«Nächstenliebe ist die schönste Schnittmenge»

Gesundheit und Krankheit sind lebensbestimmend – ebenso wie für viele Menschen Religion und Spiritualität. Was hilft wirklich? Medizin oder Religion? Der Mediziner Urs Pilgrim ist überzeugt: beides!

Die kunstvolle Darstellung des menschlichen Skeletts aus «De Humani Corporis Fabrica Libri septum» von Andreas Vesalius. Das Werk wurde 1543 in Basel gedruckt. (Sammlung Museum für medizinhistorische Bücher, Muri AG)

 

SKZ: Wie kamen Sie darauf, ein Buch über Medizin und Religion zu schreiben?
Urs Pilgrim: Bei der Betreuung von Kranken habe ich immer wieder erlebt, dass der Glaube einen wichtigen Beitrag zum Gesundwerden und Gesundbleiben leisten kann. Deshalb interessiere ich mich seit Jahrzehnten für die vielfältigen und spannenden Schnittmengen zwischen Medizin und Religion.

Warum steht das Kloster Muri im Fokus?
Ich bin in Muri aufgewachsen und ich war schon als Ministrant fasziniert von dieser beeindruckenden Klosteranlage. Später hatte ich in verschiedenen Gremien auf kommunaler und auf kantonaler Ebene die Gelegenheit, wichtige kulturelle Entwicklungsschritte in der Klosteranlage aufzugleisen.

Wie gingen Sie bei der Recherchearbeit vor?
Während meiner 32-jährigen Praxistätigkeit in Muri machte ich mir zu besonders anregenden Patientengesprächen Notizen. Im Austausch mit meiner Gattin und in Diskussionen mit Berufskollegen und mit Theologen vertiefte ich mein Wissen über die Schnittmengen zwischen Medizin und Religion. Sehr wichtig waren zudem ein intensives Literaturstudium, Kultur- und Bildungsreisen und der Besuch von Referaten und Tagungen.

Gab es überraschende Erkenntnisse?
Ja, nämlich dass sowohl in der christlich-theologischen Literatur als auch in der pastoralen Praxis der Verkündigung des Reichs Gottes, dem Kreuzestod und der Auferstehung Jesu die allergrösste Aufmerksamkeit gilt. Die Heiltätigkeit Jesu findet vergleichsweise wenig Beachtung. Dabei war die Behandlung von Kranken und Hilfsbedürftigen ein wichtiges Anliegen Jesu. An der erfolgreichen Heiltätigkeit soll sogar erkennbar sein, wer an Jesus glaubt: «Denen aber, die zum Glauben kommen, werden diese Zeichen folgen: «In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben […] Kranke, denen sie die Hände auflegen, werden gesund» (Mk 16,17 f.). Soll deshalb unser christliches Wirken nicht vor allem heiltätig und heilbringend sein? Dafür ist kein Medizinstudium nötig, denn unser christliches Heilmittel ist die Nächstenliebe. Liebe kann nicht nur Berge versetzen, sondern auch Kranke heilen.

Was kann die Medizin von der Religion lernen?
Glaube kann zum Gesundwerden und Gesundbleiben beitragen. Religiöser Glaube kann eine geistige Heimat sein, die Sinnfindung und Orientierung im Leben erleichtert und damit das Wohlbefinden fördert. Gottesdienste und religiöse Rituale vermitteln Geborgenheit und Gemeinschaftserlebnisse. Deshalb sollen Patienten, die ihren Glauben und ihre Religion als hilfreich erleben, darin unbedingt unterstützt werden.

Und umgekehrt?
Vertreterinnen und Vertreter der Medizinalberufe stellen sich Tag für Tag die Frage: Wie können wir den uns anvertrauten Patienten am besten helfen? Analog sollten sich auch Seelsorgerinnen und Seelsorger, aber auch religiöse Entscheidungsträger immer wieder fragen, wie sie ihren Gläubigen am besten dienen und helfen können. Es ist sehr erfreulich, dass Papst Franziskus den Menschen und seine Bedürfnisse wieder mehr ins Zentrum rückt als die akademische Theologie. «Den Menschen dienen, nicht Ideologien», mahnte er 2015.

Und wo sind nun die gemeinsamen Schnittmengen auszumachen?
Die schönste und wichtigste Schnittmenge zeigt sich über alle Jahrhunderte in der Nächstenliebe. Für Jesus war sie das höchste Gebot und damit gleich wichtig wie die Gottesliebe (Mk 12,28-34). In diesem karitativen Geist leisteten und leisten bis heute Millionen von Christinnen und Christen Herausragendes für Kranke und Hilfsbedürftige. Ich wage sogar die Behauptung, dass diese christliche Nächstenliebe alle anderen Leistungen übertrifft, auf die wir Christen stolz sind. Der berühmte Schweizer Arzt Paracelsus reduzierte die im 16. Jahrhundert empfohlenen rund tausend Heilanwendungen und Arzneien auf wenige Dutzende. Die Frage eines Schülers, welche nun die Allerwichtigste sei, antwortete er: «Liebe ist die höchste aller Arzneien.»

Interview: Brigitte Burri

 

Buchempfehlung: «Was hilft? Medizin und Religion in Bildern aus dem Kloster Muri». Von Urs Pilgrim. Zürich 2020. ISBN 978-3-290-20191-3, CHF 34.80. Edition NZN bei TVZ, www.tvz-verlag.ch


Urs Pilgrim

Dr. med. Urs Pilgrim (Jg. 1945), ist Facharzt FMH für Innere Medizin und Rheumatologie. Von 1980 bis 2012 war er in seiner hausärztlichen und spezialärztlichen Praxis in Muri AG tätig, mit rheumatologischer Konsiliartätigkeit im Spital Muri. Von 2005 bis 2016 war er Stiftungspräsident von «Murikultur». (Bild: zvg)

 

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