Romano Guardini

Romano Guardini wurde am 17. Februar 1885 in Verona (I) geboren und starb am 1. Oktober 1968 in München (D). Er zählt zu den bedeutendsten katholischen Religionsphilosophen und Theologen des 20. Jahrhunderts. (Foto: KNA)

 

«Die Welt ist nicht fertig. Und nicht nur deshalb, weil sie sich noch weiterentwickeln, Dieses und Jenes werden müsste. Es ist tiefer gemeint. ‹Die Welt› sind nicht die Dinge draussen für sich allein, sondern das, was in der Begegnung zwischen dem Menschen und ihnen wird. Wenn der Mensch die Dinge sieht und empfindet; wenn sie an ihn heran und in ihn hinein kommen; er wiederum in die Dinge dringt, in ihnen weilt und lebt – was da wird, ist erst die eigentliche Welt. Es ist nicht nur draussen und auch nicht nur drinnen; vielmehr innerlich werdendes Aussen, und hinausgetragene Innerlichkeit. Es ist gesehener Gegenstand und mit empfangenen Gestalten erfüllter Blick; vom Herzen gefühlte Form und von den Gestalten der Wirklichkeit aufgerufenes Gefühl. Ist Hand, die erst ganz sie selbst wird an der Frucht, die sie greift; Boden, der erst zum Acker wird, wenn der Mensch ihn pflügt und besät. Das erst ist jene Welt, die Gott gemeint hat, als er das Ding und den Menschen schuf.

Und auch nicht nur das ‹Ding› und ‹den Menschen›; die gibt es ja nicht. Es gibt diese Zypresse, wie sie da gewachsen ist; an dieser Stelle am Hang, wo der Windstrom, der immer abends herabkommt, sie von der Seite trifft. Und es gibt diesen Menschen, mich, der ich meinen Weg daherkomme, und mein Leben, wie es bis hierher gewesen ist und das Erbe der voraufgehenden Vergangenheit in mir trage. Hier komme ich, sehe die Zypresse, und zwischen uns beiden begibt sich die Begegnung. Und wenn ich recht zu ihr komme und sie sehe – wer aber weiss, was sie dabei tut? Ob es nur ‹ein Märchen› ist, wenn die Märchen sagen, auch die Zypresse sehe und spreche? – dann wird aus ihr und mir, in diesem unserem Gegenüber, in dieser Stunde, ‹Welt›.

So wird stetsfort, wo immer ein Mensch einem Ding begegnet, jene Welt, die Gott gemeint hat. Immer neu. Und sie wird, was Gott gemeint hat, in dem Masse, als der Mensch den Dingen recht begegnet: rein, ohne Selbstsucht, mit offenen Augen und empfänglichem Herzen; so, wie es die Meinung des Augenblicks fordert.

Hierin besteht der Schöpferdienst, zu dem Gott den Menschen gerufen hat: dass immerfort, in seiner Begegnung mit den Dingen, die eigentliche Welt werde. Dass er selber erst werde, indem er an die Dinge gerät; schaut, versteht, liebt, an sich zieht und abwehrt, schafft und gestaltet. Dass die Dinge sie selbst erst ganz werden, wenn sie in den Bereich des Menschengeistes, seines Herzens und seiner Hand gelangen. Diese Welt wird immerfort; leuchtet auf und erlischt wieder.»

Romano Guardini, 1932

 

Auszug aus: Tagebuch in Oberitalien, in: Guardini, Romano, In Spiegel und Gleichnis, Mainz 71990 (1. Auflage 1932), 11–19, hier 18–19.

Alle Autorenrechte liegen bei der Katholischen Akademie in Bayern. Romano Guardini, In Spiegel und Gleichnis. Bilder und Gedanken, 7. Auflage 1990, 11–19. Verlagsgemeinschaft Matthias Grünewald, Mainz/Ferdinand Schöningh, Paderborn.