Prävention sexueller Missbrauch: Hin zu einer angstfreien Kirche

Der Holzsteg von Rapperswil-Jona nach Hurden steht seit 2001 anstelle des alten Steges. Der Steg ist 841 m lang und steht auf 233 Pfählen. Als letzter Überrest des früheren Pilgerweges ist die unter Denkmalschutz stehende Brückenkapelle, das Heilig Hüsli, erhalten geblieben. (Bild: Maria Hässig)

 

Seit dem Tag der Auferstehung Jesu Christi lebt die Kirche in einer andauernden Verzögerung des Empfindens. Jesus Christus ist bereits auferstanden, das Leben hat sich bereits endgültig durchgesetzt. Die Jünger sind aber anfänglich noch voller Angst, bestürzt, haben grosse Zweifel und bleiben gemeinsam hinter verschlossenen Türen (vgl. Lk 24,36–39; Joh 20,19–23).

Und heute? Wie würden wir unser gegenwärtiges Empfinden beschreiben? Seit Jahrzehnten leidet die katholische Kirche unter der Last sexuellen Missbrauchs, von Vertuschungen und klerikalem Egoismus. Sie bleibt wie verschüttet und begraben unter dem Verlust ihrer Glaubwürdigkeit. Viele Menschen haben das Vertrauen in die Kirche verloren, haben grosse Zweifel und ein grosses Misstrauen, sind bestürzt und fragen sich: Wie konnte all dies ausgerechnet in der Kirche geschehen? Viele kirchliche Verantwortliche fühlen sich überfordert und ohnmächtig angesichts dieser Situation. Die andere Realität: Die Wirklichkeit der Auferstehung und die Gegenwart des Auferstandenen sind auch heute noch mehr als aktuell. Es ist höchste Zeit, dass wir alle die Botschaft des Herrn ernstnehmen: «Der Friede sei mit euch!» Die Kirche geht deshalb nicht zu Grunde, weil es Seine Kirche ist: «Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt» (Mt 28,20).

Bereits vor dem 12. September 2023, als der «Bericht zum Pilotprojekt zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts» des Historischen Seminars der Universität Zürich veröffentlicht wurde, noch intensiver danach, ist die katholische Kirche in der Schweiz dabei, verschiedene Massnahmen zu treffen, um eine angstfreie Kirche zu werden. Eine Kirche, in der jeder Mensch die Zuversicht haben kann: Hier werde ich respektiert, willkommen geheissen, kompetent unterstützt und begleitet. Es sind Massnahmen für einen sensiblen, wirksamen und professionellen Umgang mit allen Menschen, insbesondere mit Betroffenen von Missbrauch. Es geht dabei um eine umfassende Prävention von Machtmissbrauch und spirituellem sowie sexuellem Missbrauch. Dadurch werden wir erleben können, dass das verschüttete Leben der Kirche wieder seine ursprüngliche Vitalität erlangen kann.

«Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe» (1 Joh 4,18)

Lange haben wir Katholikinnen und Katholiken mehr als berechtigte Gründe dafür gehabt, uns zu fürchten. In unserer Kirche wurden Menschen nicht geliebt, sondern missbraucht, verraten, ausgenützt und zutiefst verletzt. Die Menschen hatten recht, sich vor der Kirche zu fürchten, weil sie in ihr alles andere als Liebe erfahren haben. Unser Gott jedoch, der ein Gott der Liebe und des Lebens ist, will, dass in seiner Kirche die Liebe obsiegt und dadurch alle Ängste beseitigt werden. Die Vorkehrungen und die Massnahmen, die in dieser Nummer der SKZ dargestellt und erklärt werden, möchten einen wirksamen Beitrag dazu leisten.

+Joseph Maria Bonnemain, Bischof von Chur