SKZ: Braucht es in unserer globalisierten und digitalisierten Welt noch den konkreten Dialog?
Béatrice Acklin: Ich erlaube mir, Ihre Frage umzukehren: Kann man ohne Dialog in einer globalisierten Welt leben? Dass es zum Dialog keine Alternative gibt, zeigt sich auf erschreckende Weise überall dort auf der Welt, wo nicht das Gespräch, sondern die Waffe das letzte Wort hat. Wo nicht mehr miteinander gesprochen und gestritten wird, wird gegeneinander angekämpft. Den Dialog mit Andersdenkenden zu verweigern, wie das von einzelnen kirchlichen Gruppen schon verlangt wurde, widerspricht im Übrigen nicht nur der christlichen Tradition, sondern wäre auch zutiefst unbiblisch.
Die Kirche hat anscheinend in den letzten Jahrzehnten gut ohne eine Streitkultur gelebt.
Eine lebendige Streitkultur beinhaltet, dass man sich leidenschaftlich für eine Sache einsetzt und seine Überzeugung dem Andersdenkenden zu erklären versucht. Angefangen von der frühen Christengemeinde über die Reformation bis in die Moderne wurde in der Kirche immer wieder um die eigene Glaubensüberzeugung gerungen. Heute scheinen jedoch die Lust und der Wille, sich in Glaubensfragen zu exponieren und über unterschiedliche Glaubensansichten engagiert miteinander zu streiten, an einem kleinen Ort zu sein. Dass die Kirche mit der ihr fehlenden Streitkultur gut gelebt hätte, wie Sie sagen, davon kann keine Rede sein! Der Kirche laufen die Leute weg. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass das Profil der Kirche zusehends unscharf geworden ist. Damit sich die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft behaupten kann, müssen die verschiedenen Gruppierungen miteinander das Gespräch suchen und aneinander ihre Argumente schärfen. Ohne konstruktiven Streit gibt es keinen Zusammenhalt, und einen solchen braucht die Kirche im heutigen säkularen Umfeld mehr denn je.
In den Disputationen während der Reformation verteidigten die Gegner ihre Sache mit «messerscharfen Argumenten». Ist eine Streitkultur nur die Aufgabe der Theologen?
Ein grosses Verdienst der Reformation, das nicht genug betont werden kann, besteht darin, dass sie die Gläubigen ermutigte, selber die Bibel zu lesen und sich ein eigenes Urteil über die Lehre der Kirche zu bilden. Dass die Auseinandersetzung über Glaubensfragen zwar vorwiegend, aber nicht ausschliesslich Sache der dafür ausgebildeten Theologen ist, zeigt sich besonders deutlich auf Kirchentagen, wo Kirchennahe und Kirchenferne, Laien und Pfarrer über Glaubensfragen nachdenken und miteinander diskutieren.
Was könnte die Kirche konkret dazu beitragen, dass eine solche Streitkultur wieder entstehen kann?
Wer sich auf einen Streit mit Andersdenkenden einlässt, der wendet nicht nur viel Kraft auf, sondern anerkennt auch, dass er die Wahrheit nicht für sich gepachtet hat. Daran sollte die Kirche wieder vermehrt erinnern. Im Unterschied zum Moralisten, der meint, dass nur er recht habe, besagt die theologische Tradition, dass es für die Schärfung der eigenen Überzeugung unumgänglich ist, sie mit anderen Sichtweisen zu konfrontieren. Auf eindrückliche Weise zeigt dies die jüngste Diskussion über die Änderung des Vaterunsers, die übrigens nicht nur unter Theologen geführt wurde, sondern auch Eingang in die Feuilletons und sogar die Boulevardpresse fand, und die deutlich gemacht hat, dass es aufgrund des Bibeltextes gute Gründe gibt, für die eine oder andere Version zu sein.
Interview: Rosmarie Schärer