1. Europa und die Religion
Die Migration von Menschen nach Europa ist derzeit das Thema Nummer eins in der medialen Berichterstattung. Die zahlreichen dramatischen Bilder und Geschichten machen betroffen und fordern heraus. Humanitäre Hilfe ist angesagt, vor allem anderen. Angesichts der Krisensituation sind sich die politischen Entscheidungsträger und -trägerinnen darin einig, dass diese Hilfe allen Betroffenen unabhängig von ihrer nationalen Herkunft, ihrem Alter, ihrem Geschlecht und ihrer Religionszugehörigkeit zukommen muss. Die Welle der Solidarität in den Bevölkerungen Europas ist gross und zeigt ihr vielfältiges Gesicht in praktischer Weise an Ort und Stelle des Geschehens. Doch angesichts der aktuell grossen Zahl muslimischer Immigranten und Immigrantinnen macht sich da und dort auch die Sorge breit, die Sicherheit und Identität könnte dadurch gefährdet sein. Im Umfeld parteipolitischer Profilierungen wird die Diskussion um Verteilschlüssel und Asylpolitik nicht immer nur sachlich geführt, und am Vorabend der Parlamentswahlen wird das Thema der «fremden» Religion mitunter zur emotionalen Sache. Fragen nach dem Integrationspotenzial von Muslimen und Musliminnen werden hier ebenso verhandelt wie die Frage, ob Christen und Christinnen angesichts ihrer Verfolgung in islamischen Ländern im «christlich geprägten Europa» bevorzugt Asyl erhalten sollten.
Europa tut sich schwer mit der Religion, und dies nicht erst seit der konstanten Zuwanderung einer relativ hohen Zahl von Menschen aus islamischen Staaten.1 In Europa ist der Mythos, dass aus den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts der säkulare Staat entstanden sei und dass die Säkularisierung eine Bedingung für die Demokratisierung der Gesellschaft darstelle, tief verankert. Die Europäer und Europäerinnen haben aus ihrer eigenen Geschichte die Lehre gezogen, dass es gut sei, Religion, Politik und Wissenschaft voneinander zu trennen. Auch die Wissenschaft vertrat bis weit in die 1960er-Jahre die These, dass Prozesse der Modernisierung und Demokratisierung mit Prozessen der Säkularisierung einhergehen und dass die Religion in der funktional differenzierten Gesellschaft immer mehr zu einem Nischendasein gezwungen wird. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung Europas auch heute die Ansicht vertritt, Religiosität sei Ausdruck einer unaufgeklärten Denk-und Seinsweise und eine letztlich intolerante Kraft.
Zwar haben die europäischen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten gelernt, dass ihre Erfahrungen, Theorien und Ideale in Bezug auf das Zusammenspiel von Religion und Moderne keineswegs exemplarisch oder gar universal sind. Der Blick über Europa hinaus macht deutlich, dass Säkularisierung weder notwendig in die Demokratisierung führt noch dass Modernisierung zwingend eine säkularisierte Gesellschaft hervorbringt. Vielmehr sind ganz unterschiedliche Wechselwirkungen zwischen religiösen Entwicklungen und Prozessen der Modernisierung möglich.
Die Erfahrungen mit Menschen, die aus jenen Teilen der Welt nach Europa gelangen, wo Moderne und Religion nicht als Antithesen verstanden werden, hat die Wahrnehmung von Religion hier verstärkt. Denn durch diese Menschen verändert sich hierzulande nicht allein die religiöse Topografie, auch das eingespielte Verhältnis zwischen Religion und Öffentlichkeit wird herausgefordert. Doch genau das irritiert eine Gesellschaft, die Religion als Relikt aus vormodernen Zeiten erfolgreich gezähmt und in die Privatsphäre verwiesen hat. Wo Religion auf die Bühne der Gesellschaft zurückdrängt, wird sie entsprechend mit Skepsis beobachtet. Insbesondere die als «fremd» wahrgenommenen Religionen und ihre Exponenten – allen voran die islamischen, – stehen unter Verdacht, das Säkularisierungsprojekt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden.2 Untersuchungen zeigen, dass dem Islam in den autochthonen Bevölkerungen Europas nicht zuletzt aufgrund der mehrheitlich problemorientierten Berichterstattung ein schlechtes Image anhaftet. Ihre wachsende Organisiertheit, ihre Sichtbarkeit und ihre Forderungen nach Anerkennung führen vor Augen, dass die religiöse Pluralisierung der Schweiz zu einem Faktum geworden ist.
2. Der Integrationsdiskurs
Pluralisierungsprozesse lösen nicht nur Konkurrenzen und Auseinandersetzungen um Ressourcen aus, sie stellen auch das eigene Selbstverständnis und die eigene Routine in ein anderes Licht. Die Präsenz der anderen ist eine Anfrage an die eigene Identität und ist oft verbunden mit der Sorge um Kontinuität und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Pluralisierte Gesellschaften, so zeigt die Geschichte, sind bestrebt, den Prozess des Zusammenlebens durch politische Leitlinien zu steuern und mögliche Risikofaktoren im Bereich der Sozialintegration zu minimieren.3 Gerade unter dem Einfluss der Migration wird von politischer Seite darum oft die Forderung nach einer Integration der Zugewanderten im Sinne einer Assimilation oder Akkulturation formuliert. Damit verbinden sich Vorstellungen und Forderungen, die ein Angleichen, Einfügen oder gar Verschmelzen einer Minderheit mit der Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck bringen. Die Integration der Zugewanderten wird als soziostrukturelle Eingliederung und psychosozialer Veränderungsprozess verstanden, der sich an der Übernahme der Sprache, der Grundwerte und Normen, der Überzeugungen und Praktiken der Aufnahmegesellschaft, aber auch an der Situierung auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem sowie an den Kontakten zu Mitgliedern anderer Gruppen messen lässt.4
Dabei gilt als unumstritten, dass die Aufnahmegesellschaft bzw. der Staat die zur Integration erforderlichen Strukturen zur Verfügung stellen muss, damit den Zugewanderten eine Integration auch möglich wird.
In Integrationsmodellen, die eine Anpassung oder gar Identifikation der Zugewanderten mit der Ankunftsgesellschaft als Ziel definieren und mittels Indikatoren messbar machen, kommen die Migranten und Migrantinnen primär als von der Norm abweichende bzw. im Hinblick auf die Mehrheitsgesellschaft defizitäre Personen in den Blick. Das zeigt sich unter anderem an den bedeutungsschweren Typisierungen der Zugewanderten, die als «Flüchtlinge», «Verfolgte», «Vertriebene», «Gastarbeiter», «Glücksucher», «moderne Nomaden», «Entwurzelte», «Ausländer» oder «Fremde» taxiert werden.
Die klassischen Konzeptionen der Assimilation und Akkulturation, die in Europa im Zuge der Arbeitsmigration seit den 1960er-Jahren vor allem die Frage gesellschaftlicher Planung und Steuerung in den Mittelpunkt rückten,5 haben immer wieder Kritik ausgelöst. Beanstandet wird ihr normativer Anspruch und zunehmend auch ihr statischer und mononationaler Ansatz, der angesichts der zunehmenden transnationalen Verstrickungen in der globalisierten Welt nicht mehr haltbar ist, denn die vorausgesetzten festen staatlichen, räumlichen, institutionellen, sozialen und kulturell-religiösen Bezugspunkte der erwarteten Integrationsleistung sind nicht mehr länger gegeben. Gerade der Aspekt der geografischen Mobilität und der Pendelmentalität der Menschen, die sich zwischen Orten und kulturellen Kontexten hin und her bewegen, wurde lange unterschätzt. In der neueren Forschung, die der Transnationalität und Transkulturalität eine zunehmende Bedeutung bemisst,6 löst das Konzept des «Mehrebenen-Polyzentrismus» die klassischen Assimilations- und Integrationstheorien ab.7 Es wird argumentiert, dass ethnisch-kulturelle Vielfältigkeiten und Lebenswirklichkeiten immer stärker in den Vordergrund rücken, weil die transnationale Verankerung der Menschen bzw. die dauerhaften sozialen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen zu Angehörigen ihrer ethnischen, religiösen und oder politischen Herkunftsgruppe dazu führen, dass sie ihre Herkunftsidentität wenigstens punktuell weiterpflegen können.8 Diese Verbindungen führen, wenn sie eine bestimmte Dichte und Stabilität erreichen, mitunter zu neuen und dauerhaften sozialräumlichen Referenzstrukturen, die Ankunfts- und Herkunftsregionen miteinander zu verbinden vermögen.9 Aufgrund der transnationalen Erfahrungshorizonte der zugewanderten Menschen wird die partielle Assimilation zum Normalfall. Aus dieser Perspektive erscheint der Prototyp des «marginal man», der nirgends und überall dazugehört, der sich selektiv und segmentär anpasst, nicht mehr länger als defizitär. Es kann darum auch nicht mehr länger von misslungener Integration gesprochen werden, wenn in Bezug auf die Teilnahme und Teilhabe der Zugewanderten an der Aufnahmegesellschaft nicht auf allen Ebenen der gleiche Grad an Anpassung bzw. Angleichung stattfindet bzw. nicht das gleiche Ziel angestrebt wird. Gerade in Gesellschaften mit einer rechtlich verankerten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit kann die sozioökonomische Anpassung einhergehen mit einer bloss selektiven religiös-kulturellen Angleichung.10
Europa muss sich daran gewöhnen, dass sich seine religiöse Topografie weiter verändern wird. Europa muss auch ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass auch in der Spätmoderne noch das Säkulare und das Religiöse zwei mögliche Seins- bzw. Denkweisen11 bzw. keine unvereinbaren Gegensätze darstellen. Religiöse Deutungs- und Verhaltensmuster beanspruchen auch im modernisierten Europa (wieder oder immer noch) Raum in Lebensläufen und in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.
Nun haben aber ein vorwiegend problemorientierter Migrations-Integrationsdiskurs und eine einseitige Fokussierung auf die als «fremd» wahrgenommenen Minderheitsreligionen in den vergangenen Jahrzehnten eine Theoriebildung begünstigt, die Religion in Prozessen der Migration und Integration als Faktor erscheinen lassen, der primär Differenzen schafft und erklärt und als potentielles gesellschaftliches Risiko erscheint.12
Es gilt umzudenken und einen mehrfachen Perspektivenwechsel vorzunehmen – als Korrektiv gegen blinde Flecken und um bestehende Forschungslücken zu schliessen.
3. Migration, Biografie, Sinn und Sozialität
Das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut in St. Gallen (SPI), das den sozialen, kulturellen und religiösen Wandel in der Gegenwartsgesellschaft untersucht, nimmt diese Herausforderung mit einem neuen Forschungsprojekt an. Im Zentrum des Interesses steht die bisher in Forschung und Politik wenig beachtete Mehrheitsreligion – das zugewanderte Christentum mit seinen vielen Facetten. Aus der Perspektive der betroffenen Subjekte soll der Frage nach der Bedeutung von Religion in biografischen Prozessen unter den Bedingungen der Migration nachgegangen werden. Somit verschiebt sich der Fokus weg von der Frage nach den integrativen bzw. desintegrativen Potenzialen religiöser Orientierungen und Sozialformen und weg von einer defizitorientierten Betrachtungsweise der Zugewanderten auf die Frage nach den potenziellen Ressourcen religiöser Sinn- und Sozialsysteme in Zeiten von Diskontinuität.
• Perspektive Christentum: Das christliche Segment unter den Zugewanderten blieb bis heute weitgehend ausgeblendet. Für die problemorientierte und auf Fremdheit konzentrierte Forschung blieben die zugewanderten Christen und Christinnen für Politikerinnen und Wissenschaftler vielleicht deshalb unsichtbar, weil sie – in essenzialistischer Weise – der Kategorie der «eigenen» Religion zugeordnet werden,13 die in den bereits vorhandenen Netzwerken innerhalb oder ausserhalb grosskirchlicher Strukturen aufgehen. Dabei wird jedoch übersehen, dass in Europa die christlichen Immigranten und Immigrantinnen, entgegen der vielverbreiteten Meinung, in der Mehrheit sind.14 Auch in der Schweiz sind die Mehrheit aller Zugewanderten christlich orientiert. Doch das immigrierte Christentum ist vielfältig und trägt mit seiner Präsenz zu einer Diversifizierung der religiösen Landschaft und des etablierten Christentums der Schweiz bei.15
• Perspektive Subjekt: Zwar hat die Migrationsforschung der vergangenen Jahre die Subjektperspektive der Migranten und Migrantinnen nicht ausgeblendet. Viele Studien veranschaulichen die Migration als einen komplexen, offenen und mehrdimensionalen Prozess der Neu- und Re-Orientierung des Individuums, der, wie andere Transformationsprozesse auch, lebensgeschichtlich eingebettet ist. Wo die Frage nach der Be- und Verarbeitung von Migrationserfahrungen als Teil von Lebensgeschichte verbunden wird mit der Frage nach der Rolle und Bedeutung von Religion in diesem biografischen Transformationsprozess, da steht letztlich vor allem die Frage der Kontingenzbewältigung im Zentrum. Es scheint, dass in einer Zeit wachsender Kontingenz nicht nur der moderne Mensch, sondern in besonderem Masse der von Migration betroffene Mensch die eigene «Geschichte» zunehmend auf sich selbst gestellt sind.16 Wo aber die Erfahrung von Kontingenz ins Zentrum rückt, da darf auch die Religion nicht ausgeblendet bleiben. Sie ist auf die Be- und Verarbeitung solcher Erfahrungen spezialisiert.
Ob und wie Religion als Faktor der Kontingenzbewältigung in den biografischen Konzepten der Subjekte auftaucht, muss jedoch offen bleiben, so wie auch nicht vorausgesetzt werden kann, dass Biografie als Ordnungskonzept und Selbststrategie des Individuums zur Integration von Diskontinuitätserfahrungen eine anthropologische Konstante darstellt.
• Perspektive Ressource: Die Biografie- bzw. Subjektperspektive ermöglicht nicht nur einen Einblick in die Mechanismen des Erlebens und Verarbeitens von Erfahrungen, sondern sie lenkt auch den Blick weg von den Defiziten hin auf die Ressourcen und Strategien von Menschen unter den Bedingungen einer sich wandelnden Umwelt.17 Damit wird die Frage der Integration bzw. der Teilhabe der von Migration Betroffenen an der Residenzgesellschaft nicht hinfällig, sie wird bloss eingeklammert.
In empirischen Studien kommt immer wieder zum Ausdruck, dass Religion als Orientierungs- und Sinnsystem während und nach der Migration für Migranten und Migrantinnen eine wichtige interpretative und handlungsleitende Rolle spielen kann. Sie hilft neuartige und schwierige Erfahrungen zu be-und verarbeiten, d. h. zu deuten, mit Sinn zu versehen und vielleicht sogar biografisch einzubetten. Sie spendet Trost, bietet Halt, stiftet Zuversicht, beeinflusst Entscheidungen und schafft manchmal sogar eine Vision von Zukunft – auch wenn diese erst in einer jenseitigen Welt angesiedelt ist.18 Die persönliche Religiosität wird zu einem identifikatorischen Ankerpunkt in Zeiten der Destabilisierung und ermöglicht Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Herkunftsgesellschaft und Residenzgesellschaft, zwischen Vertrautem und Fremdem. Nun gibt es aber auch gegenteilige Entwicklungen, denn nicht alle Migranten und Migrantinnen werden durch ihre Migrationserfahrung religiös(er) bzw. können Religion als Ressource mobilisieren. Bei manchen bleibt sie inaktiv, tritt in den Hintergrund oder wird sogar ganz aufgegeben, weil sie als nicht mehr relevant eingestuft wird oder weil ihnen die neue Umgebung eine Möglichkeit bietet, sich von belastend empfundenen religiösen Verpflichtungen zu befreien. Immer aber verändert sich die Religiosität einer Person im Verlaufe des Migrationsprozesses, bedingt durch Erfahrungen und Umstände, die nach Anpassungen verlangen. Biografie und Religiosität beeinflussen sich gegenseitig und sind als Prozess zu betrachten, der nie abgeschlossen ist.19
• Perspektive qualitative Forschung: Bis in die 1990er-Jahre dominierten vor allem deduktiv angelegte quantitative Studien die Migrationsforschung. Sie widmeten sich demografischen Entwicklungen, globalen Zusammenhängen und gesellschaftspolitischen, inner- wie überstaatlichen Entwicklungen. Die Ursachen und Wirkungen der Migration wurden oft vor dem Hintergrund einer Modernitäts-Differenz- Hypothese, die eine Defizithypothese begünstigte, gesehen.20 Die ersten qualitativen Studien fokussierten lange auf Fragen der Bedeutung von Ethnizität oder kultureller Identität, wobei essenzialistisch-kulturalistisch geprägte Konzepte von Identität zunehmend eine Zurückweisung erfuhren. Die Frage, was Menschen im Prozess ihrer Migration erleben, in welcher Beziehung das Erlebte zu ihren Erfahrungen in der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft steht und welche Handlungsorientierungen und biografischen Konstrukte damit verbunden sind, wurden bis in die 1990er-Jahre nicht systematisch untersucht – und dann auch kaum in Verbindung mit Religion.
Weil sich aber Erfahrungen immer nur als verarbeitete Erfahrungen in verdichteter Form und niemals unmittelbar erschliessen lassen, sind sie der Forschung nur in Form von Kommunikation zugänglich. Die Erzählung als Rekonstruktion des Erlebten gibt Einblicke in individuell verarbeitete Erfahrungen, d. h. in Interpretationsmuster und Relevanzsetzungen und in Formen der Selbstdarstellung. Damit gibt sie Einblicke in die biografischen Prozesse des erzählenden Subjekts. Das biografisch-narrative Interview gibt der und dem Befragten die Möglichkeit, sich in einer Position des handlungsfähigen, deutenden Subjekts mit Wissen über sich selbst zu sehen und seine Alltagstheorien sowie sein Selbstkonzept zu präsentieren. Die rekonstruktive Biografieforschung setzt also an dem in der Spätmoderne Gegebenen an und betreibt Zeitdiagnose. Die Subjektperspektive führt dabei keineswegs zu einer isolierten Betrachtungsweise eines von strukturellen und institutionellen Bedingungen unabhängigen Subjekts, denn mit der Bezugnahme auf lebensgeschichtliche Erfahrungen werden nicht nur die subjektiven Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Reflexionsleistungen thematisiert, sondern auch die sozialen Situationen, in denen diese Prozesse angesiedelt sind und mit denen sie in wechselseitiger, konstitutiver Beziehung stehen.21 Es lassen sich über die Subjektperspektive also auch gesellschaftlich bedingte diskursive Muster und familiale oder institutionelle Einflüsse oder gar Machtwirkungen (in der Herkunfts- und in der Residenzgesellschaft) rekonstruieren und so auf strukturelle Kontinuitäten und Einbindungen sowie auf Kohärenzen biografischer Gesamtgestalten (kollektive Identitäten) hinweisen bzw. deren erwartete Existenz hinterfragen.
Aus Gründen der Machbarkeit muss sich die qualitative Studie auf einen sinnvollen Wirklichkeitsausschnitt beschränken. Der Wandel der individuellen Religiosität und die Funktion unterschiedlicher christlicher Frömmigkeitstypen und Sozial- bzw. Organisationsformen im Prozess der Migration und ihrer Verarbeitung sollen darum anhand von zwei Kontrastgruppen innerhalb des spanischen Sprachraums untersucht werden. Lange war diese Sprachgruppe in der Schweiz vor allem europäisch geprägt, erst in jüngerer Zeit ist eine vermehrte Zuwanderung auch aus südamerikanischen Ländern zu beobachten. Die Kontrastgruppen umfassen Personen europäischer wie aussereuropäischer Herkunft der ersten und zweiten Migrationsgenerationen mit je unterschiedlichem konfessionell-denominationellen Hintergrund. Damit werden Vergleiche innerhalb und zwischen den verschiedenen Herkunftsgruppen, Frömmigkeitstypen und Generationen möglich.
4. Bedeutung der Studie
Die laufende Untersuchung am SPI folgt einem Forschungsdesiderat: Sie untersucht die immigrierte Mehrheitsreligiosität, die bislang nicht im Fokus der Migrationsforschung stand.22 Mit ihrem biografieanalytischen Ansatz vermag sie das Zusammenspiel von individueller Religiosität und sich verändernden sozialen Situationen, innerbiografische und intergenerationale Transformationsprozesse und subjektive Strategieprozesse zu beobachten. Damit trägt sie nicht nur bei zur Differenzierung des Individualisierungsdiskures, sondern kommt auch weg von einer defizitorientierten Perspektive. Der Vergleich von unterschiedlichen religiösen Profilen bzw. Frömmigkeitstypen soll Einsicht geben in die unterschiedlichen Semantiken, sozialen Netzwerke und Funktio-nen (Ressourcen) von traditional katholischen und (neo-)pentekostalen Religiositäten.
Die Studie, die in den kommenden Jahren hoffentlich viele neue Einblicke in das Leben und die Erfahrungen von christlichen Migranten und Migrantinnen liefern wird, will auch Transferwissen für religiöse Institutionen und Organisationen bereitstellen. Insbesondere für die theologische und pastorale Auseinandersetzung mit innerchristlichen Pluralisierungsprozessen, Kommunikations- und Vergemeinschaftungsformen, aber auch veränderten «Marktanforderungen» in einer von Migration geprägten Gesellschaft und Kirche will sie Anknüpfungspunkte schaffen.