Religionskritik heute

(Bild: giordano-bruno-stiftung.de)

 

Eine eigentliche Dilemma-Frage: Ginge es der Menschheit besser ohne Religion? Oder umgekehrt: Hilft Religion dem Menschen, sein Leben besser zu gestalten und zu verantworten? Beide Fragen wurden schon vielfach sowohl bejaht wie verneint. Bei diesen möglichen Antworten geht es natürlich immer um die Institution(en), ohne die es Religion im ausgeführten und ausführlichen Sinn gar nicht gäbe. Sehr häufig ist Religionskritik auch nichts anderes als versteckte Institutionskritik. So begründete der Walliser Lehrer und Freidenker Valentin Abgottspon die Entfernung des Kreuzes aus seinem Klassenzimmer zuallererst mit der engen Verflechtung von Kirche und Staat, ja mit der Omnipräsenz der Kirche in seinem Heimatkanton (NZZ-Porträt von 2014). Ihm ging es nicht um den theologischen Sinngehalt, der hinter einem Kreuz steht, dem Skandalon des leidenden Gottessohnes, sondern um ein Politikum. Wir müssen aber nur bei Friedrich Nietzsche nachfragen und erhalten dort dann die grundsätzliche religionskritische Antwort: Eine Religion, die einen «Verlierer» und «Schwächling» als «göttlich» verehrt, verfehlt Sinn und Auftrag. Der wirklich freie Mensch soll Sieger und Held sein. Nietzsche beantwortet die Grundfrage mit einem klaren Ja. Der Menschheit ginge es ohne Christentum besser.

Auch die berühmte These Samuel Huntingtons vom «clash of civilizations» (1996) kritisiert nicht Religion an sich, aber bezweifelt den Sinn eines während Jahrhunderten aggressiv auftretenden Christentums als Hilfestellung für die Weiterentwicklung einer ständig vernetzter werdenden Menschheit und für die Herausforderungen, denen sie sich stellen muss. Hier lautete die Antwort: Es stellt sich die Frage nach der Art und Weise, wie eine konkrete Religion wahrgenommen wird, ob diese hilfreich sein kann. Die drei monotheistischen Religionen stehen im Verdacht, das Wachsen eines universalen Gefühls von Zusammengehörigkeit und Identität zu behindern. Und die Art und Weise, wie der radikale Islam in den Jahren seit dem Erscheinen von Huntingtons Buch aufgetreten ist, scheint seinen Ansatz zu bestätigen.

Dem entgegen steht Hans Küngs Trias als Grundforderung für den Umgang der Religionen miteinander. Kehren wir sie heute auf den Kopf, lautet die These für unser Thema: Religion, die nicht bereit ist zur internen Grundlagenforschung (etwa der nach der Entstehung ihrer heiligen Schriften und Dogmen) und darauf aufbauend zum Dialog mit anderen Religionen, leistet keinen Beitrag zum Weltfrieden. Ergo lautet die Antwort hier ganz klar: Der Menschheit ginge es besser, wenn es keine fundamentalistische Religion gäbe.

Über 150 Jahre nach den ersten klassischen religionskritischen Schriften stellt sich nun – zumal im Zeitalter einer zunehmenden Säkularisierung und Entchristlichung in den Staaten des Westens – die Frage, wozu moderne Religionskritik imstande bzw. ob sie noch nötig ist. Die Artikel in dieser Nummer gehen solchen Fragen nach.
 

Heinz Angehrn

 

* Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik,
Geschichte und Literatur.