SKZ: Bevor man eine Gemeinschaft aufbauen kann, muss diese zunächst selbst erlebt werden. Wie und wo kann kirchliche Gemeinschaft wahrgenommen, gespürt werden?
Tobias Lüthi: Es gibt viele Möglichkeiten. In meinem Leben habe ich an vielen verschiedenen Orten Gemeinschaft gespürt. Mein erstes Gemeinschaftserlebnis in der Kirche war das «Pfarreiweekend». Dies war ein dreitägiges Weekend in den Bergen, an dem acht bis zehn Familien aus der Pfarrei und ein Priester teilnahmen. Mein persönliches Highlight von kirchlicher Gemeinschaft erlebte ich auf dem «Sailing Prayer Ship». Auf diesem Segelschiff trotzten 36 Christinnen und Christen zwischen 16 und 40 Jahren den Stürmen des Meeres. Während der zehn Tage dauernden Schiffsreise gab es viele katholische Angebote: Lieder, Rosenkranzgebet, Anbetung und täglich eine heilige Messe. Später schloss ich mich Adoray an. Dank vieler grossartiger Events wie dem Adoray-Festival, dem Adoray-Sporttag oder dem «Tramp of Jesus» sowie kleinerer Ausflüge kenne ich nun junge Katholikinnen und Katholiken in der ganzen Schweiz – sie sind meine Freunde geworden. Kirchliche Gemeinschaft spürte ich persönlich dort am stärksten, wo ich mit Gleichaltrigen zusammen Gott feiern und den Glauben leben konnte.
Was verhindert in der heutigen Zeit vielleicht, dass Menschen diese Gemeinschaft erfahren können?
Ich denke alles, was dazu führt, dass man lieber zu Hause bleibt. In der Jugendarbeit sehe ich vor allem zwei Gefahren: Die «elektronischen» Suchtmittel sowie einen «Lebensdruck». Unter «Lebensdruck» verstehe ich die Forderungen von Schule, Arbeit, Sport, Familie oder Musik, aber auch den Druck, gut auszusehen, über die neusten Trends informiert zu sein, sich ständig weiterbilden zu müssen … Man ist irgendwie nie gut genug. Dieses Gefühl kenne ich schon aus meiner Jugend, doch ich stelle fest, dass es mit jedem Jahrgang schlimmer wird. Wie soll man da die Zeit finden, um einmal in Ruhe über Gott nachzudenken? Dazu kommt: Es gibt Angebote, bei denen man kirchliche Gemeinschaft erfahren kann. Doch diese müssen gesucht werden. Die Jugendlichen müssen aktiv werden und sich selbst darum kümmern.
Als getaufte und gefirmte Christinnen und Christen sind wir aufgerufen, am Aufbau des Reiches Gottes mitzuwirken. Wie kann dieses Anliegen erreicht werden?
Wer in seinem Alltag hin und wieder über Gott spricht und vielleicht sogar eine Halskette mit einem Kreuz trägt, kann schon viel bewirken. Wenn man bereits in der Kirche aktiv mit dabei ist, z. B. in der Freiwilligenarbeit, oder sogar eine Anstellung hat, dann lautet das Rezept zum Erfolg wohl: dranbleiben, nicht aufgeben, beten, hoffen. In meiner Arbeit versuche ich, viele Kinder und Jugendliche zu motivieren, in die Jugendgruppe zu kommen oder als Ministrantinnen und Ministranten tätig zu werden. Hin und wieder gelingt es. Dann ist es oft so, dass gleich Neue dazu kommen, weil ein Kind oder eine Jugendliche ihre besten Freunde auch mitbringt. Seit ich dies entdeckt habe, spreche ich oft bewusst eine ganz Gruppe an und lade sie ein, doch einmal in die Jugendgruppe oder ins «Pray at Sunday» zu kommen.
Bewegungen wie Adoray, Jugend 2000 usw. sprechen viele junge Menschen an. Diese kommen oft von weit her, um an einem Anlass teilzunehmen. Was macht die Faszination dieser Bewegungen aus?
Dafür gibt es viele Gründe. Um einige aufzuzählen: Junge Menschen trennen sich in der Pubertät von zu Hause, von den Eltern und ziehen allein los. Genauso verlassen sie auch die eigene Pfarrei, um für sich selbst etwas Neues zu suchen. An neuen Orten gibt es viele neue Menschen zum Kennenlernen. Vielleicht auch eine potenzielle Partnerin oder einen potenziellen Partner? Mit der Ortskirche hängen Erinnerungen zusammen, z. B. wie man als Kind im Gottesdienst vorlesen musste. In der «neuen jugendorientierten Kirche» hingegen gibt es keine Erinnerungen an «peinliche» Situationen. Ausserdem stehen da ein Beamer und eine Gitarre. Für mich gilt noch heute: Gehe ich sonntags um zehn Uhr zur Messe, beginnt der Tag erst nach dem Mittagessen. Vor der Messe und danach bis nach dem Mittagessen bleibt nicht genügend Zeit, etwas zu tun. Weshalb also diesen freien halben Tag «verschwenden», wenn ich doch am Mittwochabend kurz nach Zürich in den Gottesdienst von Adoray kann? Ein weiterer Grund: Bei den Kolleginnen und Kollegen klingt «Ich war bei Adoray» viel besser als «Ich war in der Kirche». In vielen Ortspfarreien predigen zudem oft «ältere» Priester, die in ihren Predigten nicht auf die Lebenssituation der Jugendlichen eingehen und deshalb von ihnen auch nicht verstanden werden. In den Gottesdiensten von z. B. Adoray sind oft 25- bis 30-Jährige die Rednerinnen oder Impulsgeber. Diese haben eine andere Sprache und verknüpfen die Botschaft von Jesus mit der aktuellen Lebenswelt der Jugendlichen.
Denken Sie, dass dieses Modell (man geht dahin, wo man sich angenommen fühlt) die traditionellen Pfarreien ablösen wird?
Ja und nein. Diese Events sind für Jugendliche vor allem deshalb grossartig, weil sie viele neue Leute kennenlernen und sich mit ihnen befreunden können. Doch diese Treffen sind sehr fix. Wenn jemand, der regelmässig zu Adoray geht und sich dort zu Hause fühlt, an einem Donnerstagabend mit den Eltern einen grossen Streit hat und sich nach der Geborgenheit einer kirchlichen Gemeinschaft sehnt, würde er an diesem Abend in der «Adoray-Kirche» niemanden antreffen, in der eigenen Pfarrei aber schon … Doch aus den wunderbaren Gefühlen, die an solchen Anlässen erlebt werden, kann eine Gottesbeziehung entstehen, die in der eigenen Pfarrei neu entdeckt und vielleicht auch gelebt werden kann. Viele Jugendliche tanken im gemeinsamen Feiern mit Gleichaltrigen Kraft, um sich in ihren Heimatpfarreien zu engagieren: als Kirchenmusikerin, Lektor, Firmbegleiterin, Ministrant, Babysitterin usw.
Wie kann es gelingen, dass in diesen Bewegungen engagierte junge Menschen wieder mit der Heimatpfarrei in Kontakt kommen?
Die einfachste Möglichkeit wäre, dass die in den Pfarreien tätigen Jugendseelsorgerinnen oder Jugendarbeiter einmal im Monat an eine Veranstaltung von Adoray oder Jugend 2000 oder einer anderen Bewegung gehen und dort «Ausschau» nach Jugendlichen aus ihrer Gemeinde halten und versuchen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Oder dass sie in den Oberstufenunterricht gehen. Ideal wäre sicher ein Lager, bei dem diese Jugendlichen als Leiterinnen und Leiter dabei sind. Mehr wie ein Tischgebet pro Tag braucht es am Anfang nicht. Nach fünf Tagen ist man zu einer Gemeinschaft geworden. Danach kann man beginnen, sich in der Jugendgruppe oder sogar in der Kirche zu treffen oder miteinander zu Adoray zu gehen. Natürlich braucht es dabei Leader. Da kommen wieder die Jugendseelsorger und Jugendarbeiterinnen ins Spiel. Ich hatte in einem Pfarreilager schon junge Leiterinnen und Leiter, die aus ganz Zürich kamen. Diese hatte ich nicht nur in kirchlichen Organisationen gefunden, sondern auch z. B. beim Kampfsport.
Sie haben «Leader» erwähnt. Was verstehen Sie darunter?
«Adoray Zürich» am Mittwochnachmittag oder das «Pray at Sunday» in Dietikon finden regelmässig statt. Es gibt Leute, die das organisieren. Das Angebot steht. Doch es fehlen die Leute – Leader –, die die Jugendlichen aktiv einladen. Eine Jugendarbeiterin oder ein Jugendarbeiter, der beispielsweise in einer Oberstufenklasse Werbung macht und eine Gruppe von Jugendlichen vielleicht auch ein, zwei Mal begleitet. Menschen, die den Jugendlichen eine «neue» Welt zeigen, wie man Gott auch erleben kann.
Interview: Rosmarie Schärer