Was zeichnet eine heutige kirchliche Personalplanung und -entwicklung aus?
Michael Kontzen (MK)1: Die demografische Entwicklung oder Charakteristika unserer Zeit wie Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit sind Beispiele für Trends, die uns wie andere Organisationen auf dem Arbeitsmarkt herausfordern. Die Diagnose des kanadischen Premierministers Justin Trudeau auf dem World Economic Forum (WEF) 2018 passt auch zu unserer Situation: «Das Tempo des Wandels war noch nie so schnell und wird nie mehr so langsam sein wie heute.» Mitarbeitende aller Berufsgruppen brauchen die Bereitschaft, ein Leben lang zu lernen. Veränderungsprozesse sind keine ausserordentlichen Herausforderungen mehr, sondern alltägliche Aufgaben geworden. Als Organisation sind wir gefordert, auf geänderte Lebensentwürfe und Arbeitsbiografien einzugehen. Lebenslange Berufungen führen nicht mehr von katholischen Schulen über das Theologiestudium ins Priesterseminar. Bei der kirchlichen Personalplanung müssen wir darüber hinaus berücksichtigen, dass sie in unseren Deutschschweizer Verhältnissen nur begrenzt zentral gesteuert werden kann und sich damit tendenziell eher langsam verändert.
Martina Merz-Staerkle (MMS)2: Eine enge Zusammenarbeit bezüglich Personalplanung und -entwicklung zwischen dem Bistum, der pastoralen Seite der Seelsorgeeinheiten und der anstellenden Behörden ist unabdingbar. Es wird immer klarer, dass inskünftig nach neuen, kreativen, flexiblen Lösungen gesucht werden muss. Um die Seelsorgenden von den zunehmenden administrativen Aufgaben und personalrechtlichen Führungsaufgaben zu entlasten, wurden beispielsweise in den Seelsorgeeinheiten St. Gallen Ost und St. Gallen Zentrum neue Stellen geschaffen. Die Ausgestaltung dieser beiden Stellen wurde den Bedürfnissen der einzelnen Seelsorgeeinheiten angepasst und sind in deren Umsetzung verschieden. Dies zeigt, dass in einem sinnvollen Rahmen die Lösungen sehr unterschiedlich sein können. Voraussetzungen dafür sind – wie bereits erwähnt – eine enge Zusammenarbeit, aber auch eine gewisse Flexibilität seitens der staatskirchenrechtlichen Seite.
Die geburtenstarken Jahrgänge bei den pastoralen Mitarbeitenden sind schon im oder kommen ins Pensionsalter. Wie begegnet das Bistum dieser Herausforderung?
MK: Eine trügerische Versuchung wäre, Personalmangel mit Freiwilligenarbeit kompensieren zu wollen. Eine andere Gefahr wäre, Mitarbeitende mit Aufgaben zu überfordern, für die sie nicht ausgebildet sind. Unser Suchprozess geht in eine andere Richtung, wenn wir, etwa in den diözesanen Räten, fragen: «Wie gestalten wir die Zukunft von Kirche in der Nähe, Kirche in der Gesellschaft und Kirche der unterschiedlichen Dienste?» Diese Fragen gehen über die Personalsituation hinaus. Mit der Ausdifferenzierung kirchlicher Berufe und der Bildung von Seelsorgeeinheiten hat sich bereits vieles verändert, insbesondere traditionelle Rollenbilder. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen, nicht nur unter den Berufsgruppen, sondern auch mit Blick auf die Mitverantwortung aller Getauften. Unser künftiger Personalbedarf bemisst sich an unserer Vorstellung, was Kirche ist und wer sie verantwortet. Wir werden also nicht nur die Pastoral neu denken müssen, sondern im Blick auf die Grundvollzüge der Kirche auch das Zueinander von kirchlichem Dienst und Verantwortung aller Getauften.
Inwieweit hat die Gründung von Seelsorgeeinheiten die Arbeitszufriedenheit der kirchlichen Mitarbeitenden beeinflusst?
MK: Leider haben wir in der Schweiz keine Untersuchung der Arbeitszufriedenheit, wie sie die deutschen Diözesen 2012 bis 2014 bei über 8500 Mitarbeitenden erhoben haben.3 Bei unseren Nachbarn finden sich aber einige interessante Hinweise. Überrascht war ich etwa von dem Ergebnis, dass Faktoren wie Teamgrösse, Grösse der Organisationseinheit und Wochenarbeitszeit nur geringe statistische Zusammenhänge mit dem gesundheitlichen Ergehen von Mitarbeitenden in der Seelsorge zeigten. Seelsorgende haben den Studienergebnissen zufolge eine vergleichsweise hohe Lebens- und Arbeitszufriedenheit. Offenbar sind also andere Faktoren wichtiger als die Grösse der Einheiten. Hingegen sei Unzufriedenheit mit dem Organisationsklima ein belastender Faktor. Die Autoren der Studie empfehlen den Diözesen, bei Stellen besetzungen vermehrt darauf zu achten, dass jeweils die vorgesehene Position und die Ressourcen einer Person zueinander passen. Statistiken und Umfrageergebnisse helfen allerdings im Einzelfall wenig, wo Mitarbeitende unter belastenden Situationen leiden. Wenn die Erfahrung der Zusammenarbeit innerhalb einer Seelsorgeeinheit gut ist, wird diese Struktur wohl eher positiv bewertet als in Fällen von Konflikten und tiefen Gräben.
Und die Zufriedenheit der Kirchgemeinden?
MMS: Diese Frage kann ich so nicht beantworten, weil ich erst nach der Umstrukturierung meine Aufgabe als Kirchenverwaltungsrätin angetreten habe. Meines Wissens wurde diese Struktur infolge des anstehenden Priestermangels gewählt und ist somit nicht «natürlich» gewachsen, sondern ein künstliches Gebilde, das im Falle von St. Gallen auch nicht mit den staatskirchenrechtlichen Strukturen übereinstimmt. Diese Zwangsheiraten positiv zu gestalten, war sicher eine Herausforderung, die zwischenzeitlich jedoch recht gut gelingt. Es zeigt sich aber, dass der Koordinationsbedarf innerhalb der Seelsorgeeinheiten enorm ist.
In der Schweiz erhalten rund ein Drittel der Arbeitnehmenden keine Möglichkeit zur Personalentwicklung im Rahmen von formalen Weiterbildungen. Wie fördern Sie die Weiterbildungen im Bistum?
MK: Diesbezüglich sind wir laufend für die Mitarbeitenden im Bistum engagiert. Ein Beispiel ist das zunehmende Interesse von Katechetinnen und Katecheten sowie kirchlichen Jugendarbeitenden an einer Weiterentwicklung, um als Religionspädagogin bzw. als Religionspädagoge arbeiten zu können. Unsere Abteilung Religionspädagogik berät Interessierte unter Berücksichtigung ihrer Vorbildung über die individuellen Weiterbildungsmöglichkeiten. Neu begleitet die Regentie solche im Bistum bewährten Mitarbeitenden während ihrer Weiterqualifikation. Im Anschluss werden sie in die Pastorale Einführung aufgenommen, die sie mit der Institutio abschliessen können. Für die Mitarbeitenden mit bischöflicher Beauftragung wurden auf dieses Jahr die Richtlinien für die Fortbildung erneuert. Sie regeln etwa die jährlichen Exerzitien, die diözesan verordneten Fortbildungen sowie den Anspruch auf freiwilligen Bildungsurlaub nach acht bzw. zwölf Dienstjahren im Umfang von zwei bzw. drei Monaten. Auch dank der Unterstützung unserer staatskirchenrechtlichen Partner konnten wir bereits einiges ermöglichen und weiterentwickeln.
MMS: Die Kirchgemeinde St. Gallen stellt für Weiterbildungen ein Budget von jährlich CHF 90'000 zur Verfügung, das leider selten ausgeschöpft wird. Sie hat ein grosses Interesse daran, alle Arbeitnehmenden grosszügig bei Weiterbildungen in ihrem Arbeitsgebiet zu unterstützen, um so Impulse für die anspruchsvolle Tätigkeit sowie den Erfahrungsaustausch mit andern Mitarbeitenden im kirchlichen Dienst zu ermöglichen, aber auch um auf diese Weise ein Zeichen der Wertschätzung zu setzen.
Wo machen Sie die grössten Konfliktpotenziale zwischen Bischof bzw. Personalamt, Kirchgemeinde und Pfarrei aus?
MMS: Das vom Bistum eingeführte kollegiale Führungssystem ist zwar ein hehrer Führungsansatz, der aber für die Seelsorgenden und Mitarbeitenden zu diffusen, konfliktträchtigen und überfordernden Situationen im Alltag führt. Grosse Pastoralteams, wie dies für die Kirchgemeinde St. Gallen zutrifft, basisdemokratisch führen zu wollen, erfordert unendlich viele Absprachen, endlose Diskussionen und ist mit einem horrenden Zeitaufwand verbunden. Ob Aufwand und Ertrag sich da die Waage halten, wage ich als Person mit langjähriger Führungserfahrung sehr zu bezweifeln. Für konfliktive Situationen scheint mir dieses Führungsmodell geradezu ungeeignet zu sein. Führungssysteme sind eine Orientierungshilfe. Sie stehen und fallen mit den Personen, die sie leben. Deshalb wäre aus meiner Sicht eine flache, hierarchisch organisierte Führungsstruktur mit einem demokratischen Führungsverständnis zielführender und erfolgsversprechender.
MK: Die kollegial getragene Verantwortung für die Pastoral der Seelsorgeeinheit stellt tatsächlich hohe Anforderungen an Führungs- und Leitungskompetenzen. Sie eröffnet im Gegenzug eine höhere Flexibilität im Vergleich zu traditionellen Modellen der Gemeindeleitung, sodass die Kompetenzen und Charismen aller Teammitglieder freier in den Fokus gelangen können.
Interview: Maria Hässig