Der Hauptfriedhof der Stadt Basel liegt am Fusse des Grenzacher Horns (Hörnli) in der Gemeinde Riehen und gleich an der Grenze zu Deutschland. «Der Gottesacker reicht bis zur Waldmitte hoch», erzählt mir Peter Galler und seine Hand zeigt zur Anhöhe. Peter Galler war 40 Jahre Bestatter auf diesem Gottesacker, wie er den Friedhof liebevoll nennt. Er ist vertraut mit jedem Winkel. Er führt mich durch den grössten Friedhof der Schweiz, an Gräbern bekannter Persönlichkeiten vorbei. Auch Karl Jaspers und Karl Barth ruhen hier. Mitten im Vormittag entdecke ich zwei Rehböcke auf einer Wiese zwischen Grabsteinen äsen. Füchse und Marder gehören zu den weiteren ständigen Bewohnern des Friedhofs am Hörnli. Erbaut wurde dieser Friedhof von 1926 bis 1932. Während des Baus wurden römische Ascheurnen gefunden, die belegen, dass schon in der Antike dieser Ort für Bestattungen genutzt wurde. Auf der Rückseite des rechten, in neoklassizistischem Stil gehaltenen Gebäudekomplexes ist der Eingang zur «Sammlung Friedhof Hörnli». Diese ist singulär in der Schweiz.
Kleiner Anfang
Im Januar 1961 bekam Peter Galler die Aufgabe, alle gebrauchten und gelagerten leeren Urnen zu entsorgen. Darunter waren schöne und kostbare Urnen. Galler war es unmöglich, diese zu zerstören. Sein Vorgesetzter fragte ihn: «Was wollen Sie mit diesen Urnen machen?» Er dachte spontan daran, diese auf einem Brett an der Wand auszustellen. Da sagte der Chef zu ihm: «Machen Sie eine Sammlung. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie ein Museum errichten.» Das war für Peter Galler ein Auftrag. Sein Vorgesetzter war von der Idee einer Sammlung begeistert. Er hatte wie Galler keine Ahnung, wie eine Sammlung zu erstellen ist. «Als zwanzigjähriger Jungspund konnte ich die Grösse und Weite dieses Auftrags keineswegs abschätzen», erinnert er sich. Galler begann zu sammeln und mit dem Sammeln kam die Leidenschaft. In der Baracke auf dem Friedhofsgelände stellte er erste Stücke aus. Die erste Vitrine war ein alter Küchenkasten mit einer Glasfront. Im Jahr 2000 wurde es möglich, die Sammlung in den ehemaligen Räumen des ersten Krematoriums auszustellen. Dieses wurde 1985 stillgelegt. Vor zehn Jahren kam ein Anbau dazu. Jetzt sei der Raum schon wieder zu klein, konstatiert Galler. Beispielsweise sollte die Basler Leichenkutsche einen schöneren Platz haben, damit sie richtig zur Geltung komme.
Peter Galler beginnt seine Führung durch die Sammlung mit einem informativen Impuls zu den verschiedenen Gottesäckern der Stadt Basel im Laufe der Jahrhunderte. Sein grosses Interesse an Geschichte und Kultur ist spürbar. Schon in der Schule habe er ein Faible für die Römer gehabt, erzählt er.
Kunstvolle Werke
In den Räumlichkeiten des ehemaligen Krematoriums sind diverse Urnen, filigrane, farbige und schwarze Gebinde aus Glasperlen, Haarbilder und vieles mehr in Vitrinen schön ausgestellt. Daneben schmiedeeiserne Grabkreuze, ein Sarg, ein Versehglöcklein – alles rund um die Bestattungs- und Trauerkultur ist hier zu sehen. Die Haarbilder wecken mein Interesse. Der ehemalige Bestatter führt aus: «Verstorbenen Frauen wurden die Haare abgeschnitten. Daraus wurden Uhrenbänder für Männer geflochten und auch Kunstbilder erstellt.» Auf einem Bild sehe ich eine Kapelle, daneben eine Trauerweide aus Haaren gefertigt, dahinter eine Landschaft mit einem See, dazu eine Barke und einen Anker. Die Verstorbene hat die Überfahrt über den See ins neue Leben genommen. Auf einem anderen Haarbild sind zwei kleine Fingerhüte ins Kunstwerk eingefügt. Sie weisen darauf hin, dass die Verstorbene Näherin war. In neueren sind zwischen die Kunstgebilde aus Haar Fotos eingeflochten. «Ab 1730 wurden diese Haarbilder erstellt», erklärt mir Galler, «um 1900 hörte dieser Kunstzweig plötzlich auf. Das letztdatierte, das ich habe, ist von 1907.» Die meisten Bilder hat er von einer Privatperson erhalten. Er vermutet, diese habe die Bilder selber gesammelt.
Wie kommt er zu all diesen Stücken rund um Tod, Bestattung, Trauer und Erinnerung? «Es braucht einen Blick dafür», meint Galler. «Es braucht einen Blick für kunstvolles Handwerk und ein hohes Interesse für die Begräbnis- und Trauerkultur.» Er habe dieses vermutlich aus seiner Kindheit. Der frühe Tod seines Vaters habe ihn geprägt. Er habe viel durch Fragen und Beziehungen erhalten. Leute hätten ihn auf Kutschen, Särge usw. aufmerksam gemacht, fährt er fort. Oft musste er die erworbenen Sammelstücke aufwendig restaurieren.
Bei der Einschiebetüre zum ehemaligen Ofen Nummer Eins steht ein Basler Sarg. Sein Deckel ist aus fünf Bretter geschreinert, üblich sind drei Bretter. «Jede Baslerin und jeder Basler hat Anrecht auf einen Sarg oder eine Urne, das steht im Reglement», erzählt Peter Galler. Und sogleich folgt die nächste informative Geschichte: «Während des Ersten Weltkrieges mussten die Hinterbliebenen einen Sack Kohle mitbringen, wenn sie ihre verstorbenen Angehörigen kremieren wollten. Kohle war damals rar.» Und so geht es weiter durch die Sammlung. Zu jedem Gegenstand der Sammlung weiss er etwas Besonderes zu erzählen: wei es zum Kunstwerk selbst oder zur Geschichte der Bestattungskultur oder aus seinem vierzigjährigen beruflichen Erfahrungsschatz. Selbst die Leichenkutschen im Untergeschoss erzählen Geschichten.
Grosses kulturgeschichtliches Interesse
Das Wissen zur Sepulkralkultur hat sich Peter Galler autodidaktisch angeeignet. Er besuchte das Volkskundemuseum und das Staatsarchiv, er studierte Akten und Reglemente und las alte Dokumente. Die Volkskundlerin, Frau Eder, half ihm, die Sammlung zu erfassen und die einzelnen Stücke genau zu klassifizieren. Sie habe viel Wissen eingebracht, von ihr habe er viel gelernt. Er sei ein blutiger Anfänger gewesen, er hätte nichts bis wenig gewusst, resümiert er. Seine Frau unterstützte ihn vollumfänglich in seiner Leidenschaft. Das Sammelfieber hatte ihn wie jeden Sammler gepackt. Am Freitagabend nach Dienstschluss widmete er sich seiner Sammlung, nachts brachte ihm seine Frau Kaffee und bat ihn, morgens um sieben Uhr zu Hause zu sein, sie wollten miteinander einkaufen gehen. Der ehemalige Bestatter zahlte über Jahre die Scheunenmiete für die wachsende Sammlung aus eigener Tasche.
Die verschiedenen Urnen in den Vitrinen erzählen die Geschichte ihrer Herkunft. Es gibt verschiedene Kategorien, unterschiedliche Formen, mit und ohne Verzierungen. Sie waren von Land zu Land, von Kanton zu Kanton unterschiedlich. In Gallers Sammlung finden sich auch Urnen aus Übersee: so zum Beispiel aus Afrika oder auch den USA. Letztere sieht aus wie eine Kaffeebüchse aus Omas Zeiten. Sie zeugen von wachsender Mobilität der Gesellschaft. Mit seiner Frau reiste Galler nach Mexiko, Guatemala, Israel, in die Sinaiwüste. Sie waren beide kulturgeschichtlich sehr interessiert. Er will heute bei der älteren Generation noch so viel Wissen wie möglich über das kulturelle Brauchtum rund um den Tod und die Bestattung abholen. Mit deren Tod gehe dieses wertvolle Wissen verloren. Das sei schade. Für ihn sei dieses Wissen sehr lehrreich. Er selber ist Mitglied der Tragbrüder in Basel. Die Begräbnisgesellschaft «Basel/Gerbergass-Traggesellschaft» wurde im Jahr 1800 gegründet. Die Gesellschaft pflegte «nicht nur im Leben treue Freundschaft und Geselligkeit», sondern stellt sich die Aufgabe «selbst noch beim Tod eines Mitgliedes durch Tragen und Begleiten der sterblichen Hülle zur letzten Ruhestätte, liebevoll und hilfreich mitzuwirken.»2
Im ehemaligen Ofenraum gibt es eine Vitrine mit orthopädischen Überbleibseln, die nach der Verbrennung der Leichen zurückblieben: Gelenkpfannen, Hüftgelenke, Kniegelenke, Knochenplatten, Herzschrittmacher. Das ist auch ein Teil der Bestattungswirklichkeit. Ebenso zur Bestattungsrealität gehören all die Geräte für die Friedhofspflege, die in der neuen Halle zu sehen sind.
Aktuell schreibt der ehemalige Bestatter an einem Buch über die Sammlung. Es sei bald fertig. Im Buch dokumentiere er alle Gegenstände der Sammlung und erzähle die Entstehung der Sammlung. Die Finanzierung der Druckkosten stehe noch aus, erklärt er. Selber möchte er noch zehn Jahre weitermachen. Seit sechzig Jahren sammelt er – mit viel Herzblut und eiserner Disziplin. Letzteres wird von Galler betont. Sein Wunsch ist, dass das Museum klein und bescheiden bleibt. Der 1994 gegründete Verein wird für dessen Erhaltung und Pflege sorgen.
Dank seiner Faszination für die Trauer- und Begräbniskultur und seiner Sammelleidenschaft bekommen viele Menschen einen spannenden Einblick in die Zeit- und Kulturgeschichte anhand der Bestattungskultur. Peter Galler fährt mich nach der privaten Führung in die Stadt. Am Wettsteinplatz, wo heute die Fahrstrasse über einen ehemaligen Gottesacker der Stadt Basel führt, steige ich ins Tram, das mich auf die andere Seite des Rheins bringt.
Maria Hässig