Mit den sogenannten Klassikern ist das ein speziell Ding: Man kennt sie, man zitiert ihre berühmten Sätze, man ordnet sie zu, aber kennen tut man sie gar nicht mehr so gut; sie sind quasi auf dem Dachboden der Gymnasiasten-Erinnerungen am Verstauben. Wie schade, denn gerade ein Theaterstück ruft natürlich nach Leben, will erlebt werden, will ein Gesicht bekommen in einer ganz anderen gesellschaftlichen Situation. Vieles am Gelingen hängt dann von der Inszenierung ab!
Noch viel wichtiger wäre all dies, wenn man einem Stück begegnet, das mitten in unseren Diskussionen über die Grenzen einer multikulturellen und multireligiösen Welt, mitten in den Befürchtungen um einen Clash of Civilizations, mitten in den Auseinandersetzungen der politischen Schweiz um Minarett-, Kreuz-, Glockengeläut- und Burka-Verbote anzusetzen ist. Die Rede ist natürlich von Lessings «dramatischem Gedicht» mit dem Titel «Nathan der Weise» von 1779, einem der grossen Bühnenklassiker überhaupt. Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) erlebte die Berliner Uraufführung von 1783 nicht mehr, hat uns Nachkommende aber mit keinem seiner Werke so geprägt wie mit diesem. Lessing ist so auch der heftigen theologischen Diskussion innerhalb der evangelischen Kirchen zuzuordnen, die mittelfristig im 19. Jahrhundert zum Auseinanderleben von liberalem und evangelikalem Denken, von religiöser Vernunft und religiösem Gefühl führte. Natürlich geht es ihm zugleich um einen von ihm erkannten aufkommenden Antisemitismus, auch in der akademischen und politischen Elite. Und die Figur des Nathan gilt nach Auffassung vieler Deuterinnen und Deuter des Werkes als Hommage an Lessings Zeitgenossen in der Aufklärung, Moses Mendelssohn (1729–1786).
Die Grenzen der Toleranz
Judentum, Christentum und Islam begegnen sich im Werk, fiktiv angelegt in der Zeit eines Waffenstillstands während des Dritten Kreuzzuges. Die Ringparabel, im Zentrum des Werkes angesetzt (im 7. Auftritt des 3. Aktes, dem Gespräch zwischen Nathan und dem Sultan Saladin), wurde schon vielfach ausgelegt (hier in der SKZ zuletzt in der Ausgabe 14/2020 durch Rolf Bossart). Der provozierenden Einsicht, dass sich keine der drei grossen monotheistischen Religionen auf ein «Monopol der Wahrheit» berufen kann, stehen die Protagonisten aus allen Lagern gegenüber. Insbesondere die Vertreter des Christentums, der Patriarch von Jerusalem und der Klosterbruder, kommen in Lessings Anlage des Werkes schlecht davon. Seine Dispute mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze, der ein Publikationsverbot für Lessing forderte, schlagen sich wohl darin nieder. Das Wort des Patriarchen, in der Meinung, Nathan habe seine angenommene Tochter Recha zum Judentum «verführt», hat sich in der Weltgeschichte fürchterlich bewahrheitet:
«Tut nichts! Der Jude wird verbrannt […] Ja, wär’ allein schon dieserwegen wert, dreimal verbrannt zu werden! – Was? Ein Kind ohn allen Glauben erwachsen lassen? – Wie? Die grosse Pflicht zu glauben ganz und gar ein Kind nicht lehren? Das ist zu arg! Mich wundert sehr, Herr Ritter, Euch selbst […]» (Gespräch Tempelherr-Patriarch, IV. Aufzug, 2. Auftritt)1
Der «Nathan» ist und bleibt irgendwie ein Lehrstück. Die Figuren sind nicht so authentisch-lebendig wie etwa bei Shakespeare und Schiller, vielmehr sind sie Prototypen für Haltungen und Wertsysteme. So gesehen ist das Werk viel mehr philosophisch-theologische Reflexion anhand einer konstruierten «Gesellschaftsaufstellung». Und so taugt es weniger zur abendlichen Unterhaltung, denn als Einstieg in die stets aktuelle Frage, wie viel Toleranz eine offene Gesellschaft leisten kann und wo die Grenzen dieser Toleranz liegen.
Heinz Angehrn