Neuerscheinungen in Theologie zur Coronapandemie

Rezension zu: Striet, Magnus, Theologie im Zeichen der Corona-Pandemie. Ein Essay, Mainz 2021, 128 S.

Das schmale Bändchen von Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie und philosophische Anthropologie an der Universität Freiburg i. Br., ist keine leichte Kost. Wer sich darauf einlässt, muss bereit sein, intensiv, genau und kritisch mitzudenken. Der Autor behandelt schwierigste theologische Fragen aus verschiedenen Perspektiven, denkt weiter, wo andere zu denken aufhören.

Man kann das Buch in drei Teile gliedern. Die Kapitel I – III behandeln theologische Antworten auf die Coronapandemie, die nach Meinung des Autors unbefriedigend sind. Kapitel IV «Wie von Gott reden – nach der Pandemie? Ein Versuch» ist das Herzstück des Buchs. Hier beschreibt der Autor seine eigene theologische Position. Ein Epilog mit dem Titel «Et incarnatus est» rundet den Essay ab.

Fragwürdige theologische Antworten auf die Pandemie (Kap. I – III)

Die kritische Darstellung fragwürdiger theologischer Antworten auf die Pandemie umfasst fast die Hälfte des gesamten Buchs. Interessant und wohl auch zutreffend ist die Beobachtung des Autors, dass grundlegende theologische Fragen zur Pandemie, vor allem die Gottesfrage, kaum angegangenen werden. Erwähnt und kritisch beleuchtet werden folgende theologischen Ansätze:

  • These: Corona: Keine Strafe Gottes für sündhaftes menschliches Verhalten, aber ein Problem, das sich der Mensch durch masslose Ausbeutung der Natur und durch grenzenlose Selbstüberschätzung selbst eingebrockt hat. Kann man, so fragt der Autor, dem Menschen wirklich die volle Verantwortung für die Pandemie geben? Tut man es vielleicht, um Gott zu entlasten? Wenn Gott die alles umgreifende Wirklichkeit ist, hat er mit dem Virus zu tun, letztlich auch mit dem Fehlverhalten des Menschen. Die Vorstellung von der Ursünde des Menschen und der darauf folgenden Bestrafung durch Gott ist nach Meinung des Autors durchaus noch, wenn auch verdeckt virulent und theologisch keineswegs aufgearbeitet. Die Bruchstellen reichen bis in die Gnadenlehre.
     
  • These: In der Pandemie sollte man Gott intensiv um Hilfe bitten. Dazu der Autor: Gott in der Pandemie um Hilfe bitten macht durchaus Sinn, denn Gott ist für den Menschen ein «Sehnsuchtswort» (97). Zielen die Bitten aber darauf ab, dass Gott in die Gesetzlichkeit der Natur eingreift, macht das keinen Sinn, weil Gott das zwar könnte, aber nicht will. Der Virus ist ein Teil der von Gott in die «Freiheit» entlassenen Natur. Hat Gott zuviel mit seinem Schöpfungswerk riskiert?
     
  • These: Die Pandemie ist eine Gelegenheit, sich voll und ganz für das Wohl anderer Menschen aufzuopfern. Dazu Magnus Striet: Das Martyrium war und ist nicht selten mit heilsegozentrischen Absichten verbunden. Ausserdem: «Der*die Christ*in stirbt mit Christus und steht mit ihm auf. Was soll das heissen?» (56) Bei dieser Frage bleibt es. Der Autor kann offenbar der Selbsthingabe für andere theologisch wenig abgewinnen, Paulus und seine Sündentheologie stecke dahinter. Nicht er, sondern Hiob sei der Theologe des 21. Jahrhunderts. (56 f)

Mehr als die skizzierten theologischen Antworten auf die Pandemie überzeugen den Autor Zeugnisse von Dichtern. Sie liefern keine fertigen Antworten, aber klare und ehrliche Positionen. Erwähnt werden Robert Gernhardt und Giovanni Boccaccio, der angesichts der 1348 in Florenz wütenden Pest von der «Grausamkeit des Himmels» sprach.

Magnus Striet fasst das Ergebnis seiner in Kap. I – III zusammengetragenen Beobachtungen wie folgt zusammen: «Es braucht schon gute Gründe auf Seiten Gottes, dass er Pestbazillen und auch das Coronavirus zulassen konnte und er die Möglichkeiten solcher Epidemien nicht mit seiner Allmacht unterband. Es müsste ihm doch ein Leichtes sein, zu verhindern, dass Bakterien und Viren die Menschen in Ängste versetzen […] Hart nachgedacht, kann man erhebliche Zweifel bekommen, dass er beides, allgütig und auch noch allmächtig sein soll. Oder aber existiert dieser Gott gar nicht?» (58f) «Wenn ein Gott akzeptabel sein soll für das menschlich moralische Gefühl, dann muss er anders gedacht werden als dies in der Tradition geschah, die in der Vorstellung einer unfasslichen Sünde des Menschen ihr theologisches Konstruktionsprinzip zur Entlastung Gottes entdeckte.» (80 f) 

Im 2. Teil des Buchs entwickelt Magnus Striet seine eigene theologische Position. Folgende Argumentationsstränge lassen sich erkennen:

  • These: «Vor Gott und mit Gott leben wir ohne Gott.» (120) Dieser bekannte Satz Dietrich Bonhoeffers will interpretiert sein. Magnus Striet: «Diese Welt existiert theologisch ausgedeutet […] insofern in Gott, als er sie in ihren Gesetzmässigkeiten erhält. Es gibt demnach auch nichts, was nicht streng auf ihn bezogen wäre und auch nur deshalb ist, weil er die Weltzusammenhänge erhält.» Gleichzeitig hält der Autor fest, dass es Pandemien gibt, weil Gott sich von Anfang der Schöpfung an entschieden hat, nicht mehr in die Gesetzmässigkeiten einer sich entwickelnden Welt einzugreifen. (121) Ausdrücklich hält er fest, dass Gott als allmächtiger Gott durchaus eingreifen könnte, es aber nicht tut, sondern «wartet».
     
  • These: «Der Gottesbegriff ist […] so zu entwickeln, dass an Freiheit als Prinzip festgehalten werden kann.» (114 f) Dieses (von der Transzendentalphilosophie Schellings inspirierte) Vorhaben bildet das theologische Herzstück des Buchs. Die Argumentationsketten sind streckenweise äusserst spekulativ. Sie enden in der Feststellung, «dass es die Sehnsuchtsstruktur der menschlichen Vernunft ist, die dazu anhält, an der Vorstellung des freien Gottes festzuhalten, der in seiner bleibenden Allmacht diesen Sehnsüchten entgegenkommt.» (117) Dieser Gott ist als der Schöpfergott zu glauben – «was aber unter modernen Wissensbedingungen bedeutet: als der Gott, der durch Selbstkontraktion einem expandierenden Universum Raum gegeben hat» (116) und dabei (um eine Lieblingsformulierung des Autors zu zitieren) «unendlich warten» kann und dabei viel (an Leid und Schuld) riskiert. (119)

Wenn der Autor seine Überlegungen «kurz und knapp» mit einem Epilog unter dem Titel «Et incarnatus est» abschliesst, ist man gespannt, was er dem Gesagten wohl beifügen wird. Magnus Striet betont, dass die Menschwerdung Gottes in Jesus bedeutet, dass Gott sich den naturwissenschaftlich beschreibbaren Prozessen der Natur unterwirft – ein höchst riskantes Unterfangen, das «dem Virusgeschehen und überhaupt den Prozessen der Natur keinen Einhalt» (126) bietet. Das zu tun bleibt die Aufgabe des Menschen. Das Buch endet mit der schönen Schlussbemerkung: «Aber wer diesen Gott glauben und d. h. verinnerlichen kann, darf darauf hoffen, dass nicht die Biologie das letzte Wort über ihn und seine Sinnbedürfnisse hat.» (127) «Die Natur ist nicht schön, aber sie kann als schön und zweckmässig erlebt werden… Soll dies alles am Ende doch als ein Fingerzeig interpretiert werden dürfen, dass ein Gott dies alles riskiert hat? Wir wissen es nicht. Schön wäre es.» (127f)

Nach der Lektüre holt man gerne (zur Vertiefung) eine Schrift zur Weltdeutung von Teilhard de Chardin oder von Simone Weil aus dem Bücherregal oder meditiert ein Zeugnis des wie Bonhoeffer von den Nazis ermordeten P. Delp: «Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen.  Das gilt für alles Schöne und auch für das Elend. (Hervorhebung W.B.) In allem will Gott Begegnung feiern und will die anbetende, hingebende Antwort“. (November 1944, Berlin-Plötzensee) Das ist «knieende Theologie» (Hans Urs von Balthasar), die Magnus Striet (ärgerlicherweise) zu Beginn des Buchs lächerlich macht. Auf seine Hinrichtung wartend schreibt P. Delp in seinem Abschiedsbrief: «Wie lange ich nun hier warte, ob und wann ich getötet werde, weiß ich nicht. Der Weg hierher bis zum Galgen nach Plötzensee ist nur zehn Minuten Fahrt. Man erfährt es erst kurz vorher, dass man heute und zwar gleich ‚dran‘ ist. Nicht traurig sein. Gott hilft mir so wunderbar und spürbar bis jetzt. Ich bin noch gar nicht erschrocken. Das kommt wohl noch. Vielleicht will Gott diesen Wartestand als äußerste Erprobung des Vertrauens. Mir soll es recht sein. Ich will mir Mühe geben, als fruchtbarer Samen in die Scholle zu fallen, für Euch alle (Hervorhebung W.B.) und für dieses Land und Volk, dem ich dienen und helfen wollte.» (Berlin-Plötzensee, 02. Februar 1945) Et incarnatus est, crucifixus etiam pro nobis, Ausdruck von Heilsegoismus?

Wer das Buch von Magnus Striet wirklich durcharbeitet, wird erfahren, dass kritische philosophisch-theologische Spekulation für die Klärung und die Verantwortbarkeit gläubiger Einstellungen auch zur Pandemie wichtig sind. Das ist die starke Seite des Buchs. Gleichzeitig ist man erstaunt, wie wenig abstrakte Begriffsarbeit wirklich neue Erkenntnisse freisetzt. Bonhoeffers Überzeugung von der Autonomie der weltlichen Wirklichkeit ist bekannt. Spannend und hilfreich wäre es, sein «vor und mit Gott» näher zu erforschen. Ansätze dazu gibt es zwar auch bei Magnus Striet (die Schöpfung, durch Gott fortwährend erhalten und menschliche Freiheitserfahrung als Erfahrung der freilassenden Freiheit Gottes), aber man fragt sich, was übrig bleibt, wenn zwei Freiheiten einander freilassen. Warum braucht es da noch dieses «Et incarnatus est»? Was bedeutet dieses «Et incarnatus est», wenn man Paulus mit seiner Theologie von Sünde und Erlösung nicht mehr glaubt?  Warum unterwirft sich Gott in der Menschwerdung der weltlichen Wirklichkeit, die er nicht ändern kann, weil er sie nicht ändern will? Will er sie wirklich nicht verändern? Will er sie vielleicht doch verändern, indem er sie in Liebe zum Menschen erträgt? Dann stünde allerdings nicht mehr Gott vor dem Gericht der menschlichen Vernunft, auch nicht der sündige Mensch. Dann hätten Liebe und Barmherzigkeit das letzte Wort. Wie könnten sie vor der kritischen Vernunft bestehen?

Eine letzte Frage: Was nützt der Gedanke an Gottes Allmacht, wenn er diese vom Menschen nur ersehnen lässt, aber nicht wirklich und konkret (heilsgeschichtlich) von Gott einsetzen lässt? Setzt er sie nur, wie der Autor nahelegt, durch den Erhalt der vorliegenden Verhältnisse um, stehen wir am Anfang des Problems, nur reicher um eine weitere Spekulation.

Der Schluss des Buchs ist schön, weil dort die Sehnsucht des Menschen als Einfallstor für Gotteserfahrung auch in schwierigen Zeiten spürbar wird. Das Buch würde gewinnen, wenn es mehr von solchen Erfahrungen enthielte. Die wertvollen kritischen Hinweise würden dadurch nicht überflüssig, aber leichter nachvollziehbar. Denn Denken beginnt nicht erst in der Abstraktion, sondern in der achtsam wahrgenommenen Erfahrung. Diese findet sich nicht nur bei Poeten im Umfeld des Glaubens (nicht unerwähnt bleiben sollte der Leid sensible Leonard Cohen), sondern auch in jüdisch-christlichen Glaubens- und Leidenszeugnissen – was Magnus Striet sicher nicht bestreiten würde.

Wolfgang Broedel


Rezension zu: Körner, Reinhard, Was mich bewegt. Unsere Chance in einer schweren Zeit, Leipzig 2021.

P. Reinhard Körner OCD beschreibt die Chancen, die die Coronakrise für jeden Einzelnen, für die Gemeinschaft der Kirche, für die (westliche) Gesellschaft und für die Menschheit mit sich bringt. Es handelt sich um Empfehlungen. Ob und wie diese genutzt werden, wird sich zeigen. Wird nichts getan und nichts dazu gelernt, drohen die alten Probleme verstärkt wieder aufzutreten.

Der Autor entwickelt seine Sichtweise in 9 Thesen: 1 Wir sind nicht die Grössten 2 Wir sind auf unser Haus, die Erde angewiesen 3 Wir sind mit Vernunft begabt und zu lieben fähig – eigentlich 4 Was uns verbinden kann, ist Hören auf Weisheit 5 Wir dürfen hinter die Entdeckung Gottes nicht mehr zurück 6 Gottes «Volk» ist die Menschheit 7 Jesus von Nazareth ist «Kulturerbe» der gesamten Menschheit 8 Aufräumen ist dran! 9 In den Demokratien wird Liebe zur Weisheit heranreifen müssen. – Die Titel der einzelnen Thesen sind unterschiedlich «aufregend», aber in ihrer Ausführung immer spannend, konkret und breit abgestützt.

Besonders am Herzen liegt P. Körner das Hören auf Weisheit, eine Art von Grundspiritualität, die es nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft zu entdecken, zu lernen und zu pflegen gilt. Das Hören auf Weisheit ist ein tiefes Hören auf Wahrheit und Liebe. Es verbindet alle Menschen und alle Religionen. Weisheit kann man nicht machen, sich «nur» für ihre «Stimme» öffnen. Weisheit kennt viele Wege, um zum Menschen zu sprechen. Immer braucht es ein hörendes Herz. Der Autor vergleicht das Hören auf Weisheit mit einem Blindenführer, der unser Denken und Lieben vor Abstürzen bewahrt. Hören auf Weisheit ist eine Grundkompetenz für die Erneuerung und die nachhaltige Entwicklung auf allen Gebieten. Deshalb sollte sie u. a. fest in den Bildungskanon aufgenommen werden. (Vgl. 31, 79)

Hören auf Weisheit ist in der Tiefe, so P. Körner, Hören auf Gott. Die Coronakrise bietet gläubigen Menschen die Chance, das immer noch wirksame dualistische, ambivalente Gottesbild zu überwinden und nach dem liebenden Gott auch in schwerer Zeit zu suchen. Ohne unbedingtes Gottvertrauen geht das nicht. Die Coronakrise bietet Christinnen und Christen auch die Chance, ihr Bild von Gott (endlich) trinitarisch zu vertiefen. Ob sich die säkulare Gesellschaft diesen Positionen anschliesst, wäre zu erkunden. Jedenfalls kann, auch aus kirchlich-theologischer Sicht, Gott zum Thema aller Menschen werden. Das setzt ein offenes, weites Verständnis von Kirche (»Gottes Volk ist die Menschheit») und ein offenes, weites Verständnis von Gott voraus («Und dabei werden wir auch etwas voneinander lernen können, die Religiösen von den Religionslosen, die Religionslosen von den Religiösen und die eine Religion von der anderen»). (55)

Der Hinweis auf Jesus, der «Kulturerbe der gesamten Menschheit» ist und ein Lebenskonzept für die Welt anbietet, kann nach P. Körner auch von Nichtchristen akzeptiert werden. Letztlich führt auch dieser Zugang zu Gott, mit dem Jesus in einer unüberbietbar engen Beziehung steht, ohne die seine unbedingte Liebe zu den Menschen nicht zu verstehen ist.

Die Thesen 1 – 3 beschäftigen sich mit dem (neurotischen) Grössenwahn des Menschen. These 8 «Aufräumen»! greift (unausgesprochen) den im Westen beobachtbaren Trend zum Minimalismus auf. P. Körner nennt einige Beispiele dafür, dass die Rückkehr zum Einfachen und Wesentlichen auch für die Kirche ansteht: «Prüfet alles und behaltet das Gute!» (1 Thess 5,21). (67) Erwähnt wird vor allem das Gottesverständnis, das von objektivierenden und ambivalenten Fehlentwicklungen zu reinigen sei. Aufräumarbeiten stünden auch beim Amtsverständnis, der Abendmahlspraxis, beim Bibel- und Sakramentenverständnis, bei der Gebets- und Liturgiepraxis an (68-71). Dafür brauche es «gute» Theologen und Theologinnen: «Theologe ist, wer sich dem `theos` - Gott selbst – zuwendet, mit ihm in einer persönlichen, wenn auch noch so armseligen inneren Beziehung lebt, alle seine `Logie` an Jesus und seiner Botschaft misst und ihm dabei in die Augen schaut.» (71) Das «Aufräum-Kapitel» schliesst mit der kritischen Bemerkung, dass viele Gemeinden und Pfarreien in der Coronakrise nur darauf warteten, im gewohnten Stil weitermachen zu können. Viele Chancen für eine innere Erneuerung der Gottesdienstpraxis würden dadurch vertan. (72)

Im letzten Kapitel wendet P. Körner sein Postulat nach einer Grundspiritualität, die Hören auf Weisheit meint, auf das Demokratieverständnis an. Es brauche dabei einen festen Entschluss: «Es mag mir ruhig Schaden geschehen. Geschieht nur dem Geist der Wahrheit kein Leid.» (Eva Strittmatter, Zwiegespräch) (80)

P. Reinhard Körner gibt dem Leser und der Leserin ein Skizzenbuch an die Hand. Vieles wird in Umrissen angedeutet: als Einladung zum Weiterzeichnen. Die Grundausrichtung des Buchs ist klar: Die Coronakrise ist ein Zeitzeichen, mit einer umfassenden geistlichen Erneuerung in Kirche, Gesellschaft und Welt zu beginnen. Wer das im Buch Angedeutete ausführlicher dargestellt haben möchte, findet es in den zahlreichen Veröffentlichungen von P. Körner.

Jedes Buch berührt jeden Menschen anders. Mich hat (u. a.!) der Abschnitt «Weisheit oder Torheit» (79) animiert, wieder einmal in das «Lob der Torheit» von Erasmus von Rotterdam hineinzuschauen. Hier lernt man mit Witz und Esprit, wie Torheit die wahre Weisheit, eingebildete Weisheit hingegen Torheit ist. (Vgl. 1 Kor 1, 25 u. ö.) Für mich wäre das «Lob der Torheit» von Erasmus Pflichtlektüre für alle, die sich um Bildung, verstanden als «Heranbildung der eigenen Urteilsfähigkeit» (78) bemühen.

Wolfgang Broedel


Rezension zu: Kasper, Walter Kardinal / Augustin, George (Hg.), Christsein und Corona-Krise. Das Leben bezeugen in einer sterblichen Welt. Mit einem Geleitwort von Papst Franziskus, Mainz 42021.

Das vorliegende Buch enthält zehn Beiträge zur Coronakrise aus der Sicht von Theologie, Philosophie, pastoraler Praxis und eigener Erfahrung. Ein Geleitwort von Papst Franziskus eröffnet den Band, ein kurzes Nachwort von Walter Kardinal Kasper hebt wesentliche Aussagen noch einmal hervor.
Die Rezension ist so angelegt, dass (1.) die Kerngedanken der einzelnen Beiträge kurz dargestellt werden. Dann folgt (2.) eine Zusammenfassung und schliesslich (3.) eine persönliche Stellungnahme.

1) Die einzelnen Beiträge im Kurzprofil

  • Walter Kardinal Kasper: Coronavirus als Unterbrechung – Abbruch und Aufbruch (11-28): Einleitend führt Walter Kasper aus, dass die Coronakrise aus theologischer Sicht nicht als Strafe Gottes verstanden werden kann. Der Schwerpunkt seines Beitrags liegt auf der Entfaltung der österlichen Perspektive in Zusammenhang mit der Coronakrise. Dabei betont Kasper u. a. den engen Zusammenhang von Karsamstag und Ostern. Der Autor schliesst mit einem Statement, das aufhorchen lässt: «Für mich ist der heilige Martin als Bischof zwischen den Zeiten das Leitbild eines Bischofs in einer nicht-klerikalistisch bischöflich verfassten Kirche in nachkonstantinischer Zeit, der Patron einer nach dem Coronavirus sich erneuernden Kirche.» (28)
  • Kurt Kardinal Koch: Die Coronakrise mit den Augen des Glaubens betrachtet (29-39): Kurt Koch greift in seinem Beitrag einige theologisch brisante Fragen der Coronakrise auf: die Frage nach der Pandemie als Strafe Gottes (Koch sieht hier eher eine Einladung Gottes zur Umkehr), der Sinn des Bitt- und Fürbittgebets. Von besonderem Gewicht ist für Koch der theologische Grundsatz «Gratia supponit naturam et perficit eam». Dieses Axiom sichert die Balance und das Zusammenspiel von naturbezogenem und religiösem Denken und Handeln – gerade in Zeiten von Corona. Ähnlich wie Walter Kasper verweist Koch auf den Karsamstag als dunkel-helle «Kehrseite» von Ostern. (29 f; 38f)
  • Bruno Forte: Der Glaube an den Gott Jesu Christi und die Pandemie (40-54): Bruno Forte, Erzbischof von ChietiVasto (Italien), stellt mit vielen leidenden Menschen Gott die Frage: «Warum all dieses Übel? Warum all dieser Schmerz?» (43) Er fasst seinen Antwortversuch in einem Zitat von Jacques Maritain zusammen: «Wenn die Menschen wüssten, dass Gott mit uns und sehr viel mehr als wir unter allem Bösen leidet, das die Erde verwüstet, dann würde sich zweifellos vieles ändern und viele Seelen würden befreit.» (46) Forte setzt in seinem Beitrag bei der Menschwerdung Gottes an. In der Menschwerdung Gottes geschieht Berührung durch Gott. «Der Ort, an dem diese göttliche Berührung ihren Höhepunkt erreicht, ist das Kreuz.» (47) (Wertvolle Ergänzungen zur Sichtweise von Bruno Forte findet man im Beitrag von Heiner Tück ab S. 154).
  • George Augustin SAC: Leben bezeugen in der sterblichen Welt (55-77): «Die Coronakrise fordert uns heraus, unser Menschsein und unser Dasein in der Welt in Bezug auf Gott zur Sprache zu bringen» (61), auf Gott als Quelle des Lebens. Dem tieferen Bezug zu Gott entspricht ein tieferes Verständnis des menschlichen Lebens. Dazu gehört, so Augustin, die Annahme der universalen Sündenverfallenheit des Menschen und vor allem die Fähigkeit, das Leben christlich zu gestalten. Konkret geht es dabei um eine Weisheit des Herzens, die um die Grenzen des Menschen weiss sowie die Fähigkeit, das jetzige Leben unter der Verheissung des ewigen Lebens zu gestalten. «Die Verheissung des ewigen Lebens im Glauben zu bejahen: Das ist das tragende Fundament und die Kraftquelle, die uns innerlich frei macht und existenzielle Angst zu überwinden hilft». (69) Impulse zur Kraft des Gebets in der Zeit der Not schliessen die grundlegenden Überlegungen des Autors ab. (69-72)
  • Thomas Söding: Distanz und Kontakt. Nächstenliebe beachtet und überwindet Grenzen (78-95): Mit den Stichworten «Distanz» und «Kontakt» greift Thomas Söding Grundworte der Coronakrise auf. Seine Kernthese lautet: Nächstenliebe beachtet und überwindet Grenzen. Dazu bietet er eine differenzierte Darstellung der christlichen Nächstenliebe an (80ff) und ungewöhnliche, theologisch und humanwissenschaftlich gut abgestützte Gedanken zur Bedeutung der Distanz in Zusammenhang mit Nächstenliebe. (84 ff) Ab S. 91 dann der Aspekt der Nähe unter dem Stichwort «Die Liebe als moralische Energie der Transzendenz». Der Autor fasst seine Überlegungen wie folgt zusammen: «Die Nächstenliebe beachtet Grenzen, weil diejenigen, die sie üben, um ihre eigenen Schwächen wissen, die sie Gott anvertrauen, jedenfalls in ihren lichten Momenten. Die Nächstenliebe überwindet Grenzen, weil sie Liebe ist - auch wenn sie auf Distanz geht, um andere zu schützen; denn sie setzt auf Gott, der hoffentlich dort unendlich nahe ist, wo kein Mensch einen anderen noch zu erreichen vermag.» (95) Anregend die Aufzählung von Aspekten, die es bei der Coronakrise theologisch zu reflektieren gilt. (94)
  • Holger Zaborowski: Über das Virus unter Vorbehalt oder: Die Erschütterungen der Coronakrise und die Möglichkeit der Solidarität (96-112): Holger Zaborowski, Philosophieprofessor in Erfurt, betont, dass es gerade in Zeiten der Pandemie und generell im Leben wichtig ist, unter Vorbehalt zu denken und zu handeln. Denn Überblick über das Ganze hat niemand. (96f) Dieses Nichtwissen fällt dem modernen Menschen mit seinem Versicherungs- und Fortschrittsdenken schwer. «Gerade dort, wo wir die absichernde Logik des Planens und Machens zu perfektionieren versuchten, zeigen wir uns als ausserordentlich verwundbar.» (104) Der naive Glaube an Sicherungs- und Sinnsysteme (Kultur, Religion und persönliche Existenz einbezogen) ist ins Wanken geraten. (105) Die Coronakrise zeigt Risse, die bereits lange vor der Krise alle Bereiche unseres Lebens erfassten. Ein entscheidender Faktor dabei war und ist, so der Autor, dass die instrumentelle Vernunft sich selbst zum Hauptzweck wurde. «Nun dienen Wirtschaft, Technik und Gesundheitsstreben nicht mehr dem Wohl des Menschen, sondern umgekehrt der Mensch ihnen.» (107) Diese äusserst kritische Situation beinhaltet die Chance, Fragen, die für unser Leben wichtig sind und die vergessen gingen, neu zu stellen. (108f)
  • Tomas Halik: Die Pandemie als ökumenische Erfahrung (113-134): Tomas Halik entwickelt seine Thesen auf dem Hintergrund der Tatsache, dass die Pandemie ein ambivalentes Phänomen der Globalisierung ist. «Ich sehe hier eine grosse Herausforderung für die Theologie, public theology und ökumenische Theologie zu sein.» (115) Der Autor postuliert eine Theologie, die im öffentlichen Raum und nicht nur in den Kirchen betrieben und verstanden wird. Ökumenisch ist solche Theologie, weil sie einen Beitrag leistet für die Gestaltung der gemeinsamen Welt. Um dieses Ziel zu erreichen, muss sich das Christentum reformieren. Mit Nachdruck tritt Halik dafür ein, dass sich die Kirche für die Ungläubigen öffnet. (124f) Er spricht hier von einer «dritten Ökumene». Grundlage für eine umfassend (global/ katholisch) gelebte Ökumene ist für den Autor eine spirituelle Erneuerung des Christentums. (119 f) Dieses Grundanliegen greift der Autor an mehreren Stellen seines Beitrags auf. Halik vertritt ein offenes und weites Verständnis von Spiritualität. Um sich für solche Spiritualität zu öffnen, muss Theologie sich für neue Weltsichten öffnen. Ausdrücklich genannt werden die Phänomenologie und die moderne Naturwissenschaft. Impulse zum «ReligionsFasten» als Weg zur Vertiefung des Glaubens vor allem an die Eucharistie (127) und spirituelle Impulse für die von vielen in der Pandemie gelebte Solidarität runden den Beitrag ab. (130)
  • Heiner Tück: «Pandemie eine Geissel Gottes? Ein Deutungsangebot zwischen Straftheologie und Gottesbeschimpfung» (135-158): Der Gedankengang von Heiner Tück besticht durch eine anspruchsvolle theologische Systematik. Er führt in seinem Deutungsversuch (in Anlehnung an Irenäus von Lyon) schöpfungstheologische, eschatologische und christologische Momente zusammen. Der Kerngedanke lautet: «Wenn die Welt und ihre evolutive Entfaltung nicht das Produkt blossen Zufalls ist, sondern sich dem freien und kontingenten Schöpfungsakt eines guten und allmächtigen Gottes verdankt, dann wird dieser Gott seine nun von Krankheit, Leid und Tod durchzogene Schöpfung auch vollenden können. Im Leben und Sterben Jesu Christi hat er seine mit den Leidenden und in der Auferweckung des Gekreuzigten seine todüberwindende und rettende Macht bereits zugesagt.» (137) Ausführlich dargestellt wird dieser Ansatz in den beiden letzten Abschnitten (4 und 5) des Beitrags. (152-158) Wer Argumente gegen eine Straftheologie sucht, findet sie auf S. 139f knapp zusammengefasst. Auch die in diesem Zusammenhang unübergehbare Erbsündentheologie wird kritisch beleuchtet (141f). Tück kritisiert aber nicht nur Straf- und Erbsündentheologie, sondern auch verschiedene Formen von Gottesbeschimpfung (142f). Sie gehen oft von falschen Voraussetzungen aus. Zum Schluss bietet der Autor eine ausgezeichnete, kurze Zusammenfassung seines vielschichtigen Beitrags. (158)
  • MarkDavid Janus: Das Virus und ich. Eine Covid-19-Erfahrung in New York City: Selten sind schriftlich fixierte Erfahrungsberichte von Coronainfizierten Menschen. Noch seltener sind persönliche und in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben formulierte Bekenntnisse eines infizierten Priesters. Der Beitrag von Mark-David Janus ist schon deshalb ein sehr wertvoller Bestandteil des Buchs. Janus, von Beruf Prediger, formuliert im Krankenbett eine Predigt zu Psalmsonntag 2020, deren Ende lautet: «Das Ende der Welt kommt rasch - selbst für Jesus... Trost finden wir in dem Wissen, dass das Tempo der Katastrophe, das Tempo unserer Überraschung, unseres Leids, unseres Kummers geteilt wird von dem, der so hastig gekreuzigt wurde und uns mit schwindelerregendem Tempo auferweckt, wie er selbst auferweckt worden ist - zu einem Leben, in dem nur Zeit ist für die Liebe.» (165) Berührend auch das Gebet von Carlo Kardinal Martini. (167)
  • Karl Wallner OCist: Die Krise als missionarische Chance. Durch die Coronapandemie kommt die Verkündigung endlich in den Medien an (170-190) Karl Wallner, Professor für Dogmatik und Sakramententheologie an der Hochschule Heiligkreuz und Nationaldirektor der Päpstlichen Missionswerke Wien, gelingt es in seinem Beitrag, ein neues Verständnis von kirchlicher Präsenz in den Medien zu entwickeln. An keiner Stelle geht es darum, den Wert und die Bedeutung analoger Formen kirchlicher Gemeinschaft kleinzureden. Wallner geht es darum aufzuzeigen, dass kirchliche Verkündigung mit Zukunft sich für einen innovativen Umgang mit den modernen Medien öffnen muss. Um das schwerfällige Kirchenschiff in Gang zu setzen, führt er zahlreiche Beispiele aus seiner Praxis an. Die Livestreamübertragung von Messen ist ihm ein besonderes Anliegen. Hier geht es nicht um Notlösungen, die irgendwann wieder verschwinden, sondern um Zeichen der Zeit, die ernstgenommen und gestaltet werden wollen. Mit «Zehn Tipps für die Mitfeier der LivestreamMesse» (185f) bietet Wallner konkrete Unterstützung. Die Menschen brauchen eine Einladung und Hilfe zum Mitfeiern, keine «schönen» Messen zum blossen Konsumieren. Man staunt über die Vielfalt der Möglichkeiten. Die Coronakrise hat die Kirche gezwungen, endlich zu den Menschen zu gehen, missionarisch zu denken und zu handeln. Dazu gehören auch medial vermittelte Katechese und Verkündigung.

2) Zusammenfassung

Das Buch enthält die philosophisch-theologisch und pastoral wichtigsten Fragestellungen, die mit der Coronapandemie aufgeworfen werden. Einige Antwortansätze (Kasper, Koch, Forte, Augustin, Söding, Tück) greifen zeitbewusst und kritisch auf die Fundamente des Glaubens zurück und entwickeln aus ihnen Lebenskraft und Hoffnung, vor allem für schwierige Zeiten. Andere Beiträge (Zaborowski, Halik, Wallner) setzen sich mit dem Zeitgeist auseinander, in dem sich die Coronapandemie abspielt. Dann gibt es ein Grundanliegen, das sich durch alle Beiträge einmal so, einmal anders hindurchzieht: Die Kirche muss die Coronakrise als Chance ergreifen, sich zu erneuern. Sie darf nicht einfach in den Zustand vor der Krise zurückwollen. Als wichtige Punkte der Erneuerung werden genannt:

  • Eine österliche Erneuerung der Liturgie (Kasper, Koch);
  • Eine nicht-klerikalistisch verfasste Kirche (Kasper);
  • Ein weites, erneuertes Verständnis der Eucharistiefeier (Halik);
  • Ein missionarisches Bewusstsein, das die neuen Medien kennt und nutzt (Wallner);
  • Mehr Beziehungspflege und ein europäisches Gouvernement, das sich um das Gemeinwohl, vor allem um die Schwachen kümmert (Forte);
  • Christen und Christinnen, die in der Welt von Gott sprechen (Augustin);
  • Eine Beziehungskultur, die Grenzen beachtet, weil sie um eigene Schwächen weiss und diese Gott anvertraut - die Grenzen überwindet, weil sie auf Gott setzt (Söding);
  • Christen und Christinnen, die den sabbatlichen Raum der Unverzwecktheit für unsere Gesellschaft freihalten (Zaborowski, Kasper);
  • Aufbau einer public theology im öffentlichen Raum, offen für alle Suchenden (Halik);
  • Belebung eines eschatologischen, auf die Befreiung durch Gott hoffenden Bewusstseins (Augustin, Tück);

Das Schlusswort gehört dem vom Coronavirus selbst getroffenen Marc-David Janus: «Am Ende ist es nur die Liebe, die uns mit Gott verbindet. Jesus, der auferstandene Herr, bleibt über die Liebe mit uns verbunden: eine Liebe, die uns durch gelebte Dienstbereitschaft, Barmherzigkeit und Güte miteinander verbindet. Auf diese Weise werden wir das Virus besiegen und unsere Welt wieder aufbauen.» (169)

3) Persönliche Stellungnahme

Diese Rezension ist aussergewöhnlich umfangreich, weil das vorliegende Buch ein äusserst komplexes Thema, die Coronapandemie behandelt und dabei philosophisch, theologisch, spirituell, pastoral, existenziell sorgfältig vorgeht und dem Leser keine billigen Antworten anbietet. Das hat seinen Preis. In der Regel wird man sich auf das Studium einzelner Beiträge beschränken. Damit die Auswahl leichter fällt, wurden die Kurzprofile der Beiträge in die Rezension aufgenommen. Persönlich hat mich die hoffnungsvolle, initiative Grundstimmung des Buchs angesprochen: Die Coronapandemie nicht nur als Hindernis für den gewohnten Kirchenbetrieb sehen, sondern als eine Chance, Kirche und Gesellschaft zu erneuern und weiterzuentwickeln. Zum Schluss eine Anregung: Einige Stimmen von kompetenten Theologinnen hätten das Buch noch besser gemacht.

Wolfgang Broedel


Wolfgang Broedel

Dr. theol. Wolfgang Broedel (Jg. 1946) ist Theologe und Heilpädagoge. Er war u.a. Leiter des Heilpädagogischen Seminars am Josefshaus in Rheinfelden Herten (D), Dozent für Heilpädagogik an der Universität Freiburg i. Br., Pastoralassistent in Sarnen OW und theologischer Leiter der Fachstelle für Religionspädagogik Luzern. Seit vielen Jahren engagiert er sich in der Entwicklung und Vermittlung einer innengeleiteten Pädagogik in der Deutschschweiz und in Vorarlberg (A).