Üben, üben, üben ...

So hilfreich die technischen Möglichkeiten gerade in Pandemiezeiten auch sind, bergen sie die Gefahr in sich, Reales aus den Augen zu verlieren. Achtsamkeit und Selbstkritik könnten hier Gegensteuer geben.

Ein Fülle von Bildern stürzt nicht nur über Fernsehen, Zeitungen, Zeitschriften und soziale Medien auf uns ein. Wer ein neueres Mobilphone besitzt, macht selber Bilder und füllt damit seine Handy-Galerie. Irgendein Blickfang, eine überraschende Aussicht, ein konkretes Erlebnis oder eine unverhoffte Begegnung werden in Bildern und Selfies festgehalten; das eine oder andere wird verschickt oder in den sozialen Netzwerken gepostet. Die Gefahr ist gross, dass Schnellschüsse in Form von Bildern und Texten ebenso schnell verbreitet werden. Was versendet ist, ist weg. Darüber hat man keine grosse Macht und keinen Einfluss mehr. Ob sich heute noch jemand die Mühe macht, die Fülle von Bildern zu verkleinern, Überflüssiges zu löschen oder so zu ordnen, dass er oder sie es wieder findet?

Nicht nur mit Bildern, sondern auch mit Worten oder Texten ist es ganz ähnlich. Das Schreiben von Hand, eine aufwendige Arbeit, die den Schreibenden zwingt, im Voraus Notizen anzufertigen, ist nicht mehr gross in Übung. Ich überschreibe selber Protokolle der letzten Sitzung mit den aktuellen Beschlüssen und Beobachtungen. Wie schnell passiert es mir, dass noch ein falsches Datum oder ein überflüssiger alter Abschnitt im Text stehen bleibt, der dann bei den Adressaten für Verwirrung sorgt.

Der Umgang mit den modernen Medien in Wort und Bild erfordert Übung und Aufmerksamkeit. Das Sich-Zurechtfinden mit den elektronischen Geräten muss erprobt werden. Ein neues technisches Gerät, ein notwendiges Update zwingt einen, routinierte Eingaben zu hinterfragen. Der Umgang muss geübt werden. Dieses «Muss» wird aufgezwungen. Wer nicht übt, wer nicht interessiert neue Programmschritte kennenlernen will, bleibt zurück und wird vom technischen Fortschritt abgehängt.

Wenn ich in unserer von Covid-19 und den immer wieder nötigen Vorsichtsmassnahmen und den Auseinandersetzungen in den Zeitungen lese und mich in Radio- oder Fernsehberichten informiere, merke ich, dass heute Entscheidungen – egal welche und von wem auch immer – nicht nur in Frage gestellt werden, sondern oft auch scharfe Kritik erhalten. Mir scheint, dass nur noch wenig Bereitschaft vorhanden ist, die Kunst der Kritik zu üben. Die bewusste und offene Auseinandersetzung mit der Meinung des Gegenübers ist manchmal nur noch fiktiv. Vieles liest sich, als wolle man ganz bewusst nicht verstehen, als werde nun einer bestimmten Berufsgruppe oder einem Gesellschaftszweig etwas verwehrt. Treffen sich Konfliktparteien noch an einem runden Tisch, wo man miteinander fair umgeht, wo alle das Wort erhalten und sich im Verstehen üben? Was nicht plakativ und reisserisch daherkommt, bleibt ungesehen oder wird überhört. Eine wirklich direkte Konfrontation findet nicht statt. Oft – so scheint mir – wird negativ kritisiert, beanstandet, polemisiert und angeprangert.

Ich wünsche mir für die kommende Zeit das bewusste Einüben des kritischen Blicks auf mich und andere. Nur wer sich selber kritisch anschaut, seine Eindrücke kritisch hinterfragt und über negative Erfahrungen grosszügig hinwegsehen lernt, hilft mit, dass eine neue Konflikt- und Kritikkultur wachsen kann.

Guido Scherrer


Guido Scherrer

Guido Scherrer (Jg. 1960) wurde nach verschiedenen Tätigkeiten in der Pfarreiseelsorge im Bistum St. Gallen 2003 Regens. Anfang 2016 erfolgte die Ernennung zum Generalvikar. Weiter gehört Scherrer der Herausgeberkommission der SKZ an.