Bis in den Nationalrat hinein (Februar 2018) wird das Für und Wider eines schulischen Sexualkundeunterrichtes diskutiert. Die Gegner befürchten, dass Kindern Normen der Erwachsenen einer liberalen Gesellschaft vermittelt würden. Und sie sagen, dass dieser Unterricht Sache der Eltern sei – und nur der Eltern! Als Begründung bringen sie vor: Sexuelle Erziehung und Bildung betreffe den intimsten Persönlichkeitskern des Menschen und gehe die Schule in ihrem Öffentlichkeitscharakter gar nichts an.
Phänomene sexualisierter Öffentlichkeit
Gleichzeitig werden der Gesellschaft nach und nach Umfang und Tragweite sexuellen Missbrauchs offenbar: Etwa, dass vierzig Kinder und Jugendliche von einem Geistlichen missbraucht wurden und Grössen aus der Musikszene sich junge Talente gefügig machen und damit für das ganze Leben schädigen. Weiter geschieht heutige Aufklärung nicht nur, aber auch über Filme der härteren Art, die erstaunlich rasch in die Smartphones der Kinder gelangen. Und man weiss auch, dass sich die meisten sexuellen Übergriffe in den Familien und Bekanntenkreisen ereignen und oft auch unter Kindern und Jugendlichen geschieht. Die sexualisierte Öffentlichkeit zeigt ihre Wirkung. Vorbei sind die Zeiten, in denen Dr. Sommer in der Zeitschrift «Bravo» den Jugendlichen Ratschläge erteilt. Zahllose Internetadressen werben stattdessen um die Gunst der Kinder und Jugendlichen.
Ratschläge zu diesen Themen richten sich heute in der Regenbogenpresse an alle Generationen. Sexualität wird am Radio zwischen 22 und 24 Uhr behandelt. Probleme des Fremdgehens und abklingender sexueller Aktivität werden ungeniert mit Hörern besprochen, möglichst im Beisein eines «allwissenden» Sexualtherapeuten. «Gewalt und Sexualität» und «Sexualität im Alter» sind die aktuellen Probleme. Und auch wird diskutiert, ob pädophil veranlagte und schuldig gewordene Menschen zeitlebens zu verwahren seien.
Aufklärung als Herausforderung
Zugegeben, Aufklärung, sexuelle Bildung und Werteaneignung sollten im Elternhaus geschehen. Die familiäre Intimität bildet den geeigneten Rahmen des Vertrauens und der geschützten Kommunikation. Kinder dürfen die Eltern in ihrer Leibhaftigkeit sehen und befragen. Und viele Eltern – zunehmend auch Väter – bewältigen diese Aufklärungsaufgaben souverän und mit innerer Freiheit. Doch zeigt es sich immer wieder, wie viele sich schwertun, über sich selbst zu reden und autoimplikative Vorgänge anzusprechen. Eine natürliche Scham bringt viele zum Schweigen; aber auch viel Nichtwissen und mangelnde Sprachkompetenz behindern Lernprozesse auf diesem Gebiet.
Sexuelle Bildung ist insbesondere auch bei Kindern in Familien mit Migrationshintergrund dringlich. Sexualität ist gerade in islamisch geprägten Ländern oft tabu, kein Thema, über das gesprochen wird und über das sich die Eltern ein Fachwissen aneignen, welches Kindern und Jugendlichen entwicklungsgerecht zu vermitteln wäre. Gewiss ist vieles im Aufbruch, und es herrscht eine Ungleichzeitigkeit in verschiedenen Kulturen. Aber manche Institutionen bereiten Eltern auf die einschlägigen Aufgaben vor.
Eine christlich verantwortete Sexualpädagogik will sich nicht durchsetzen. Genauer, sie ist nur bedingt ein Thema der kirchlichen Öffentlichkeit, obwohl Papst Franziskus in «Amoris laetitia» (2016) und Benedikt XVI. in «Deus caritas est» (2005) Hinweise dazu gegeben haben, die es weiterzuführen und zu konkretisieren gälte. Die Mehrdimensionalität der Sexualität, Stufenleiter der Zärtlichkeiten (Würzburger Synode) und die Sinnfülle von Partnerschaft und Ehe wären wichtige Themen. Der christliche Glaube hat ganz viel zu diesen Themen zu sagen, angefangen von den Schöpfungsgeschichten im Buch Genesis.
Kooperation von schulischen Fachkräften
Ideal wäre für den Sexualkundeunterricht eine längerfristige Kooperation von Sachkundelehrerinnen und Religionslehrerinnen. Was einst mutige Katechetinnen und Vikare im Religionsunterricht zum Thema «Liebe Freundschaft und Ehe» referiert und besprochen haben, wäre heute in einem situativen Aufgreifen von Fragen wieder angebracht, die sich im Schulalltag ergeben. Und ideal wären sachliche Informationen über Sexualität gepaart mit ethischen Modellen: lernen an Dilemma-Situationen, durch Geschichten, anhand von Biographien! Ein dialogischer Erziehungsstil hat die Vermittlung von Geboten und Verboten einer «Du-darfst-nicht-Erziehung» abgelöst.
Einige Lehrer trauen sich einen solchen Unterricht nicht zu und lassen Experten von aussen kommen. Wichtig ist die Stufengemässheit sexueller Bildung und Erziehung, die eben bereits im Kindergarten und in den Kindertagesstätten klärende Worte braucht. Eltern und Familien könnten schulisch Behandeltes vertiefen und eigens akzentuieren. Es geht heute um das Finden einer persönlichen und auch sexuellen Identität, die verschiedenen Aspekte der Sexualität, Freundschaft, Liebe und Ehe, in der Pubertät um die sekundären Geschlechtsmerkmale und um Schutz vor übertragbaren Krankheiten. Intersexualität, Homosexualität und Transsexualität sind ebenfalls zu diskutieren.
Verstehen es Lehrpersonen, ein Klima des Vertrauens aufzubauen, den Respekt der Schülerinnen und Schüler untereinander und zu den Lehrpersonen zu fördern, kann ein gutes Verständnis von Sexualität gefunden werden. Fragen und Probleme können so behandelt werden, dass die Kinder und Jugendlichen etwas für ihr Leben lernen und nicht Opfer des Missbrauchs werden. In einem Klima des Vertrauens spielen dann auch die Lernformen (Rollenspiele, Geschichten, Begriffsbildung) sowie die Hilfsmittel (Bilder, Filme, Tabellen, Schemen, Plastik) eine nachgeordnete Rolle. Entscheidend sind die Kompetenz und die Glaubwürdigkeit der Erzieher.
Stephan Leimgruber