Die glocken läuteten,
als überschlügen sie sich vor freude
über das leere grab
Darüber, dass einmal
etwas so tröstliches gelang,
und dass das staunen währt
seit zweitausend jahren
Doch obwohl die glocken
so heftig gegen die mitternacht hämmerten –
nichts an finsternis sprang ab1
Zum Zeichen der Trauer über den Tod Jesu schweigen die Kirchenglocken ab dem Abend des Hohen Donnerstags. Wenn sie in der Osternacht wieder erklingen, ist dies Ausdruck der Freude über die Überwindung des Todes durch die Auferweckung des Gekreuzigten: «Dass einmal etwas so Tröstliches gelang»! Wie viel Unausgesprochenes schwingt in dieser Wendung mit, wie viele Schwingungen zwischen Schmerz und Sehnsucht löst allein dieser Vers aus? Für diese eröffnet der Lyriker zuerst einen Resonanzraum, der auf das jenseits der Sprache liegende Ostergeheimnis verweist. Bei aller sich geradezu überschlagenden Osterfreude rückt Reiner Kunze (*1933) – gegen allen unbedachten Ostertriumphalismus, ja jede Verharmlosung und Vergemütlichung, die Ostern zum Happy End des Karfreitags macht – das bleibend Dunkle mit ins Bild. Und schafft gerade so Raum für Fragen, Vorbehalte und Zweifel, die uns in den neutestamentlichen Ostererzählungen konstant begegnen, im Johannesevangelium verdichtet in der Jüngerfigur des Thomas (aram. Zwilling, griech. Didymos):
wir können es nicht fassen:
zu gross sind die fragen
zu klein unser erkennen
und der zweifel bleibt
der gleichberechtigte
zwillingsbruder des glaubens2
Der Glaube an die Auferweckung Jesu Christi und die Hoffnung, dass auch alle anderen Menschen von Gott nicht im Tod gelassen werden, sind ohne Anfechtung, ohne Verdacht auf Illusion und Vertröstung nicht zu haben.
In seinen «Gedichten am Rand», die als lyrische Meditationen der Evangelien parallel zu seiner Predigtarbeit entstandenen sind, unterstreicht der reformierte Pfarrerdichter Kurt Marti (1921–2017) die auch durch Glauben nicht zu überspielende Bitterkeit und Ungeheuerlichkeit des Todes. Gerade so vermag er in nochmaliger Steigerung vom leeren Grab des Auferstandenen her die noch grössere Ungeheuerlichkeit christlicher Osterhoffnung zum Leuchten zu bringen:
ein grab greift
tiefer
als die gräber
gruben
denn ungeheuer
ist der vorsprung tod
am tiefsten
greift
das grab das selbst
den tod begrub
denn ungeheuer
ist der vorsprung leben3
«nichts ist / für immer / begraben»4: Der katholische Priesterpoet Andreas Knapp (*1958) findet für diese Osterhoffnung ein zeitgenössisch brisantes Bild: «bei licht besehen / ist das grab kein endlager mehr»5. Wie Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, wird er auch keinen anderen Menschen im Tod verloren geben. Eindringlich verdichtet Knapp den durch Ostern von Gott her bestätigten «Lebenslauf» des Mannes aus Nazaret im Zeichen neuer Geburt auch für uns:
zwischen gespreizten Schenkeln
ein Kinderkopf blutgetauft
Geburtsschrei als Protest
gegen die Laufbahn zum Tod
am gekreuzten Balken
ein Menschengesicht blutgesalbt
Todesschrei als Ergebung
in das universale Sterben
beim weggerollten Stein
ein Leintuch blutdurchwoben
Freudenschrei in der Grabeshöhle
und eine Spur vom Glanz neuer Geburt6
Die Sprache des Glaubens ist zur poetischen zu zählen. Über ein Leben nach dem Tode können Menschen nur metaphorisch angemessen reden, durch Übertragung und in Bildern z. B. eines Lebens «ohne Tränen, ohne Leiden, ohne Tod» (Offb 21,4). An der Grenze von Intimität und Verallgemeinerbarkeit gibt Marie-Luise Kaschnitz (1901–1974) ihrer Auferweckungssehnsucht Ausdruck:
Glauben Sie fragte man mich
An ein Leben nach dem Tode
Und ich antwortete: ja
Aber dann wusste ich
Keine Antwort zu geben
Wie das aussehen sollte
Wie ich selber
Aussehen sollte
Dort
Ich wusste nur eines
Keine Hierarchie
Von Heiligen auf goldenen Stühlen
Sitzend
Kein Niedersturz
Verdammter Seelen
Nur
Nur Liebe frei gewordne
Niemals aufgezehrte
Mich überflutend
Kein Schutzmantel starr aus Gold
Mit Edelsteinen besetzt
Ein spinnwebenleichtes Gewand
Ein Hauch
Mir um die Schultern
Liebkosung schöne Bewegung
Wie einst von tyrrhenischen Wellen ...
Wortfetzen
Komm du komm
Schmerzweh mit Tränen besetzt
Berg- und Talfahrt
Und deine Hand
Wieder in meiner
So lagen wir lasest du vor
Schlief ich ein
Wachte auf
Schlief ein
Wache auf
Deine Stimme empfängt mich
Entlässt mich und immer
So fort
Mehr also, fragen die Frager
Erwarten Sie nicht nach dem Tode?
Und ich antwortete
Weniger nicht.7
Angesichts der Unmöglichkeit gesicherter Vorstellungen über ein Nachher jenseits des Todes setzt sich dieser eine Interviewsituation aufrufende Text kritisch von überkommenen kirchlich-religiösen Vorstellungen, insbesondere moralisch-juridischen Vergeltungs- und Ausgleichsfantasien, ab. Zugleich wagt er Subjektivität ins Spiel zu bringen, wagt ein Bekenntnis. Erhofft wird «Dort»: «Nur Liebe freigewordne / Niemals aufgezehrte / Mich überflutend».
Guido Kaschnitz-Weinberg starb 1958; das Paar unternahm viele Reisen nach Italien und lebte zeitweise in Rom. Das lyrische Ich hegt die verwegene Hoffnung auf eine allumfassende Liebe, die ihre durch den Tod abgebrochene Zweisamkeit wieder aufleben lässt. «Ein Leben nach dem Tode» bedeutet die Wiedervereinigung der Liebenden.
Kaum zufällig bildet die diese Verbindung herstellende vierte Strophe das Zentrum des Gedichts; die unvollständigen Sätze entsprechen aufs Genaueste den im Liebesspiel vernehmbaren Wortfetzen («Komm du komm»). Auf die irritierte Nachfrage am Ende («Das soll alles an Erwartungen an das Jenseits sein?») bekräftigt Kaschnitz ihre unbescheiden grosse Hoffnung auf Kontinuität irdischer Liebes- und Glückserfahrungen über den Tod hinaus («Weniger nicht»).
Diese Sehnsucht liebenden Eingebundenseins in ein grösseres Ganzes und dass die eigene Person mit dem bejahenden «Blick» eines liebenden Gegenübers angeschaut und der schmerzende «Trennschnitt» aufgehoben wird in einer anderen Wirklichkeit («Licht»), «noch einmal», «für immer» und «ewig», vermag Ulla Hahns (*1946) «Lob des Konjunktivs» bewusst nur in der gebrochenen Form des «als ob» zu artikulieren:
So als ob das Licht so als ob die
Wärme als ob die Farben so als ob
das Ganze noch einmal als ob das Ganze
für immer und immer noch einmal so
als ob es nichts Trennbares gäbe den
Trennschnitt nicht gäbe von einem
zum anderen Blick als ob von so einem
zum so anderen als ob so wie ewig so als ob8
Ostern als Kernstück christlichen Glaubens hat Kurt Marti dichterisch stets neu herausgefordert. Eine letzte, radikale Zuspitzung unternimmt der 83-jährige grosse Theopoet, indem er tastend-fragend, schmerz-, leid- und theodizeeempfindlich empfiehlt, die ungelöst offenen Fragen von Welt, Mensch und Geschichte von Ostern her durchzubuchstabieren – «es ostert»:
ist
alles was lebt ein wunder
oder
nur ein kosmischer zufall?
folgt
der fortschritt einem
eden-projekt
oder
spielt er russisches roulette?
sind
menschen wenig geringer
als engel
oder
missratene tiere?
ist
kampf der vater der dinge
oder
hält liebe die welt zusammen?
ist
gott unendlich überströmende
vielfalt
oder
die schlichtheit in person?
ist
alles auch noch anders ganz
anders
und
ostern der schlüssel dazu?9
Christoph Gellner