Die Theologie kann die Anfragen der grossen Religionskritiker Feuerbach, Nietzsche, Freud, aber auch zeitgenössischer Denker wie Richard Dawkins, Gerhard Vollmer, Sam Harris, Christopher Hitchens usw. ignorieren; sie kann an ihnen scheitern. Sie kann sie freilich auch aufnehmen und in hellsichtige Gegenfragen verwandeln.
SKZ: Herr Negel, welches sind heute die vorherrschenden Kritikpunkte an den Religionen?
Joachim Negel: Wichtig ist mir die Unterscheidung von Religions- und Kirchenkritik. Ich blicke zunächst auf die Religionskritik. Mit philosophischer Aufklärung und technischer Welteroberung verändert sich der Blick auf den Menschen und damit auch der Blick auf die Religionen. Diese Blickveränderung geschah und geschieht auf verschiedenen Ebenen. – Erstens die moderne Kosmologie: Sie katapultierte die Erde und damit auch den Menschen aus dem Zentrum des Universums fort an den Rand; unsere Welt ist nicht Mittelpunkt des Kosmos, sondern Teil eines marginalen Sonnensystems innerhalb einer marginalen Galaxie unter Milliarden anderen. – Zweitens die allgemeine Naturalisierung: Man kann den Menschen als Produkt evolutiver Prozesse verstehen, denen naturgesetzlich beschreibbare Vorgänge sowie Zufallsereignisse zugrundeliegen, mit anderen Worten: Kein Gott hat ihn erschaffen; er ist das Produkt anonymer Naturprozesse. – Drittens die Psychologisierung: Der Mensch ist, Sigmund Freud zufolge, nicht vor allem Geist-, sondern immer auch Triebwesen. Das angeblich selbstmächtige «Ich» ist eingespannt zwischen «Es» und «Über-Ich», aufgerieben zwischen seinen Trieben und den moralischen Anforderungen der Gesellschaft. Was wir «Gewissen» nennen, ist dieser Sicht zufolge nicht Stimme Gottes in mir, sondern das Ergebnis einer schmerzlichen Auseinandersetzung zwischen physiologisch beschreibbarer Triebstruktur und gesellschaftlicher Moral. – Viertens die Historisierung der Bibel: Die Historiker fragen nach den Autoren der biblischen Schriften und infolge dessen danach, inwieweit die biblischen Texte als von Gott inspiriert angesehen werden können. – Als fünfte Ebene die Soziologisierung menschlicher Subjektivität und Kultur: In europäischen Kulturen werden Sinnfragen anders formuliert als etwa in asiatischen. Die Sinnfrage ist kulturabhängig und verweist auf die Funktion der Sprache. Sprache prägt unser Denken. Wenn das so ist: Gibt es dann noch Wahrheit im klassischen Sinn? – Infolge dieser radikalen Infragestellungen verlieren die jüdisch-christlichen Narrative hinsichtlich Gott, Welt und Mensch ihre Plausibilität, sie werden zu Mythen herabgestuft. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Das einzige historische Moment im Credo ist die Figur des Pontius Pilatus. Was wir im Credo sonst noch bekennen, ist für viele unverständlich: «Aufgefahren in den Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird ...». Aus Sicht der Religionskritik sind solche Sätze pure Mythologie. Weil die Religionskritik so fundamental ist, verlieren auch die religiösen Institutionen ihre Plausibilität: die Kirchen. Kommen dann noch moralische Skandale hinzu, ist es nur konsequent, dass man zur Abschaffung dieser Institutionen aufruft.
Was kritisieren Sie an den Religionskritiken, die auf der Neurobiologie basieren?
Man muss unterscheiden zwischen der Hirnforschung als solcher und den philosophischen Schlussfolgerungen, die manche Hirnforscher aus ihren Arbeiten ziehen. Ich bringe Ihnen ein Beispiel: Neurobiologen können beschreiben, inwiefern jedem Gedanken, den wir denken, neuronale Aktivitäten in den verschiedenen Hirnregionen zugrundeliegen. Erkennen ist zweifelsohne immer auch eine neuronal beschreibbare Aktivität. Folgt aber daraus, dass unsere Gedanken, Ideen, Träume, Hoffnungen, Ängste usw. nichts als neuronale Aktivitäten sind, wir also einer Illusion erliegen, wenn wir ihnen einen extramentalen Realitätsgehalt zuschreiben? Ein Neurobiologe, der so redete, vollzöge einen performativen Selbstwiderspruch. Denn einerseits behauptete er, dass unser Denken zuletzt nichts als eine neuronal beschreibbare Hirnaktivität sei, seine Hirnaktivität aber erkannt habe, dass sie Hirnaktivität sei und ihr in der sogenannten Wirklichkeit nichts entspreche. Man widerlegt sich damit selbst.
Wie beurteilen Sie die Religionskritik eines Evolutionsbiologen wie Richard Dawkins?
Bei Dawkins haben wir ein ähnliches Problem wie bei den philosophischen Schlussfolgerungen gewisser Neurobiologen. Auch hier ein unreflektierter Sprung in der Argumentation, ein sogenannter Kategorienfehler. Lassen Sie mich das an einem prominenten Beispiel der jüngeren Wissenschaftsgeschichte erläutern. Der französische Mediziner und Nobelpreisträger Jacques Monod (1910–1976) kommt in seinem berühmten Essay «Le hasard et le nécessité» zu dem Ergebnis, der Mensch als Ergebnis einer von «Zufall und Notwendigkeit» gesteuerten Evolution sei «ein Zigeuner am Rande des Universums», «das für seine Musik taub» sei «und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen». Das biblische Welt- und Menschenbild sei deshalb von einem Naturwissenschaftler, der seine eigene Disziplin ernstnehme, abzulehnen. – Man sieht hier unmittelbar, wie Monod die Argumentationsebenen wechselt; er springt von naturwissenschaftlichen Ergebnissen auf die philosophische Ebene. Monod darf dies tun, keine Frage. Er muss das aber dann auch klar sagen. Es hängt von meinem persönlichen Weltbild ab und nicht von meiner Wissenschaftlichkeit, ob ich den Menschen unter dem Gesichtspunkt der Quantität oder der Qualität betrachte. Unter dem Gesichtspunkt der Quantität ist der Mensch innerhalb des Kosmos eine «quantité négligeable». Ich kann das Thema aber auch umgekehrt angehen, wie das etwa der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) getan hat: Im Menschen, sagt Schelling, «schlägt die Natur die Augen auf und erkennt sich selbst». Im Menschen wird die Natur selbsttransparent und selbsttranszendent. Das ist ein ungeheurer Vorgang, geradezu ein Wunder. Hier kommt eine völlig neue Dimension ins Spiel, die ich nicht reduktionistisch kleinreden darf. Wenn der Kosmos nicht sinnvoll strukturiert wäre, könnte der Mensch ihn nicht erkennen. Wie aber kommt ein solches Erkennen-Können der Welt in die Welt? Eine evolutionäre Erkenntnistheorie, wie Monod sie seinem Buch zugrunde legt, ist für solche Fragen taub. Deshalb muss sie die Sinnfrage, weil diese von den Naturwissenschaften nicht beantwortet werden kann, für obsolet erklären. So zu argumentieren, ist allerdings überaus unwissenschaftlich.
Wo sehen Sie hier die Aufgabe der Theologie?
Die Theologie hat die Aufgabe, gewisse Religionskritiker darauf aufmerksam zu machen, wie bestürzend fraglos ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen sind. Vielleicht hat die Theologie heute nicht vor allem Antworten auf die letzten Fragen zu geben (das kann sowieso nur Gott und niemand sonst). Aufgabe der Theologie ist es vielmehr, da weiter zu fragen, wo die anderen mit ihren Fragen aufhören.
So wie Sie das in Ihrem Buch «Feuerbach weiterdenken»1 gemacht haben.
Ja, ich denke schon. Ein solches Weiterdenken beginnt schon in meinen Proseminaren. Ich gebe in der ersten Woche den Studierenden die Aufgabe, ein philosophisches Tagebuch zu führen. Sie sollen wöchentlich in einer ruhigen Stunde alles aufschreiben, was ihnen hinsichtlich ihrer selbst einfällt und was ihnen dies zu denken gibt. Im Laufe der Monate entdecken sie, dass sie mit dem Fragen an kein Ende kommen. Sie können sich nicht vollständig narrativieren, sie bleiben sich selber unfasslich. Und mehr und mehr dämmert ihnen: Jeder Mensch ist unerschöpflich; er ist bewohnt von etwas Unendlichem. Ist diese Unendlichkeitsdimension nun aber rückführbar auf mich? Oder zeugt sie von einer Wirklichkeit, die als mein Innerstes nicht einfach identisch ist mit mir? – Diese Frage hat sich schon Augustinus (354–430) in seinen «Confessiones» gestellt. In ihnen bekennt und erkennt Augustinus sein Leben vor Gott – bar aller Selbstrechtfertigung. Vor Gott ist dies möglich. Augustinus entdeckt sein eigenes Denken als umfangen von einer Wirklichkeit, die grösser ist als er und der er gerecht werden möchte. Sie merken: Das sind Fragestellungen, die sich naturwissenschaftlich gerade nicht beantworten lassen. Sind sie deshalb aber sinnlos?
Wie reagieren die Religionskritiker auf Ihre kritischen Rückfragen?
Entweder brechen sie das Gespräch relativ schnell ab, oder es wird sehr intensiv.
Vor ein paar Jahren gab es atheistische Busplakatkampagnen. Sie nahmen in Grossbritannien ihren Anfang. In der Schweiz wollte die Freidenker-Vereinigung in zehn Städten eine Buskampagne starten mit dem Satz «Wahrscheinlich gibt es keinen Gott. Kein Grund zur Sorge, geniess das Leben.»
Solche Aktionen sind trivial. Gute Religionskritik muss Argumente bringen und nicht Polemik. Um gut zu sein, muss die Religionskritik die gleichen Argumentationsforderungen erfüllen wie die Theologie. Ich nehme wahr, dass das Niveau der Religionskritik bedenklich sinkt. Auf den Satz: «Wahrscheinlich gibt es keinen Gott, geniesse das Leben» stelle ich folgende Rückfrage: «Wie gehst du damit um, dass, wenn du recht hast, es für die Ermordeten von Auschwitz keine Hoffnung gibt?» Ich höre auf diese Fragen oft die Antwort: «Darüber denke ich nicht nach». Oder aber meine Gesprächspartner geben zu, dass dies ein echtes Problem ist und sie für dieses keine Lösung haben. Das ist immerhin ehrlich. Und wenn sie mich dann fragen, wie ich denn mit diesem Problem umgehe, fällt mir als Antwort zuletzt immer nur dieser eine Satz ein: Wer der Erde und den Opfern der Geschichte die Treue halten will, muss auf den Himmel setzen.
Religionskritik ist populär geworden. Welche Auswirkungen hat dies auf die Gesellschaft? Was beobachten Sie?
Ich beobachte, dass auf nicht wenige Leute transhumanistische Visionen eine Faszination ausüben. Transhumanisten verfolgen das Ziel, den Menschen mittels «Body-Enhancement» zu perfektionieren. Manche wollen gar das Sterben abschaffen. Ich halte das für schlechte Science Fiction. Aber sie bleibt nicht wirkungslos. So bewirkt etwa die um sich greifende Digitalisierung und Technisierung unserer Lebenswelt eine starke Zurückbildung unserer Sinnlichkeitsbegabung. Denken Sie etwa an Kinder, die in der Stadt aufwachsen und wegen der Lichtverschmutzung nie einen Sternenhimmel sehen und über ihn staunen. Das ist eine ungeheure Verarmung, ein Verlust an ästhetischer Sensibilität. Menschen mit Stöpseln in den Ohren hören weder den Wind im Wald noch das Singen der Vögel. Sie erfahren immer weniger von der realen Welt. So wird ihre Welt klein und arm. Wie will man da noch religiös sein?
Die Welt wird eindimensional?
Genau. Und hier ist nun sicher auch der Übergang von der Religions- zur Kirchenkritik nötig. Kirchenkritik wird unter anderem da besonders laut, wo die religiöse Praxis verblasst. Die archetypischen Symbole, Bilder, Riten der Religion werden nicht mehr verstanden. Und so wird Religion auf ihre Kriminalgeschichte reduziert. Zugleich gerät die ganze Kultur-, Geistes- und Mentalitätsgeschichte der vielen christlichen Traditionen aus dem Blick. Wer nur noch die Kriminalgeschichte des Christentums kennt, weiss nicht nur vom Christentum wenig, sondern auch von sich selber zu wenig. Denn ob gläubiger Christ oder nicht: Wir stehen alle auf diesem geschichtlichen Fundament, ob uns dies gefällt oder nicht. Wie will jemand eine Bachkantate verstehen, wenn er die Bibel und die christliche Tradition nicht kennt? Vielleicht besteht die Aufgabe der Theologie heute vor allem darin, neben einer kritischen Gesellschafts- und Kulturanalyse die Menschen für die Reichtümer unserer christlichen Kultur- und Geistesgeschichte zu sensibilisieren.
Interview: Maria Hässig