Theologische Anfragen an die Begräbniskultur

Peter Spichtig beleuchtet verschiedene Akzentverschiebungen bei den Abschiedsfeiern und deren Auswirkungen. Er plädiert für eine neue Profilierung des christlichen Beerdigungsgottesdienstes.

Wer die Riten und Texte der kirchlichen Begräbnisliturgie auf ihre theologischen Gehalte abklopft, der nimmt eine zunehmende Spannung zu den weitgehend unreflektierten, diffusen allgemeinen Erwartungen wahr, die Hinterbliebene an eine Abschiedsfeier für eine verstorbene Person richten. Die Kirchen haben sich lange in diesem Spagat geübt. Uns ist längst selbstverständlich, dass uns im Zuge der umfassenden kulturellen Umwälzungsphänomene der letzten Jahrzehnte die Deutungshoheit über die Lebenswenden abhandengekommen ist. Nachvollziehbar ist auch, dass man in der Pastoral vielen Bedürfnissen entgegengekommen ist, die sich gerade in den Ritualen rund um Abschied, Tod und Trauer recht weit von den traditionellen Riten entfernt haben. Angesichts des erwachenden Nachdenkens über eine erneuerte Weise des verbindlichen christlichen Gemeindelebens, treibt mich die Frage um, wie wir die Essentials einer christlichen Begräbniskultur weiter pflegen können.1

Einüben des eigenen Sterbens

Rituale und liturgische Riten geben einen objektiven Rahmen vor. Objektiv in dem Sinne, dass eine klare Form Kohärenz der theologischen Botschaft garantiert und Wiedererkennung, emotionale Beheimatung und damit den innerlichen Mitvollzug ermöglicht. In der Begräbnisfeier geht es um das Einüben des eigenen Sterbens als Mitfeiernde, um die Ars moriendi. Riten des Übergangs sind anthropologisch wichtig und für eine Kultur konstitutiv, besonders im Todesfall. Denn mit dem Tod sind alle überfordert. Das Ritual des Abschiednehmens gehört delegiert. So wie der oder die Tote nicht sich allein gehört hat und auch nicht bloss den Familienangehörigen, ist es Sache des Gemeinwesens, den Betroffenen beim Umgang mit dem Leichnam zu helfen. Im freien Markt des Ritualdesigns hat sich die Kirche selbstbewusst mit einem theologisch reflektierten rituellen Angebot zu profilieren, das flexibel genug ist, nicht starr und befremdend zu wirken, und genügend eindeutig und wiedererkennbar, dass es eine Ars moriendi ermöglicht.


Beten für die verstorbene Person

Die Liturgie legt den Fokus auf das Gebet für die verstorbene Person, während die Trauergemeinde eher eine Form der Erinnerung an diese Person erwartet. Im Glaubensbewusstsein, dass jeder Mensch, obschon getauft, eben doch Sünder ist, wird im Begräbnisritus dafür gebetet, dass die verstorbene Person vor Gott Gnade und Barmherzigkeit findet. Die Liturgie verwendet hierfür seit jeher Bilder und Zeichen. In allen Rituselementen und Gebeten kommt die Hoffnung zum Ausdruck, dass die verstorbene Person geläutert werde und an der Auferstehung Jesu Christi teilhabe. Die nicht zu unterschätzende Kraft des klassischen Duktus des deprekativen Gebets besteht für Unsichere oder Distanzierte darin, dass sie sich innerlich dazu verhalten können, ohne vereinnahmt zu werden. Betet die liturgische Vorsteherin stellvertretend für die verstorbene Person, nötigt sie niemanden zu irgendeiner Handlung, lädt aber indirekt dazu ein, sich dieses Gebet zu eigen zu machen. Die Anwesenden sind frei, dies zu tun oder sich innerlich davon zu distanzieren. Je expliziter der Vorsteher die Trauergemeinde als Subjekt direkt anspricht und vor allem ihre Trauer zum Gegenstand der Veranstaltung macht, desto vereinnahmender und potenziell übergriffiger kann dies von den Einzelnen erfahren werden.

Mehr Anamnese, weniger Biografie

Begräbnisfeiern werden bisweilen exzessiv individualisiert. Dabei gerät das Gebet für die verstorbene Person leicht aus dem Fokus. An seine Stelle tritt die biografische Erinnerung. Diese ist kategorial verschieden vom Genre des liturgischen Gedenkens, das immer Gottes Heilshandeln zum Thema hat: die Anamnese. Demgegenüber dient das Erinnern an die verstorbene Person mittels Anekdoten und Aufzählung ihrer Lebensstationen dazu, uns diesen lieben Menschen vor dem geistigen Auge nochmals präsent zu setzen. Dies hat eher den Effekt, ihn zurückzuhalten als ihn loszulassen. Es ist eine starke Verschiebung weg von traditionellen Trennritualen hin zu Bleiberitualen festzustellen (Reiner Sörries). Das deutlichste Trennritual ist das Herunterlassen des Sargs und der Erdwurf. Hier wird drastisch vor Augen geführt, dass der verstorbene Mensch definitiv vom Bereich des Lebens getrennt wird. Die christlichen Symbole des Weihwassers, des Kreuzes und des Weihrauchs verdeutlichen die Hoffnung, dass es zum Verstorbenen über den Tod hinaus eine bleibende Gemeinschaft gibt.

Die Tendenzen hin zu immer stärkeren emotionalen Erinnerungssequenzen in der Gestaltung von Abschiedsfeiern sind inzwischen in der Mitte des katholischen Ritus angekommen. Was traditionell nachgelagert war – das Austauschen beim Leichenmahl und der Nekrolog in der Zeitung zum Dreissigsten – ist jetzt Hauptbaustein der Begräbnisliturgie. Dabei fällt auf, dass die Eschatologie Schaden nimmt. Es gibt eine deutliche Tendenz hin zur «Heiligsprechung» der Verstorbenen zu Ungunsten des Gebets für sie. Dieser Tendenz müsste die theologisch verantwortete Gestaltung der Feier entgegenwirken. Wird ein kirchliches Begräbnis gewünscht, steht die Amtsperson in der Pflicht, die Deutungsperspektive dieses Abschiednehmens klar und deutlich aufzuzeigen. Ihr Auftrag ist Mystagogie, nicht Nostalgie. Natürlich sollen biografische Elemente in die Feier einfliessen. Aber der Modus ist die Feier des Glaubens: Eine Gemeinschaft von Menschen ist durch das Ereignis des Todes zusammengekommen, um die verstorbene Person Gott anzuvertrauen. Der Hauptadressat der Begräbnisfeier ist weder der oder die Verstorbene noch die Trauergemeinde, sondern Gott. Von seinen Heilstaten muss berichtet werden, um einen Raum zu eröffnen, in dem die Hoffnung sich entfalten kann, dass der Tod die uns zugewandte Seite jenes Ganzen ist, dessen andere Seite Auferstehung heisst, wie es Romano Guardini grossartig auf den Punkt brachte.

Was für die Erdbestattung spricht

Das wohl signifikanteste Beispiel für die riesige Spannung, in die wir hineingeraten sind, ist die schiere Anzahl der Feuerbestattungen. Theologisch gibt es für die Feuerbestattung nicht den Hauch eines positiven Anknüpfungspunktes. Im Gegenteil: Die gesamte christliche Kultur im Umgang mit Tod und die damit einhergehende Frömmigkeitstradition beruhen auf der Erdbestattung des Leichnams, der als Realsymbol der verstorbenen Person verstanden wird und gemäss dem Beispiel Christi, der drei Tage im Grab gelegen hat, entsprechend würdig behandelt wird. In gegen 95 Prozent der Beisetzungsfeiern auf Deutschschweizer Friedhöfen finden de facto höchst abstrahierte Veranstaltungen statt: Die drei manifestesten, physisch eindringlichsten Elemente einer klassischen Begräbnisfeier fallen für den Deutungs- und Trauerprozess weg: die Begleitung des verstorbenen Menschen auf seinem letzten Weg auf Erden, der Leichnam selbst und das Absenken des Sarges. Dass sich demgegenüber in der Urne die Asche der verstorbenen Person befindet, «weiss» die Trauergemeinde einzig und allein über den Kopf. Ist der Leichnam Realsymbol der verstorbenen Person, kann man eine Urne kaum mehr als ein Zeichen eines Zeichens bezeichnen, das auf ein Symbol verweist: das Behältnis steht für den Inhalt, der wiederum dafür steht, was dieser vor dem endgültigen Zerstörungsprozess war: ein Leichnam.

Je unsicherer oder schüchterner das Glaubensbekenntnis wird, desto wichtiger wäre, dass die nonverbalen Elemente solcher Rites de passages wenigstens bewusst und gemeinschaftlich vollzogen würden, um quasi archaisch-anthropologisch diese Trennung nachvollziehen zu können.

Impulse für eine Profilierung

Die Megatrends vermögen wir nicht aufzuhalten. Im Sinne einer eingangs angedeuteten sanften Profilierung der Essentials einer christlichen Begräbniskultur gebe ich folgende Impulse: theologisch verantwortlich die Hoffnung bezeugen und Gott und die Menschen frei lassen; dem Kerygma der Auferstehung den Vorrang vor biografischen Anekdoten geben; ein konfessionelles Profil einüben und den Mut haben, auf säkulare Ritualbegleiter hinzuweisen, wenn ein explizit christliches Bekenntnis nicht erwünscht ist; ein lokal adaptiertes, untereinander abgesprochenes und kohärentes, stabiles Ritualdesign pflegen; so anthropologisch-sinnlich, aber auch so redlich wie möglich feiern; die klassischen Essentials wie die Würdigung des Leichnams, der letzte Weg und das Trennritual nach Möglichkeit wahren; die klassische Erdbestattung aktiv fördern; die Ars moriendi als fortwährendes, offenes und mit Auferstehungshoffnung konnotiertes Thema in der Pfarreikultur pflegen.

Peter Spichtig

 

1 Ich kann derzeit nur dazu beitragen, die Spannung redlich auszuleuchten. Konkrete Anregungen traue ich mich am Ende nur in Andeutungen. Ich hoffe, dass diese von geneigten Leserinnen und Lesern praktisch reflektiert, entfaltet und weiterentwickelt werden.


Peter Spichtig OP

Peter Spichtig OP (Jg. 1968) stammt aus Sachseln OW. Er studierte in Freiburg i. Ü. und Berkeley (USA). Nach einigen Jahren in der Pfarreiseelsorge arbeitet er seit 2004 beim Liturgischen Institut der deutschsprachigen Schweiz.

 

BONUS

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