Es ist uns kirchlichen Mitarbeitern nicht bewusst. Aber in allen Diskussionen, in allen Strukturveränderungen und in den meisten pastoralen Über- legungen folgen wir einer geheimen Vision. Eigentlich geht es immer um die Frage, wie wir eine bestimmte und in unserem Herzen geliebte Gestalt der Kirche erhalten können. Ja, diese Vision ist eine Re-Vision.
Die Diskussionen um die sinkende Zahl von Kirchenmitgliedern sowie die Frage nach der Menge an Priestern und professionellen Mitarbeitern verweisen auf den Bestandserhalt einer bestimmten Form einer Versorgungskirche. Und wer nach Gottesdienstbesuchern fragt oder auch von Kirchenfernen spricht, auch der hat ein bestimmtes Bild kirchlichen Lebens in sich: eines, in dem jeder seinen Glauben, seine Konfession «geerbt» hat. Und – in früheren Zeiten – war dann auch die Praxis obligatorisch. Das will heute keiner mehr, und wir Christen sind froh, dass wir inzwischen mit grosser Freiheit selbst entscheiden, welchen Glaubensweg wir gehen – aber die Rückseite mögen wir nicht so gern sehen. Denn damit lösen sich die Selbstverständlichkeiten einer Volkskirchlichkeit auf, die wir gerne nach vorne entwickeln würden.
Die vier Generationen
In der Tat findet ein tiefgreifender Klimawandel in Sachen Glauben und damit auch für die Gestalt der Kirche statt. Die Anfänge dieses Wandels lassen sich spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg nachweisen. Im spannenden Buch «Der verlorene Himmel» des Historikers Thomas Großbölting lässt sich etwa nachlesen, dass schon zu Beginn der 1950er-Jahre den Verantwortlichen deutlich wurde, dass die Jugend nicht mehr selbstverständlich den Glauben ihrer Eltern übernahm. Mir ist das eindrückliche Bild der vier Generationen hilfreich, das in der anglikanischen Kirche verwendet wird. Die Wirklichkeit der «entkirchlichten» und «unkirchlichen» Personen lässt sich als Entwicklungsprozess über mehrere Generationen beschreiben: In der ersten Generation leben und praktizieren Eltern und Kinder den christlichen Glauben, in der zweiten schicken Eltern ihre Kinder in die Kirche, in der dritten tun dies die Eltern nicht mehr, wissen aber noch von ihren eigenen Erfahrungen als Kinder, und in der vierten Generation wissen weder Eltern noch Kinder Wesentliches vom christlichen Glauben. Alle diese Generationen finden sich heute gleichzeitig und in allen hat sich der Zugangsweg zum Christsein verändert. Es gibt keine Selbstverständlichkeit kirchlicher Praxis mehr, keine Weitergabe des Glaubens im klassischen Sinn.
Aber das innere Bild von Kirche ist immer noch ein Volkskirchliches: «Christsein im Aquarium» – eine unausweichliche Zugehörigkeit und Gebundenheit. Die eigentliche Frage im Aquarium ist nicht, wie etwas Neues entsteht, sondern wie die kleinen Fische lernen, im Kreis zu schwimmen. Es geht nicht um den Aufbruch, sondern um die Bewahrung des Bestandes. Deswegen passiert es nicht selten, dass in gewachsenen Strukturen und eben auch in Kirchengemeinden zu hören ist – gerade in Zeiten des Umbruchs –, dass es um Bestandeswahrung einerseits geht, und Neues unter zwei Stichworten kritisch betrachtet wird: «Das haben wir noch nie gemacht» und «Wir haben keine Kraft dafür, wenn wir doch alles andere auch noch machen wollen». Das hat viel mit Kirchenentwicklung zu tun und noch mehr mit einer visionären Kirchenentwicklung. Denn es weist darauf hin, dass der derzeitige Wandel eben nicht einfach zu handhaben ist, wenn nicht Rechenschaft darüber gegeben wird, ob diese verborgene Vision nicht noch sehr wirkmächtig ist.
Fallstricke in der Kirchenentwicklung
Die Vision einer ererbten volkskirchlich geprägten Gemeindekirche enthält eine Kultur, die es schwer macht, wirklich nach vorne weiterzugehen. Elemente dieser Kultur lassen sich unschwer aufzählen:
- Der Schwerpunkt liegt auf Versorgung. Eine Kirche, die sich so gründet, fragt nach mehr Hauptberuflichen, Priestern wie professionellen Mitarbeitern.
- Damit verlängert diese Vision ein machthierarchisches Gefüge. Dabei ist es egal, ob dieses Gefüge klerikal oder professionell konnotiert ist. Im Grunde aber geht es um die Frage, wer sich die Verantwortung für die Kirche – die meist nur institutionell verstanden ist – zuspricht und wem sie zugesprochen wird.
- Glaube und Kirche werden in dieser Perspektive miteinander in ihrer Wichtigkeit vertauscht. Diese Vision ist binnenkirchlich fixiert, die Frage nach dem persönlichen Glauben hingegen ist privatisiert.
- Der Schwerpunkt des Handelns liegt auf dem Abarbeiten eines Settings pastoraler Aktivitäten – eine weiterführende Entwicklungsidee gibt es nicht.
- Nicht das gemeinsame Priestertum aller Getauften, sondern das Ehrenamt steht im Zentrum. Auch das Ehrenamt dient der Bestandeswahrung. Ob und wie Menschen, die sich engagieren, in ihrem Glaubensweg weiter begleitet und gefördert werden, ist nicht im Blickpunkt. Denn die Kirche ist eine professionelle Institution, die für die Gläubigen agiert.
Eine klare Vision, aber die Welt und die Menschen sind anders geworden. «Wir kommen noch nicht damit zurecht, dass die Menschen machen, was sie wollen», so formuliert der Bochumer Pastoraltheologe Matthias Sellmann gewohnt burschikos. Die Menschen, ihr Zugang zum christlichen Glauben, ihre Freiheit und Mobilität – territorial wie spirituell – und ihre gut entfaltete Wahlfreiheit lassen ein «Weiter so» als einen frustrierenden Versuch erscheinen, gegen die Wirklichkeit zu agieren. Das heisst für die Kirchenentwicklung: Nur eine Perspektive, die die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums deutet, die Lust hat, ein gewohntes Paradigma zu verlieren und Haltungsroutinen und Grundhaltungen vergangener und durchaus ihrer Zeit angemessener Gestalten von Kirche zu verlernen, hat Aussicht auf Zukunft und Fruchtbarkeit.
Das Volk Gottes gestaltet Kirche vor Ort
Wer sich die weltkirchlichen Entwicklungsprozesse der vergangenen Jahrzehnte anschaut – zu denken ist an die weltumspannende Tendenz zu kirchlichen Basisgemeinden –, wer sich einlässt auf die Zeichen der Zeit, die sich etwa in den nach vorne weisenden Organisationsentwicklungen zeigen, wer sich auseinandersetzt mit den Entwicklungen in Freikirchen, neuen Bewegungen und besonders auch der anglikanischen FreshX-Bewegung, der stösst auf erstaunliche Konsonanzen. Eigentlich wird mehr als deutlich, welche Perspektive die Menschen bewegt und welche Resonanzen dazu führen, dass wir als Kirche auf dem Entwicklungsweg weitergehen. Es gilt, eine neue Vision zu konturieren, die die Kirche auf den Kopf stellt: Ziel aller Wege der Kirchenentwicklung ist, dass die Menschen vor Ort das Evangelium entdecken, aus den eigenen Geistkräften und mit den eigenen Talenten die Herausforderungen und Aufgaben angehen und Gemeinschaft vor Ort bilden, wachsen und werden lassen. Theologisch gesprochen: Es geht um das prachtvolle Volk Gottes, und das Zutrauen darin, dass es Kirche vor Ort verantwortlich gestaltet. Subisidiarität, so heisst das alte Zauberwort. Kirchenentwicklung vor Ort ist mit viel Vertrauen in die Leidenschaft und Energie der Christen zu begleiten. Dabei geht es nicht darum, dafür zu sorgen, dass Gemeinschaften entstehen, die um sich selbst kreisen. Ganz im Gegenteil. Kirche ist – vor Ort – Zeichen und Werkzeug der Einheit aller Menschen, sie dient also.
Mit Geduld, Achtsamkeit, Beharrlichkeit
Kirchenentwicklung braucht eine zeitsensible Vision, die Kulturen und Formen der Vergangenheit verliert oder doch mindestens relativiert. Mich beeindruckt die Kurzformel, die die anglikanische Kirche gefunden hat. Sie spricht für die Zukunft von einer «mission shaped church» – einer Kirche, die von ihrer Sendung her ihre Gestalt gewinnt. Es geht nicht um den Bestandeserhalt oder die Bestandesergänzung, sondern um ein neues Werden der Kirche. Dabei gilt es, neu am Ursprung Mass zu nehmen. Der Ursprung ist aber nicht die Kirche, sondern die Leidenschaft der Sendung, die aus der Begegnung mit Christus wächst. Überall dort, wo ich Neuaufbrüche gesehen habe, lebten sie aus dieser Leidenschaft für Christus, für sein Wort. Gleichzeitig geschieht ein Ur-Sprung: eine Leidenschaft, die mitten in die Welt springen lässt, damit die Frohe Botschaft dort erlebt werden kann. Das führt zu neuen Formen des Kircheseins. Damit sind wir alle für längere Zeit herausgefordert. Denn einerseits geschieht all dies schon heute und andererseits ist Schritt für Schritt Raum zu öffnen für solche Entwicklungen. Dazu braucht es keine grossen Pläne, aber eben jene leidenschaftliche Vision, die vom Geist kommt, es braucht die Geduld und Achtsamkeit für die Gelegenheiten, an denen diese Vision wirklich wird, und es braucht Beharrlichkeit: «it’s a long long journey» («es ist ein langer Weg»).
Christian Hennecke