Ohne Gutes kein Böses

Das Böse wird in schöpfungstheologischer Perspektive als Mangel am Guten bestimmt. Es verhält sich wie ein Parasit, der auf einen Wirt, in diesem Fall das Gute, angewiesen ist.

Der vorliegende Beitrag thematisiert das Böse aus dogmatisch-systematischer Sicht. Dieser liegt der umfassende lateinische Terminus «malum», welcher auch seiner Bedeutungsvielfalt nach das Äquivalent zum griechischen Wort «kakon» darstellt, zugrunde.1 Malum umfasst alle Bereiche, die mit Bösem, Schlechtem, Üblem usw. umschrieben werden. Es beinhaltet Dinge, welche ich erleide und die ich tue. Das Phänomen der Sünde ist so unter demselben Terminus zu verhandeln wie Krankheiten und Missbildungen, aber auch Naturkatastrophen. Die systematische Behandlung des Bösen selbst erfolgt zweigleisig: Zum einen ist die Frage zu klären, woher das Böse kommt, zum anderen geht es darum, den zu analysierenden Gegenstand zu definieren. Noch vor der Frage nach der Herkunft des Bösen ist daher die Frage nach seinem Wesen zu erörtern.2 In der Folge wird das Böse in grundlegenden Zügen als Mangel/Privation thematisiert, wobei insbesondere auf die Ausführungen des Thomas von Aquin (1224/25–1274 n. Chr.) rekurriert wird.

Das Böse als Parasit

Die Bestimmung des Bösen als Privation besagt, dass das Böse selbst kein eigenes Wesen besitzt. Vielmehr besteht es in einem Mangel (absentia bzw. privatio), wobei die Definition über das Gute erfolgt. So wurde das Böse bereits in der Alten Kirche insbesondere bei Augustinus (354–430 n. Chr.) und Pseudo-Dionysius Areopagita (frühes 6. Jh. n. Chr.) als Mangel am Guten, absentia boni, umschrieben.3 Das Gute kann zwar ohne das Böse existieren, das Böse aber nicht ohne das Gute. Denn ein Übel kann immer nur an einem Guten auftreten, indem es zu einem Mangel an diesem Guten führt, ohne es dabei ganz aufzuheben. Als Parasit ist das Böse auf ein Gutes als Wirt angewiesen, an dem es als Mangel auftreten kann. Ginge das gute Ding selbst durch das Böse, das parasitär an ihm haftet, verloren, gäbe es auch das an diesem Guten auftretende Böse nicht mehr. Ein absolut Böses, summum malum, kann es daher im Unterschied zum höchsten, absolut Guten (Gott), summum bonum, an dem nichts Böses auftreten kann, nicht geben.4 Einerseits wird so jeglicher Dualismus ausgeschlossen, zugleich kann folglich auch nicht der Teufel als letzte Ursache des Bösen in Erscheinung treten. Denn als Wesen ist selbst dieser gut.5

Das Böse als das, was nicht sein sollte

Doch stellt jeder Mangel am Guten bereits ein Übel dar? Eine entscheidende Systematisierung wurde von Thomas von Aquin eingeführt, indem er hinsichtlich des Mangels (absentia) zwischen einer Negation (negatio) und einer Privation (privatio) unterschied.6

Diese terminologische Genauigkeit erlaubt es, das malum einzugrenzen. Fehlt etwas, das nicht zur Natur eines Dinges gehört, stellt dies kein Übel, sondern lediglich eine Negation dar. Dass ein Stein nicht sehen kann, ist demnach nicht als Übel zu qualifizieren. Ein Mangel im Sinne eines malum dagegen besteht in einer Privation: Einem Ding fehlt etwas, das ihm seiner Natur nach eigentlich zukommen müsste. Wenn ein Mensch nicht sehen kann, so stellt dies eine Privation und somit ein tatsächliches Übel dar. Der Mangel an demselben Gut kann somit je nach Subjekt, von dem es ausgesagt wird, eine Negation oder aber eine Privation sein.

Auch ein Zuviel fällt unter die Definition des Bösen als Mangel an der idealen Natur eines Dinges. Das Vorhandensein einer zusätzlichen Zehe kann privationstheoretisch als Mangel an der für ein bestimmtes Lebewesen seiner Natur nach üblichen Anzahl Glieder beschrieben werden. Sowohl die Blindheit eines Menschen als auch das Vorhandensein von sechs Zehen stellen daher Übel im Sinne einer Privation dar, auch wenn im einen Falle tatsächlich etwas fehlt, im anderen aber ein zusätzliches Ding vorhanden ist. Das Wesen des Bösen als Privation am Guten zu bestimmen, leugnet nicht das wahrnehmbare Vorhandensein des Bösen, sondern thematisiert es als «nicht sein sollend». Es wird ausgesagt, wie die Welt im Idealfall den einzelnen Naturen entsprechend sein sollte. Alles, was dieser idealen, guten Ordnung in concreto nicht entspricht, stellt einen Mangel an dieser Ordnung dar. Die Bestimmung des Bösen als Privation leistet theologisch gesehen sehr viel: Die biblisch grundgelegte Auffassung, dass alles Geschaffene sehr gut ist (vgl. Gen 1,31), wird gewahrt, indem das Böse nicht geschaffen wurde, sondern als aktueller Mangel an der gut geschaffenen Wirklichkeit auftritt. Weiter wird das Böse so als parasitär, sekundär und kontingent ausgewiesen.

Die Herkunft des Bösen

Doch wie kann es überhaupt zu Privationen kommen? Was ist als Ursache und Herkunft des Bösen zu bestimmen? Wenn die gesamte Wirklichkeit über das Gute definiert wird, legt sich der Schluss nahe, dass das Gute selbst Ursache des Bösen sein muss. Doch wie kann dies sein? Das Böse wird nicht von Gott verursacht. Denn als vollkommen Gutes bewirkt Gott nur Gutes. Alles, was aus Gott hervorströmt, alles, was von ihm erschaffen ist, ist gut. Deswegen kann auch das geschaffene Gute nicht per se Ursache des Bösen sein, sondern nur in einem akzidentellen Sinn (per accidens), unfallartig.7 Das Gute strebt nach dem Guten. Das Böse wird deswegen nicht unter dem Aspekt, dass es Böse ist, angestrebt, sondern als vermeintlich Gutes.8 So wird ein geschaffenes Gutes zur unfallartigen Ursache eines Bösen, indem es dieses als Quasi-Gutes anstrebt. Wenn jemand z. B. aus gesundheitlichen Gründen keine Schokolade essen darf und dies trotzdem tut, so macht er dies nicht, um seiner Gesundheit bewusst etwas Schädliches zu tun, sondern unter dem Aspekt des kurzzeitigen genussvollen Vergnügens. Auch den Lastern liegen letztlich an sich gute, lebensförderliche Triebe zugrunde. Jedoch werden sie nicht massvoll angestrebt bzw. nicht in der richtigen Güterordnung, indem die lastervollen Genüsse zu einem absoluten Wert erhoben werden, dem alles andere untergeordnet wird. Aufgrund dieser an sich guten Struktur, welche den Lastern zugrunde liegt, sind sie so gefährlich und schwierig zu überwinden, da die Grenze zwischen Mass und Übermass fliessend ist. Wird ein Übel von einem anderen Übel hervorgebracht, so ist auch dies letztlich auf ein (korrumpiertes) Gutes als Ursache des Übels rückführbar: Das Übel, welches ein Übel verursacht, ist nämlich selbst nichts anderes als ein beschädigtes Gutes; so beispielsweise auch der Berg, der bei einem Bergsturz ein Haus zerstört.

Der Mensch als Akteur des Bösen

In der christlichen Tradition lassen sich insbesondere zwei Formen des Bösen unterscheiden: Einerseits gibt es natürliche, andererseits moralische Übel, wobei in letzterem Bereich Sünde (malum culpae) und Strafe (malum poenae) anzusiedeln sind. Hier gerät der Mensch als Akteur des Bösen in den Blick, woraus eine sündenfall-freiheitstheoretische Erklärungslinie der Herkunft des Bösen resultiert. Mit Blick auf das natürliche Übel ist festzuhalten, dass das Böse als Privation mit dem Faktum des Geschaffenseins zusammenhängt: Gott als vollkommenes Gutes schafft von ihm verschiedenes und somit unvollkommenes Gutes, welches aufgrund dieser Unvollkommenheit anfällig für Mängel ist. Wie schon in Plotins (204–270 n. Chr.) Enneaden9 wird die – entgegen Plotins Bestimmung selbst gute10 – Materie als der Ort bestimmt, an dem Privationen auftreten können. Das Böse ist so auch mittels einer schöpfungstheologischen Begründungslinie erklärbar.

Da das Geschaffene – die materielle Wirklichkeit – unvollkommen ist, kann an ihr Übles auftreten. Das geschaffene Gute wird so als Herkunft des Bösen bestimmt. Je komplexer ein Geschaffenes ist, je vollkommener es sein und werden kann, aber noch nicht ist, desto anfälliger ist es für das Böse. An einem Stein können daher niemals so grosse Übel auftreten wie an einem Menschen, der gerade auch aufgrund seiner Freiheit zwar zu hoher Gutheit fähig ist, aber diese erst verwirklichen muss. Auch in dieser Begründungslinie gerät somit der Mensch als hohes und zu grosser Vollkommenheit fähiges Wesen – es sei das Stichwort Gottebenbildlichkeit als Auftrag und Anspruch genannt – in besonderem Masse als Auftretungsort und Ursache des Bösen in den Blick.

Beide Begründungsstränge, der sündenfall-freiheitstheoretische und der schöpfungstheologische, lassen das geschaffene Gute als Ursprung des Bösen in den Blick treten. Am Guten tritt das Böse auf, aber es wird auch vom Guten oder beschädigtem Guten per accidens verursacht. Die Möglichkeit zum Bösen, die mit dem Faktum des Geschaffenseins gegeben ist, auszuschliessen, wäre nur durch Verzicht auf die Schöpfung möglich.

Viktoria M. A. Vonarburg

 

1 Zur Bedeutungsvielfalt der beiden Worte und den deutschen Übersetzungen, z. B.: Schäfer, Christian, Unde malum? Die Frage nach dem Woher des Bösen bei Plotin, Augustinus und Dionysius, Würzburg 2002, 16–28.
2 Vgl. z. B. Thomas von Aquin, de malo q. 1 c.; diese Reihenfolge findet sich bereits bei Plotin, Enneaden I,8, 1 und Augustinus.
3 Vgl. z. B. Augustinus, De civ. Dei XI,9; Pseudo-Dionysius Areopagita, De Div. nom. IV.
4 Nach: Thomas von Aquin, ScG III,15; vgl.: Augustinus, De civ. Dei XII,3; Conf. VII,12.
5 Vgl. z. B. DH 800 sowie DH 1333. Dies sagt aber nichts über den moralischen Zustand einer Person aus, sondern nur über sie selbst als von Gott geschaffene und gewollte Kreatur.
6 Vgl. Thomas von Aquin, ScG III,6 f.; III,13; de malo q. 1. aa. 2 f.; STh I, q. 48, a. 3 c.7 Vgl. ders., de malo q. 1, a. 3 c.
8 Nach: ebd.; vgl. Platon, Menon 77e. Diese Sichtweise kennt eine lange Tradition; sie wurde bereits von Sokrates vertreten. Dass ein Mensch dagegen das Böse als Böses anstreben kann, stellt eine moderne Sichtweise dar.
9 Vgl. Plotin, Enneaden I,8,1–5.
10 Vgl. Thomas von Aquin, de malo q. 1, a. 2 c.; ScG III,3.

Buchtipp

Viktoria Vonarburg, De origine mali. Die biblisch-philosophische Herkunft des Bösen insbesondere bei Thomas von Aquin und Rabbi Moshe ben Maimon, Paderborn, erscheint im Juni 2018.
ISBN: 978-3-506-78885-6, CHF 117.80, bestellbar bei www.schoeningh.de


Viktoria M. A. Vonarburg

Die Autorin untersucht in ihrem Buch die Herkunft des Bösen und analysiert das Zusammenspiel der natürlichen Begrenztheit des eschaffenen und der menschlichen Freiheit. Dabei werden u. a. ausgewählte Positionen der philosophischen Theodizee-
debatte hinzugezogen.