Leserbrief

Leserbrief zur SKZ 07 «Am Anfang war ein Evangelium»

Der Neuansatz von Matthias Klinghardt zur Frage der literarischen Abhängigkeitsverhältnisse der kanonischen Evangelien rechnet damit, dass es ein ursprüngliches Evangelium gab ohne Täuferüberlieferung und Taufe Jesu. Das scheint mir aus folgenden inhaltlichen Gründen als unwahrscheinlich. Die Leben Jesu Forschung hat aufgezeigt, dass die Taufe Jesu eine sichere historische Tatsache ist. Diese Taufe, in der sich Jesus dem Wirken des Täufers unterordnete, kann nicht nach Ostern konstruiert worden sein. Im Licht des Ostereignisses zeigte sich vielmehr, dass der von den Zeitgenossen für grösser als Jesus gehaltene Täufer (Josephus Flavius berichtet, dass die Hinrichtung des Täufers das jüdische Volk sehr stark bewegte) in Wirklichkeit der kleinere ist. Die eigenartig anmutenden Demutsäusserungen des Täufers bei der Taufe Jesu sind als Korrektur der vorherrschenden Sicht zu verstehen. Dieser Sachverhalt muss in der ersten Zeit nach der Auferstehungserfahrung von grosser Bedeutung gewesen sein, als die Erinnerung an den Täufer noch lebendig und die urchristliche Gemeinde Teil des Judentums war. Darum sind nach m.E. die Traditionen rund um den Täufer etwas vom Ursprünglichsten in den Evangelien. Das gilt auch für die lukanische Vorgeschichte, in der Ereignisse um Johannes und Jesus mehrfach so parallelisiert sind, dass Jesus der grössere ist. Zu diesen Parallelisierungen könnte auch das Zeugnis Jesu über den Täufer in Entsprechung zum umgekehrten des Täufers über Jesus gehören. Dieses findet sich aber nicht bei Mk, sondern bei Lk und Mt. Dieser Umstand kann so eingeordnet werden, dass der Evangelist Markus zeitnah zur Loslösung der Kirche von der Synagoge, die sicherlich eine Identitätskrise nach sich zog, eine Vorlage umschrieb. So verläuft in der Bild-Rede von den Winzern die Frontlinie in einer ausserkanonischen Version noch zwischen Gesandten Gottes und jüdischen Autoritäten, bei Mk aber zwischen verfolgten Christen und diesen Autoritäten, d.h. zwischen Kirche und Judentum. Vierzig Jahre nach dem Tod Jesu hatte Johannes sicher etwas an Bedeutung eingebüsst und es ist darum gut denkbar, dass Mk in seiner neuen Situationen diesbezügliche Traditionen strich oder kürzte. Lk und Mt haben neben ihren eigenen umfangreichen Schöpfungen sich dann vor allem auf Mk bezogen, aber auch auf dessen Vorlage (Analogien zwischen Mt und Lk lassen vermuten, dass eines von beiden dem andern vorgelegen hat). Das Interesse an der Markus-Vorlage kann einem Bestreben nach vollständiger Überlieferung geschuldet sein in einer Zeit, in der die erste christliche Generation nicht mehr da war (vgl. Lk 1,3). Lk hätte dann die Vorgeschichte aus der Markus-Vorlage übernommen und für seine heidenchristliche Hörer in die Geschichte des römischen Reiches eingeordnet (dass es ihm nicht so sehr um den Täufer ging, zeigt sich daran, dass er diesen vor der Taufe Jesu von der Bühne abtreten lässt und auch die Geschichte über dessen Hinrichtung weglässt). Mt hingegen hat in seiner Vorgeschichte Jesus zum neuen Mose des neuen Volkes Gottes stilisiert. Das Johannesevangelium hat die Markusvorlage sicher auch gekannt. Denn es berichtet, dass Jesus am Rüsttag gekreuzigt wurde, was historisch stimmig ist. Mk und mit ihm dann Lk und Mt dürften ein letztes Zusammensein Jesu mit seinem Freundeskreis in das Pascha-Mahl verlegt haben, um das urchristliche Abendmahl zum neuen Pascha-Mahl des neuen Volkes Gottes zu stilisieren. Zu dieser Version passt nicht, dass Jesus vor dem Fest beseitigt werden sollte, die Amnestie zum Pascha-Fest nicht vor dem Fest gewährt wurde, am Feiertag Simon von Zyrene vom Acker kam oder ein Leinentuch zum Begräbnis Jesu gekauft wurde. In der hier angedeuteten Sichtweise ist der Bruch zwischen der urchristlichen Gemeinde und dem Judentum der Grund, dass eine ursprüngliche Form des Evangeliums von der Kirche aufgegeben wurde und so verloren ging.

Wendelin Fleischli, Wassen, per E-Mail