«Drei, zwei, eins – ich komme!» Schnell und geschickt jagt Sali über den Platz vor ihrem Elternhaus nach ihren Cousinen und Cousins. Versteckspiel steht auf dem Nachmittagsprogramm. Dass die zierliche Siebenjährige im Rollstuhl sitzt, tut der Spielfreude der Kinder, die zugleich beste Freunde sind, keinen Abbruch. Dabei ist der abgelegene Ort Dura südwestlich von Hebron alles andere als ein Paradies für Rollstuhlfahrerinnen. Die anderthalb Kilometer zur Schule zum Beispiel fahren Salis Eltern sie mit dem Auto – die hügelige Schotterpiste wäre mit dem Rollstuhl nicht zu bewerkstelligen.
Sali hat spinale Muskelatrophie (SMA), eine seltene neuromuskuläre Erberkrankung mit verschiedenen Erscheinungstypen, die zu Muskelschwund, Lähmungen und verminderter Muskelspannung führt. Statistisch gesehen ist einer von 10’000 lebendgeborenen Menschen betroffen. Im Kinderspital in Bethlehem ist sie die einzige Patientin mit SMA-Typ 2. Auch von Salis jüngeren Schwestern Siwar (6), Sila (4) und Gheena (2) hat keine von den Eltern das mutierte Gen auf Chromosom 5 geerbt, das für SMA verantwortlich ist. Dem Krankheitsbild entsprechend kann Sali frei sitzen, aber nicht laufen.
Das Engagement der Familie macht viele von Salis alltäglichen Schwierigkeiten wett. Alle fassen mit an, damit das Mädchen so normal wie möglich aufwachsen kann: Den Platz vor dem Haus hat Vater Nizar rollstuhlgerecht gestaltet. Aufmerksam achten die Kinder darauf, dass keine Hindernisse auf der Spielfläche liegen, die den Reifen des kleinen Elektrorollstuhls zum Verhängnis werden könnten. Und selbstverständlich werden wie beim Versteckspiel die Spielregeln ans Salis Handicap angepasst. Bestimmte Verstecke sind mit dem Rollstuhl tabu. Soll auf der Schaukel oder dem kleinen Karussell gespielt werden, helfen Salis Eltern. Auch um ins Haus zu kommen, muss die Siebenjährige getragen werden.
«Alle sind Dickköpfe»
Meistens fühlt sie sich «ganz normal wie alle anderen Kinder, nur manchmal fehlen mir meine Beine», vertraut Sali der Sozialarbeiterin Hiba Sa‘di bei einem ihrer Hausbesuche an - beim Spielen mit Freundinnen etwa oder auf dem Weg zur Schule, in die sie so gerne geht. Dann wieder gewinnt das Selbstvertrauen. «Gott hat mich so gemacht», sagt sie, und beendet mit diesem Satz jede Diskussion über ihre Krankheit. «Sali ist unsere kleine Königin, sie steht im Mittelpunkt und alle kümmern sich um sie», erzählt Mutter Iman. «Wenn sie etwas nervt, beschwert sie sich.» Damit komme sie «ganz nach dem Rest der Familie, denn alle hier sind Dickköpfe.» Sali weiss, was sie will. Wagt es zum Beispiel jemand, sein Auto auf ihrem Weg zu parken, macht die zierliche Schülerin ihrem Unmut ganz ohne Scheu Luft.
Neben dem Tummelplatz draussen steht der niedrige Holztisch im Wohnzimmer der Familie bei den Mädchen zum Spielen hoch im Kurs. Dann sitzt Sali im Schneidersitz auf dem Tisch, die Beine unter dem Körper verschränkt, so, wie es nur Kinder können, und gibt ihrer Schwester Sila Anweisungen. «Lila, rosa, grün», ruft sie – ihre Lieblingsfarben – und aus den Steckbausteinen entsteht ein fantasievoller Turm. Oder die beiden Mädchen vertiefen ihre Gesichter in Malbücher und Hefte und vergessen die Zeit. Himmelblaues Shirt mit der Aufschrift «I love you», die passenden Shorts, die dunklen Haare mit derselben perlengeschmückten Schleife hochgebunden: Auf Salis Lieblingsplatz gleichen sich die Mädchen aufs Haar. Dass Salis Beine sie nicht tragen können, davon merkt man hier zwischen Bausteinen und Buntstiften nichts.
Drei schwere Lungenentzündungen
Dass ihre Erstgeborene anders ist als andere Kinder, merkten die Eltern Iman und Nizar etwa zehn Monate nach Salis Geburt. Die Tochter wollte laufen lernen, aber es ging nicht. Damit begann für die junge Familie eine Odyssee von Arzt zu Arzt. Nur langsam wachsen Wissen und Bewusstsein über die Erbkrankheit in der palästinensischen Gesellschaft, die Diagnostik steht vielfach noch am Anfang. Sogar in Jordanien wurde das kleine Mädchen ein paar Monate behandelt, ohne Erfolg. In Salis Fall brachte schliesslich ein Gentest die Diagnose SMA, mit der sich die Familie 2020 an das Kinderspital in Bethlehem wandte. Seither wurde Sali drei Mal stationär im Spital aufgenommen, einmal sogar für mehr als zwei Wochen. Immer waren Lungenentzündungen der Grund für die Aufnahme, für die Patienten mit SMA besonders anfällig sind.
Die anfängliche Angst des Mädchens vor dem Spital hat sich inzwischen gelegt. Aufmunternde Zimmerbesuche von Sozialarbeiterin Hiba haben das Eis gebrochen - und das Spielzimmer im Spital, in dem sich Sali zwischen ihren Behandlungen besonders gern aufhält. Sogar für das Blutabnehmen hat das Team in Bethlehem inzwischen einen guten Weg gefunden, der Sali die verhasste Prozedur erträglich macht.
Familienbesuch ist wichtig
Dass Mutter Iman im Spital übernachten kann, wann immer Sali stationär behandelt werden muss, ist dabei eine wichtige Hilfe für die tapfere Patientin. Für Iman ist klar: Allein lassen will sie ihre Tochter auf keinen Fall, auch wenn sie sich Sorgen macht, wie die zu Hause gebliebene Familie ohne sie zurechtkommt. Gespräche mit Sozialarbeiterin Hiba helfen Iman beim Umgang mit dem Zwiespalt, den viele Mütter spüren, wenn ein Kind ins Spital muss, die Geschwister aber auch versorgt werden müssen. Auch Sali leidet darunter, wenn ihre Spitalaufenthalte das Zusammensein mit ihren Schwestern, Cousinen und Cousins unterbricht. Sie alle haben ein enges Verhältnis. Umso mehr strahlen ihre dunklen Augen, wenn es die gesamte Familie schafft, die oft mehr als einstündige Fahrt von Dura zum Krankenbesuch nach Bethlehem auf sich zu nehmen. Gegenwärtig wird am Spital geprüft, ob bei Sali neben den Besuchen der Sozialarbeiterin auch eine multidisziplinäre Hausbetreuung möglich und machbar wäre. Dann könnten Ärzte und Physiotherapeutinnen mit der Familie zu Hause in Salis gewohnter Umgebung zusammenarbeiten, erklärt Dr. Nader Handal, Salis behandelnder Kinderarzt im Caritas Baby Hospital, der auf pädiatrische Neurologie spezialisiert ist. Multidisziplinäre Betreuung ist für Patientinnen wie Sali unverzichtbar.
Viele Faktoren beeinflussen den Gesundheitszustand
Sali sei eine glückliche Patientin, betont Dr. Handal, und meint damit nicht nur das fröhliche Gemüt der jungen Palästinenserin. Ihre Familie hat die Herausforderungen der Krankheit gut verstanden und kümmert sich aufmerksam um das Mädchen. Zum Beispiel versuchen sie, Sali möglichst vor Ansteckungen zu schützen. Jede Grippe etwa könnte für das geschwächte Immunsystem der Patientin schwerwiegende Folgen haben. Seit das Coronavirus aufgetaucht ist, vermeidet die Familie jegliche Familienfeiern.
Wie sich Salis Erkrankung konkret entwickeln wird, lässt sich laut Dr. Handal nur bedingt vorhersagen. Der für SMA symptomatische Muskelschwund wird sich fortsetzen, was besonders die Lunge betrifft. Der Schutz der Patientin vor Infektionskrankheiten ist deshalb einer von vielen wichtigen Faktoren, die sich auf die Gesundheit Salis auswirken. «Ich danke Gott für meine Tochter und ich möchte mich so gut um sie kümmern, wie es nur geht», sagt Mutter Iman. Oft holt sich die 27-Jährige deshalb den Rat von Sozialarbeiterin Hiba ein: Wie können die Lebensumstände von Sali verbessert werden? Was tut ihr gut? Einen der wichtigsten Ratschläge hat die Mutter dabei bereits verinnerlicht: die regelmässige Lungenphysiotherapie. Im Kinderspital hat Iman gelernt, wie sie Salis anfällige Lunge am besten stärken kann. Physiotherapie und Atemübungen gehören seither auch zu Hause zum täglichen Mutter-Tochter-Programm.
Sali macht nicht nur die Übungen mit voller Motivation mit. Auch in der Schule glänzt sie mit besten Noten, denn später will sie einmal selber Ärztin werden, und zwar am liebsten im Kinderspital in Bethlehem. Sali: «Ich will allen Armen helfen, die kein Geld für die Behandlung haben!»
Andrea Krogmann, Bethlehem