden, ohne die Schwachstellen zu verdrängen, wie eine Tabelle illustriert. L. Lienhart schildert zudem Massnahmen zur Erhöhung des Frauenanteils in kirchlichen Führungspositionen.
Die sozialethische Dimension
Was steht an? Sowohl das Lernen vom Gegenüber als auch Leadership als Teil der Soziallehre der Kirche. Darum verweist Lienhart auf A. Auers «Überlegungen zur integrierenden, stimulierenden und kritisierenden Funktion des kirchlichen Lehramts». Stichwortartig lässt eine Tabelle am Schluss alle Elemente personenbezogenen Leaderships Revue passieren. Sie sind «nicht spezifisch christlich, können aber […] zusätzliche, spezifisch christliche Werte entsprechend der Würde der menschlichen Person zum Vorschein bringen».
Wertung
Lienhart setzt nicht auf Kontroverstheologie, zeichnet stattdessen den seit 20 Jahren verstärkten Leadership-Diskurs nach. Offene Fragen stellen sich, wo es im katholischen Kontext um die Spannung von Amt und Geist geht. Wenn in den Gemeinden die angestrebte Kooperation unter Leitenden und Gläubigen aufgrund mangelnder Leadership an ihre Grenzen stösst, machen sich Stagnation und lähmende Konkurrenz breit. Der Kulturwandel in der Kirche verlangt jedoch die Rückkehr zu den Quellen der frühen Kirche, welche in dieser Studie eher spärlich erwähnt sind. Bereits 1967 erinnerte Yves Congar an die karolingische Epoche im 8. Jhd. Während dieser schlug das Verständnis christlicher Gemeinschaft in ihrer Liturgie um – von einem korporativen Verständnis zur Kirchenschau, die in der Rolle des Priesters gipfelte, der allein Christus repräsentiert. Seither hat der Begriff vom ‹Haupt› Christi den Begriff vom ‹Leib› Christi absorbiert, woraus ein für Missbrauch anfälliges Kirchenkonzept entstehen konnte. Auch die Kirchenrechtlerin Judith Hahn beklagte jüngst den «dauerhaften Entzug» der «eigenen Körper» jener, die als Gläubige in den Leib Christi durch Taufe und Firmung integriert sind. Verschärfend wirkt sich diese Kirchenvorstellung bis in die Gegenwart aus. Die über Jahrhunderte verdrängten Mechanismen «soziopathischer Machtausübung» (A. Holderegger), von Übergriffen und sexueller Gewalt lasten schwer auf der Glaubwürdigkeit der Kirchenwelt. Dabei würde der eröffnende Satz der Nr. 3 aus dem Konzilsdekret über das apostolische Handeln als Wegweiser dienen können, was leider auch in der vorliegenden Studie unterschlagen wird: «Pflicht und Recht zum Apostolat haben die Laien kraft ihrer Vereinigung mit Christus, dem Haupt.» Die Vereinigung mit Christus, dem Haupt ist ein Siegel erster Güte, das jeder Machtausübung Grenzen setzen sollte. Alles in allem überzeugt die Studie von Lukas Lienhart auch durch ihre Gestaltung mit didaktisch hilfreichen Abbildungen und Tabellen. Sie bietet fundierte Einblicke in ein für die Zukunft kirchlicher Lebenswelt wichtiges Thema.
Stephan Schmid-Keiser