Zum zweiten Band des Jesus-Buches von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.
Über die Arbeitskraft von Papst Benedikt XVI. kann man nur staunen. Mit rund 85 Jahren neben dem äusserst anspruchsvollen Dienst als oberster Leiter der Kirche in einer wahrhaftig nicht einfachen Zeit in nur vier Jahren nebenbei ein Buch von über 360 Seiten zu verfassen, ist mehr als bemerkenswert. Und es ist keineswegs ein schnell hingeworfener Text, sondern sorgfältig erarbeitet und – wie man es von ihm gewohnt ist – in eleganter, geschliffener Sprache geschrieben: «Jesus von Nazareth. Band II: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung.» (Herder Verlag) Freiburg 2011.1 Im Folgenden soll versucht werden, das Werk vorzustellen, zu würdigen und einige Fragen aufzuwerfen, vor allem aus der Sicht eines Exegeten.
Ein zusammenfassender Blick auf den Inhalt des Buches
In neun Kapiteln2 behandelt Benedikt die Ereignisse vom Einzug Jesu in Jerusalem bis zu seiner Auferstehung. Ein «Ausblick» auf die Himmelfahrt, das Sitzen zur Rechten Gottes und die Wiederkunft in Herrlichkeit schliesst das Buch ab.
Der Einzug in Jerusalem und die Tempelreinigung (15–38) sind nur auf dem Hintergrund des Alten Testaments zu verstehen. Der Bezug auf Gen 49,10–11; Sach 9,9 und Ps 118 gilt in der Sicht des Papstes nicht nur für die Schilderungen der Evangelien, sondern ist von Jesus selbst beabsichtigt. Mit dem königlichen Einzug erhebt er «in der Tat einen königlichen Anspruch. Er will seinen Weg und sein Tun von den Verheissungen des Alten Testaments her verstanden wissen, um in ihm Wirklichkeit zu werden» (19).3 Die Deutung der Tempelreinigung ist in der Exegese unter historischem Gesichtspunkt kontrovers. So war sie in der Interpretation von Robert Eisler (1930) und einer Anzahl von Interpreten der 68er-Jahre (z. B. Samuel George Brandon) der Auftakt zu einer politischen Revolution im Sinne der Zeloten. Der Papst hat dafür, wie erwartet, keine Sympathie. Im Blick auf das Logion in Mk 11,17 verweist er vielmehr auf «die universalistische Vision » (32) von Jes 56,7, nach der alle Völker im Tempel den einen Gott anbeten werden. Das entspricht der Grundsicht, die Benedikt in seinem Buch konsequent vertritt: Jesus habe vor allem Gott zu den Menschen gebracht. «Gerade um diese Grundsicht geht es seinem Wort gemäss in der Tempelreinigung » (32). Im Stichwort «Räuberhöhle» sei ausserdem ein versteckter Hinweis auf die Zerstörung des Tempels enthalten. In Joh 2,19–21 («er aber meinte den Tempels eines Leibes») sieht Benedikt in der Tempelreinigung die Ablösung des Tempels durch einen neuen Kult «im Geist und in der Wahrheit» (Joh 4,23) angekündigt.
Die eschatologische Rede Jesu (39–68) hält der Papst für «den schwierigsten Text der Evangelien überhaupt» (42). Er verortet ihn in den Ereignissen in Jerusalem um das Jahr 70 und räumt ein, «dass es sich dabei nicht um eine neu gefundene Beschreibung des Kommenden, wie man es von Hellsehern erwartet» (67), handelt. Jesus will das Weltende nicht beschreiben, «sondern es mit schon gegebenen Worten des Alten Testaments» (67) ankündigen und uns «heute für jetzt und morgen den rechten Weg» (68) zeigen. Aber auch wenn Benedikt offen lässt, «wie weit die einzelnen Details der eschatologischen Rede Jesu auf sein eigenes Wort zurückgehen» (50), steht für ihn ausser Zweifel, «dass er das Ende des Tempels – und zwar sein heilsgeschichtliches Ende – vorausgesagt hat» (50). Dabei ist ihm wichtig, dass dieses Ende nicht erst mit der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 eingetreten sei, sondern mit dem Tod und der Auferstehung Jesu (52). Er beruft sich für diese Sicht auf den Stephanus-Prozess (Apg 6,14) und auf Paulus (Röm 3,23–25).
Besonders ausführlich geht Benedikt in seinem Buch auf das Letzte Abendmahl Jesu ein. Zunächst widmet er ein eigenes Kapitel der Fusswaschung (69–92), die nur im Johannesevangelium (13,1–20) erzählt wird. Er deutet sie im Gefolge der Kirchenväter als sacramentum und exemplum, als Gabe und Auftrag (78–82). Die Gabe entfaltet er am Begriff der Reinheit. Es sind nicht rituelle Handlungen, die rein machen. «Die Gebärde der Fusswaschung drückt eben dies aus: Es ist die dienende Liebe Jesu, die uns aus unserem Hochmut herauszieht und uns gottfähig, ‹rein› macht» (74). Das Bad der Reinigung ist die Liebe Jesu bis zum Tod. Das im Gespräch mit Petrus (Joh 13,10) «vorausgesetzte Vollbad kann nur die Taufe meinen» (90).
In seiner Deutung des ebenfalls nur im Johannesevangelium enthaltenen sog. Hohepriesterlichen Gebets Jesu (93–119) nimmt der Papst die (von nur wenigen Exegeten übernommene) These von André Feuillet (1972) auf, «dass dieses Gebet nur auf dem Hintergrund der Liturgie des jüdischen Versöhnungsfestes (Jom ha-Kippurim) zu verstehen ist» (95), und deutet es als «Vollzug des Versöhnungstages, das gleichsam für immer zugängliche Versöhnungsfest Gottes mit den Menschen» (97). Als «Vollzugsform der Selbstgabe Jesus (…) stellt es den neuen Kult dar und ist von innen her mit der Eucharistie verbunden» (98). Das Gebet zeigt Jesus als den Hohepriester des Versöhnungstages. «Insofern entspricht die Theologie von Joh 17 genau dem, was der Hebräer-Brief im Detail ausführt» (97).
Ein besonders langes Kapitel (121–164) geht auf das Letzte Abendmahl selbst und die Einsetzung der Eucharistie ein. Benedikt kommt nicht darum herum, bei diesen besonders hart umstrittenen Texten die historische Frage zu stellen. Er tut es, aus exegetischer Sicht gesehen, recht moderat. «Von der Frage der wirklichen Historizität der wesentlichen Ereignisse können wir uns nicht dispensieren» (122), wie er schreibt. Aber er ist sich bewusst, dass die historische Vergewisserung «nie zu einer letzten und absoluten Gewissheit über Einzelheiten führen kann» 123). Auch bezüglich der Einsetzungsworte Jesu geht er davon aus, «dass es die Überlieferung der Worte Jesu nicht ohne Rezeption durch die werdende Kirche gibt, die sich streng zur Treue im Wesentlichen verpflichtet wusste, aber sich auch bewusst war, dass die Schwingungsbreite der Worte Jesu mit ihren subtilen Anklängen an Worte der Schrift in Nuancen Gestaltungen zuliess» (147–148). In der Frage der Datierung des letzten Abendmahles, die auf Grund der Diskrepanz zwischen den Synoptikern und dem Johannesevangelium kontrovers ist, hält Benedikt mit einem Teil der heutigen Exegeten (z. B. John P. Meier) die johanneische Chronologie für wahrscheinlicher. Jesu Letztes Abendmahl war demzufolge kein Pascha-Mahl, sondern ein «Mahl ganz besonderer Art (…), das keinem bestimmten jüdischen Ritus zugehörte, sondern sein Abschied war, in dem er Neues gab, sich selbst als das wahre Lamm schenkte und damit sein Pascha stiftete» (133). Unter dem Titel «Theologie der Einsetzungsworte » macht der Papst im Blick auf das Judentum die brisante Feststellung: «In der doppelten Aussage vom Danken und Teilen zu Beginn des Einsetzungsberichts wird das Wesen des neuen Kultes sichtbar, den Christus in Abendmahl, Kreuz und Auferstehung gestiftet hat: Darin wird der alte Tempelkult aufgehoben und zugleich zu seiner Erfüllung gebracht » (150). Angesichts der Kontroversen um eine Neuübersetzung der Einsetzungsworte ins Deutsche ist seine vorsichtige Besprechung des Ausdrucks «für viele» im Kelchwort interessant. Mit der Gesamtheit des Neuen Testaments («in kristallener Klarheit» ausgesprochen in 1 Tim 2,6) hält er auf jeden Fall an der «universalen Heilsbedeutung von Jesu Tod» (157) fest, wie immer man «für viele» verstehen und übersetzen mag. «Wenn mit ‹viele› bei Jesaja wesentlich die Gesamtheit Israels gemeint sein mochte, so wird in der gläubigen Antwort der Kirche auf Jesu neuen Gebrauch des Wortes immer mehr sichtbar, dass er in der Tat für alle gestorben ist» (158).
Es folgt das Kapitel über Gethsemani (165– 188), das weniger Anlass zu exegetischen Auseinandersetzungen, aber umso mehr zu theologischer und spiritueller Vertiefung gibt. Der wiederholte Ruf Jesu zur Wachsamkeit im Zusammenhang mit seiner Endzeitverkündigung erhält in der Ölbergszene bildhaften Ausdruck und weist «voraus in die kommende Geschichte der Christenheit. Die Schläfrigkeit der Jünger bleibt die Jahrhunderte hindurch die Chance für die Macht des Bösen» (173). Das Beten Jesu selber bringt «zunächst die Urerfahrung der Angst, die Erschütterung angesichts der Macht des Todes» (175) zum Ausdruck, dann aber auch das Ringen mit dem Willen des Vaters, dem sich Jesus unterwirft. «Nirgends sonst in der Heiligen Schrift schauen wir so tief in das innere Geheimnis Jesu hinein wie im Ölberggebet» (179). Hier bietet sich für den Theologen Ratzinger die Gelegenheit, ausführlich auf den christologischen Streit der alten Kirche um den «Monophysitismus» und den «Monotheletismus » einzugehen. Aus dieser Sicht erklärt er das Gebetsringen Jesu am Ölberg: «Die zwei Teile des Gebetes Jesu erscheinen als das Gegenüber von zweierlei Willen: Da ist der ‹Naturwille› des Menschen Jesus, der sich gegen das Ungeheuerliche, Zerstörerische des Geschehens sträubt und das Vorübergehen des Kelches erbitten möchte; und da ist der ‹Sohneswille›, der sich ganz in den Willen des Vaters hineingibt » (177). Er schliesst das Kapitel ab mit einem Blick auf Hebr 5,7 und wertet ihn für die Deutung des Gebets Jesu in Gethsemani aus: Für den Hebräerbrief «ist dieses Schreien und Bitten Vollzug des Hohepriestertums Jesu. Gerade in seinem Schreien, Weinen und Beten tut Jesus das, was der Hohepriester ist: Er trägt die Not des Menschseins zu Gott hinauf. Er bringt den Menschen vor Gott» (186).
Im Kapitel über den Prozess Jesu (189–224) muss Benedikt von der exegetischen Situation her wieder stärker auf Kontroversen historischer Art eingehen. Die nicht ganz zu klärende Abfolge von Ratsversammlungen, Verhören und Prozessen vor den verschiedenen Instanzen, die zur Verurteilung Jesu führte, ist in den einzelnen Evangelien nicht übereinstimmend dargestellt. Benedikt nimmt – wiederum im Blick auf das Johannesevangelium – drei Etappen an: «eine Ratsversammlung im Hause des Kajaphas, das Verhör Jesu vor dem Synedrium und schliesslich den Prozess vor Pilatus» (190).
1) In einer Vorversammlung des Synedriums wird über Jesus der Todesbeschluss gefällt. Dabei überlagern sich politische und religiöse Gesichtspunkt sowie Machtinteressen der Hannas-Dynastie (193). Besondere Aufmerksamkeit widmet der Papst der unbewussten «Prophezeiung» des HohepriestersKajaphas: «Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht. Das sagte er nicht aus sich selbst, sondern weil er der Hohepriester jenes Jahres war, sagte er aus prophetischer Eingebung, dass Jesus für das Volk sterben werde» (Joh 11,50–51). Darin leuchtet «das Geheimnis der Stellvertretung (…) auf, das der tiefste Inhalt von Jesu Sendung ist» (195). Ausserdem kommt darin das «merkwürdige Ineinander» (194) des göttlichen Heilswillens und des Strebens der involvierten Menschen zum Ausdruck.
2) Bei der Verhandlung gegen Jesus vor dem Hohen Rat handelte es sich, wie es Benedikt mit vielen Exegeten sieht, «nicht um einen eigentlichen Prozess, sondern um ein eingehendes Verhör» (199). Zwei Anklagen lagen nach der Tempelreinigung Jesu in der Luft: Dass Jesus sie als Angriff auf den heiligen Ort meinte, liess sich allerdings im Prozess wegen der widersprüchlichen Zeugenaussagen nicht belegen. Was aber schwerer wog: In den Tempelreden Jesu zeigte sich sein messianischer Anspruch, «durch den er sich irgendwie in Einheit mit Gott selbst setzte und so der Grundlage von Israels Glauben, dem Bekenntnis zu dem einen und einzigen Gott, zu widersprechen schien» (200 f.). Diesen Punkt wollte die Frage des Hohepriesters klären. Benedikt räumt ein: Auch hier sei wie bei den Abendmahlsworten «eine strikte Rekonstruktion der Kajaphas-Frage und der Antwort Jesu nicht möglich. Das Wesentliche des Vorgangs erscheint dennoch in den drei Brechungen durchaus eindeutig und klar» (202). Der Anspruch auf den Messias-Titel an sich hätte nicht als Gotteslästerung gewertet werden können. Aber die Verbindung des Messias-Titels mit dem «Menschensohn», der auf den Wolken des Himmels kommen und zur Rechten der Macht sitzen wird, «das heisst in der Weise des danielischen Menschensohns zu kommen, von Gott her, um von ihm her das endgültige Reich zu errichten » (104 f.), war theologisch unannehmbar; «denn damit war nun in der Tat eine Nähe zur ‹Macht›, eine Teilhabe an Gottes eigenem Wesen angesagt, die als lästerlich verstanden wurde» (205). So wurde Jesus der Blasphemie für schuldig befunden, worauf die Todesstrafe stand.
3) Die Todesstrafe konnte aber nur der römische Präfekt Pontius Pilatus aussprechen. Um das zu erreichen, musste die politische Seite der Anklage hervorgehoben werden: «Der Anspruch auf das messianische Königtum war ein politisches Vergehen, das von der römischen Justiz geahndet werden musste » (207). An dieser Stelle erörtert der Papst die unseligerweise immer wieder behauptete Kollektivschuld des jüdischen Volkes am Tode Jesu. Das Johannesevangelium meine an dieser Stelle mit der generellen Bezeichnung «die Juden» die Tempel-Aristokratie, aus deren Mitte die Anklage gegen Jesus kommt. Auch bei Markus sei mit der «Volksmenge», welche die Kreuzigung Jesu verlangt, nicht das jüdische Volk als solches gemeint. «Faktisch handelt es sich bei diesem ‹Haufen› um die für die Amnestie mobilisierte Anhängerschaft des Barabbas, der als Aufrührer gegen die römische Macht natürlich auf eine Anzahl von Freunden rechnen durfte (…), während die Anhänger Jesu aus Furcht verborgen blieben» (209). In Bezug auf das fürchterliche Wort von Matthäus 27,25 («Sein Blut komme über uns und unsere Kinder ») schliesst sich Benedikt der Sicht von Joachim Gnilka4 an, «dass Matthäus – das Historische übersteigend – eine theologische Ätiologie formulieren wollte, mit der er sich das furchtbare Geschick Israels im Jüdisch-Römischen Krieg erklärt» (210). Im Blick auf Hebr 12,24 und Röm 3,23–25 fügt der Papst eine «tiefere» Deutung des furchtbaren Blut-Wortes an: «Vom Glauben her gelesen heisst es, dass wir alle die reinigende Kraft der Liebe brauchen, die sein Blut ist. Es ist nicht Fluch, sondern Erlösung, Heil» (211). Ein eindrücklicher spiritueller Gedanke, der sich allerdings im Literalsinn des Textes nicht findet! In der Schilderung des Prozesses vor Pilatus folgt Benedikt im Ganzen dem Johannesevangelium. Das Kapitel über Kreuzigung und Grablegung Jesu (225–264) beginnt mit einer hermeneutischen Vorüberlegung über «Wort und Ereignis im Passionsbericht » (226–229). Alle vier Evangelisten erzählen die letzten Stunden Jesu «übereinstimmend in den grossen Linien des Geschehens, aber mit unterschiedlichen Akzentuierungen in den Details» (226). Nicht ganz klar wird, wie Benedikt die Historizität diesbezüglich beurteilt. Grundsätzlich weiss er: «Hinter dieser besonderen Weise des Erzählens steht ein Prozess des Lernens, den die werdende Kirche durchschritten hat und der für ihr Entstehen konstitutiv war» (226). Er betont auch, dass alttestamentliche Texte, besonders Ps 22 und Jes 53, dabei von grundlegender Bedeutung waren. So schreibt er etwa in Bezug auf den Verlassenheitsruf Jesu am Kreuz (Mk 15,34): «Erst die glaubende Gemeinde hat den von den Umstehenden nicht verstandenen und missdeuteten Schrei Jesu als das Anfangswort des Psalms 22 begriffen und ihn von daher als messianischen Ruf verstehen können» (237). Aber diese Deutung der Urkirche betrifft offenbar für Benedikt die Faktizität der erzählten Geschehnisse nicht: «Nicht die Schriftworte haben die Erzählung von Fakten hervorgerufen, sondern die zunächst unverständlichen Fakten haben zu einem neuen Verstehen der Schrift geführt» (227). So sieht er die Worte an Maria und Johannes in Joh 19,25–27 unter dem Kreuz als historisch an: «Wenn Johannes solche menschlichen Vorgänge mitteilt, will er durchaus Geschehenes festhalten. Aber es geht ihm doch um mehr als einzelne vergangene Fakten. Das Geschehen weist über sich hinaus ins Bleibende hinein» (245). Wenn der Papst dann feststellt, «nach den Berichten der Evangelien» (246) sei Jesus betend gestorben, stimmt das eigentlich nur für das Lukasevangelium (23,46). Nach Mk 15,37 und Mt 24,50 stirbt Jesus mit einem unartikulierten, lauten Schrei; sein letzter Gebetsruf kurz davor war ein Ausdruck der Verlassenheit aus Ps 22,2. Dieses ungetröstete, fast verstörende Sterben Jesu nimmt Benedikt zu wenig ernst, wenn er sogleich den sieghaften Ruf «Es ist vollbracht» (Joh 19,30) anfügt und das Ende Jesu von daher als «äusserste Vollendung des Liebens (…) in dem Augenblick des Todes» (247) deutet. Wenn man sich von der Fixierung auf die Fakten löst, sind hier unterschiedliche gläubige Deutungen des Sterbens Jesu zu entdecken, die sowohl theologisch wie spirituell jeweils auf ihre Weise von grosser Tiefe sind. Schliesslich vertieft der Papst die Deutung des Todes Jesu «als Versöhnung (Sühne) und Heil» (254–264). Schon im Zusammenhang des Kelchwortes beim Letzten Abendmahl hatte er zugegeben, dass der Sühnegedanke «dem modernen Empfinden nicht nachvollziehbar» (139) sei. Nun versucht er vor allem vom Römerbrief her das richtige Verständnis dieser für ihn unverzichtbaren theologischen Deutung des Todes Jesu, die er dem historischen Jesus selbst zuschreibt.5 Er versucht zu widerlegen, dass dahinter ein «grausamer Gott, der unendliche Sühne verlangt» (256) stehe. «Es ist genau umgekehrt: Gott selbst richtet sich als Ort der Versöhnung auf und nimmt das Leid in seinem Sohn auf sich» (256). Und er besteht darauf: «Das Geheimnis der Sühne darf keinem besserwisserischen Rationalismus geopfert werden» (264). Um den Sühnegedanken Menschen von heute (nicht nur «Rationalisten») begreiflich zu machen, sind wohl über das Jesusbuch des Papstes hinaus erhebliche religionspädagogische Anstrengungen nötig. Erfolgreicher ist es vielleicht doch, das Gewicht auf andere, ebenso tiefe und ebenso biblische Deutungen des Todes Jesu zu legen (z. B. von Joh 15,13 aus), die für heutige Menschen leichter zugänglich sind und weniger die Gefahr in sich bergen, das Gottesbild in schwerster Weise zu beschädigen. In einem letzten Kapitel behandelt der Papst «die Auferstehung Jesu aus dem Tod» (265–302). Dieses Kapitel dürfte es in einem streng historisch ausgerichteten «Leben Jesu» nicht geben. Da es Benedikt aber um die Gestalt Jesu im Sinne des «Christus des Glaubens» geht, ist es für ihn «der entscheidende Punkt. Ob Jesus nur war oder ob er auch ist – das hängt an der Auferstehung» (267). Er ist sich bewusst, dass das Auferstehungszeugnis, «historisch betrachtet, uns in besonders komplexer Form entgegentritt und viele Fragen aufwirft» (267). An der Realität der Auferstehung hält er fest: Sie war «für die Jünger so real (...) wie das Kreuz» (270), und zwar «ein Ereignis in der Geschichte, das doch den Raum der Geschichte sprengt und über sie hinausreicht» (299). Sie hat «ihren Anfang in der Geschichte selbst und gehört ihr ein Stück weit zu» (300), führt aber über die Geschichte hinaus und «hat eine Fussspur in der Geschichte hinterlassen» (300–301). Eine Erklärung versucht Benedikt mit Hilfe eines modernen Begriffs: Wir können sie «als so etwas wie einen ‹Mutationssprung› ansehen, in dem sich eine neue Dimension des Lebens, des Menschseins auftut (…). Der Mensch gehört nun gerade auch mit seinem Leib ganz und gar der Sphäre des Göttlichen und Ewigen zu» (299). Diese Erklärungsversuche sind weitgehend konsensfähig, auch wenn sie die Grenzen der historischen Fragestellung nicht deutlich genug benennen. Bei aller Beredsamkeit Benedikts sind sie ein weiteres Zeugnis der Hilflosigkeit, die jeder Interpret vor der näheren Beschreibung der Auferstehung erfährt. Diese Hilflosigkeit spiegelt sich noch deutlicher in den Überlegungen zur Eigenart der Erscheinungen des Auferstandenen (290–297). Ausführlich geht der Papst auf die beiden Stränge der Auferstehungstradition ein: die «Bekenntnistradition » und die «Erzähltradition». Während die Bekenntnistradition «das Wesentliche in kurzen Formeln, die den Kern des Geschehens festhalten wollen» (273), kristallisiert, sind die Erzählungen von den Erscheinungen des Auferstandenen «nicht in der gleichen Weise wie die Bekenntnisse in allen Einzelheiten verbindlicher Massstab; wohl aber sind sie durch ihre Aufnahme in die Evangelien als gültige Zeugenschaft zu betrachten, die dem Glauben Inhalt und Gestalt gibt» (286). Bezeichnenderweise handelt Benedikt die viel diskutierte «Frage des leeren Grabes» im Rahmen der (verbindlichen) Bekenntnistradition ab. Er räumt ein, «dass das leere Grab kein Beweis für die Auferstehung sein könne» (279). Mit vielen Exegeten (Benedikt nennt Thomas Söding und Ulrich Wilckens) hält er aber fest, «dass im Jerusalem von damals die Verkündigung der Auferstehung schlechterdings unmöglich gewesen wäre, wenn man auf den im Grab liegenden Leichnam hätte verweisen können» (279). Dazu kommt das einhellige Zeugnis aller vier Evangelien. So hält der Papst fest, «dass das leere Grab als solches gewiss die Auferstehung nicht beweisen kann, dass es aber eine notwendige Bedingung für den Auferstehungsglauben ist» (280–281). Das Bucht schliesst mit einem Ausblick: Aufgefahren in den Himmel – er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (303–318), der kurz auf die Ereignisse nach Ostern und auf den Verkündigungsauftrag der Jünger und der Kirche eingeht.
Zur literarischen Gattung des Buches
Nach Erscheinen des ersten Bandes wurde oft die Frage erörtert, welchem Genus literarium das Jesusbuch des Papstes zuzuordnen sei. Ist es ein «LebenJesu», das die historischen Fragen der Jesusforschung im Sinne Benedikts klären will? Sein dezidierter Positionsbezug zur historisch-kritischen Exegese und zu historischen Fragen scheinen in diese Richtung zu weisen. Oder zeichnet es ein Jesusbild aus der Sicht der dogmatischen Christologie? Jedenfalls plädiert es für eine «eigentlich theologische Interpretation der Bibel»,6 die einen Glaubensentscheid voraussetzt. Oder ist es eher ein spirituelles Buch? Darauf scheint Benedikt hinzudeuten, wenn er es «einzig als Ausdruck seines persönlichen Suchens ‹nach dem Angesicht des Herrn› (vgl. Ps 27,8)»7 bezeichnet. Die Frage wurde von den Rezensenten unterschiedlich beantwortet. Entsprechend disparat fielen die Würdigungen aus. Die einen kritisierten Mängel des Buches aus historisch-kritischer Sicht. Andere bewunderten seine theologischen Qualitäten. Wieder andere waren beeindruckt von seiner spirituellen Tiefe. Fast alle lobten den gekonnten Umgang mit der Sprache. Im Vorwort zum zweiten Band geht der Papst auf die Frage nach der literarischen Gattung ein (12–14). Er wollte kein «Leben Jesu» schreiben; dafür verweist er auf die Werke von Joachim Gnilka und John P. Meier.8 Er habe auch nicht versucht, eine Christologie zu verfassen; der deutsche Sprachraum verfüge über eine Reihe bedeutender Christologien «von Wolfhart Pannenberg über Walter Kasper zu Christoph Schönborn, denen nun das grosse Opus ‹Jesus ist Gott der Sohn› (2008) von Karl-Heinz Menke an die Seite zu stellen» (12) sei. Näher an seiner Absicht liege «der Vergleich mit dem theologischen Traktat über die Geheimnisse des Lebens Jesu, dem Thomas von Aquin in seiner ‹Summe der Theologie› klassische Gestalt gegeben hat (S. theol. III q. 27–59)» (12). Es sei ihm darum gegangen, die «Gestalt und Botschaft Jesu» (13) darzustellen. «Ein wenig übertreibend könnte man sagen, ich wollte den realen Jesus finden, von dem aus so etwas wie eine ‹Christologie von unten› überhaupt möglich wird» (13). Dafür habe er eine doppelte Hermeneutik verwendet. Die historisch-kritische Auslegung bleibt für ihn gültig; aber er bezeichnet sie als «positivistisch» (11). Sie muss «einen methodisch neuen Schritt tun und sich neu als theologische Disziplin erkennen, ohne auf ihren historischen Charakter zu verzichten» (11). Dazu brauche es «eine recht entfaltete Hermeneutik des Glaubens» (11). Mit dieser doppelten Hermeneutik habe er «versucht, ein Hinschauen und Hinhören auf den Jesus der Evangelien zu entwickeln, das zur Begegnung werden kann und sich im Hinhören mit den Jüngern Jesu aller Zeiten doch gerade der wirklich historischen Gestalt vergewissert » (13). Diese Erläuterungen zur Hermeneutik und zum Genus literarium seines Buches führen zwar etwas weiter, klären aber die Fragen nicht wirklich. Die Schnittstelle zwischen historischem Fragen und theologischem Deuten bleibt ungeklärt,9 ebenso das Verhältnis der spirituellen Vertiefung zu beidem. Jedenfalls möchte der Papst sowohl exegetisch wie theologisch Gültiges schreiben, wobei für ihn offensichtlich die Theologie (im Sinne der gängigen katholischen Christologie) über den Wert und die Gültigkeit der exegetischen Aussagen entscheidet. Dabei ist die Vorliebe für das Johannesevangelium und für die Theologie der Kirchenväter unübersehbar. Der gewiss nicht als Papstkritiker bekannte Neutestamentler Thomas Söding bezeichnet das Buch als «geistliche Schriftlesung mit wissenschaftlichem Hintergrund und theologischem Anspruch».10