Seelsorge ist Caritas

Spitalseelsorgerinnen und -seelsorger sind seit einem Jahr gefragter denn je. Die SKZ sprach mit Oliver Stens über seine Erfahrungen während der Pandemie und die Herausforderungen in der Seelsorge für Menschen mit einer Demenzerkrankung.

Dr. theol. Dr. phil. Oliver Stens, Spitalseelsorger. (Bild: zvg)

 

Die Aussicht ist phänomenal. Ich stehe vor dem Waidspital in Zürich. Mein Blick schweift in die Ferne zu den Glarner Alpen und findet zurück zu den Menschen, die vor dem Haupteingang auf Einlass warten, um ihre Nächsten zu besuchen. Hier habe ich mich mit Oliver Stens verabredet. Er arbeitet als Spitalseelsorger am GZO Spital Wetzikon, am Waidspital in Zürich und am Privatspital Bethanien und ist im Priesterpikett. Leitend in seiner Arbeit als Spitalseelsorger sind für ihn einige zentrale Aussagen der beiden Enzykliken «Deus caritas est» von Papst Benedikt XVI und «Fratelli tutti» von Papst Franziskus.1

Am Anfang des Christseins steht [...] die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt. (DC 1)

Der gebürtige Deutsche schätzt Seelsorge für Menschen mit einer Demenzerkrankung. Ihn fasziniert die Herausforderung, in ihre Lebenswelt einzutreten. «Denn ein direkter, verbaler Zugang ist oft nicht möglich. Der Zugang zur Person geht unmittelbar über alltägliche, vertraute Rituale wie z. B. das Begrüssen. Sie sind den Demenzkranken vertraut und geben ihnen dadurch für einen Moment Beheimatung in einer Lebensphase, in der sie desorientiert sind in Raum und Zeit, Mühe mit der Sprache haben und dergleichen.» Stens setzt sich gern in den Aufenthaltsraum der Akutgeriatrie des Waidspitals und lässt sich überraschen, was passiert. Menschen kommen auf ihn zu. Ein Gespräch beginnt. Er hat Zeit. Mit den an Demenz Erkrankten schaut er durch das grosse Panoramafenster nach draussen in die Landschaft – die Stadt, der See, die Alpen – und spricht mit ihnen über das, was sie sehen. Demenzkranke Menschen lassen sich gerne die Landschaft erklären. Manchmal erinnern sie sich an eine Begebenheit aus ihrem Leben, die verbunden ist mit dem gerade genannten Ort. Das schenkt ihnen für einen Augenblick Halt und Orientierung, sie können sich auf Bekanntes richten und fühlen sich in diesem heimisch. Das zeigt sich auf ihrem Gesicht: Sie strahlen.  

Das persönliche, innere Teilnehmen an der Not und am Leid des anderen wird so Teilgabe meiner selbst für ihn. (DC 34)

Die Seelsorge für Menschen mit Demenz wird in den nächsten Jahren zunehmen. Die Menschen werden älter und die grossen Jahrgänge kommen ins hohe Alter. Aus diesem Grund wollte ich wissen, was in der Seelsorge für Menschen mit einer Demenzerkrankung wichtig sei. «Es braucht eine innere Bereitschaft, sich auf die Lebenswirklichkeit demenzkranker Menschen einzulassen. Es braucht ein Interesse dafür, was das Gegenüber vor 40, 50, 60 Jahren erlebt hat.» Über Angehörige kann einiges in Erfahrung gebracht werden. Bei religiös sozialisierten Menschen betrifft dies auch ihre Glaubenspraxis. Wie haben sie den Glauben in jungen Jahren gelebt? Es gilt, den damaligen religiösen Alltag in die Gegenwart zu holen. Und Stens erinnert sich: «Ein Patient in der Demenzabteilung ass nicht zu Mittag. Vor ihm auf dem Tisch dampfte der volle Teller, alle im Speisesaal assen, er nicht. Das ging über Tage und das Pflegepersonal war mit dieser Situation überfordert. Dann waren eines Tages Angehörige beim Essen anwesend und haben mit ihm gebetet. Daraufhin griff er zu Gabel und Messer und begann zu essen.»

Die Aufgabe der Seelsorge besteht in erster Linie darin, für die an Demenz Erkrankten eine bekannte und vertraute Umgebung zu schaffen, wodurch sie für einen Moment ihr Leben wieder finden. «Dies geschieht auch im Gottesdienst. Wir singen immer die gleichen Lieder», führt Stens aus, «‹Grosser Gott, wir loben dich›, ‹Nun danket alle Gott› sind internalisiert. Sobald die Melodie ertönt, singen sie mit. Wiederholungen sind das A und O. Fehl am Platz sind Extraeinlagen im Gottesdienst.» Stens bekennt: «Ich kann bei den Demenzkranken sehr intensiv Seelsorger und Priester sein.» Alte Lieder, Gebete und Rituale schenken den an Demenz Erkrankten einen Lichtblick. Denn für einen Moment finden sie bei vertrauten Gebeten und Liedern die Sprache wieder, die bei ihnen langsam ins Fragmentarische übergeht. «Sehr eindrücklich für mich war eine Begegnung mit einer Patientin, die auf dem Sterbebett ihre Sprache wieder fand. Auf meine Begrüssung, auf alle meine Fragen antwortete sie immer mit demselben Wort ‹Ja›. Ich habe nach der Spendung der Krankensalbung zum Vater unser eingeladen und zu beten begonnen: ‹Vater unser›, da setzte sie ein, ‹geheiligt werde dein Name›, und betete das ganze Vaterunser.» Er macht die Erfahrung, dass Demenzkranke, bei denen der Glaube wichtig war im Leben, die Situation der Demenz besser leben können. Und er gibt Seelsorgenden mit auf den Weg: «Die Sensibilität fürs Religiöse öffnet bei demenzkranken Menschen Tür und Tor. Ist die Türe geöffnet, erlebe ich mit ihnen teilweise sogar Wunderbares.»

Es ist die Stunde der Wahrheit. Bücken wir uns, um die Wunden der anderen zu berühren und zu heilen? [...] Dies ist die aktuelle Herausforderung, vor der wir uns nicht fürchten dürfen. (FT 70)

Mit Oliver Stens habe ich auch auf ein Jahr Pandemie zurückgeblickt. Diese machte die Stärken und Schwächen der Spitalseelsorge offenkundig. Was zeigte sich? Welche Impulse nimmt er aus den Erfahrungen des vergangenen Jahres für die Spitalseelsorge mit? «Die Covid-19-Pandemie ist ein Aufruf an uns Spitalseelsorgende. Sie lässt uns nach der eigentlichen Aufgabe und dem Selbstverständnis der Spitalseelsorge fragen. Unsere Aufgabe ist Anteilnehmen und Mitleiden. Mitleiden im Sinn von sich einfühlen in die Lebens- und Leidenswirklichkeit der Menschen», führt Stens aus und fährt fort: «Wir Seelsorgenden waren im ersten Lockdown nicht selten die einzigen, die Patienten besuchen durften und ihnen Nähe und Zeit schenken konnten. Das Personal war am Anschlag. Es fehlte an Zeit für Gespräche, für ein aufmerksames Heraushören, was bei den Patientinnen und Patienten anstand. Das Besuchsverbot für Angehörige, die Quarantänen und Isolierungen zeigten uns, wie wichtig reale Begegnungen sind. Seelsorge geht nicht virtuell.»

Gute Vernetzung und Integration in den Institutionen erwiesen sich in der Pandemie als zentral. Das Vertrauen von Seiten der Institution gegenüber den Seelsorgenden war die Basis dafür, dass sie trotz strenger Schutzmassnahmen ihre Arbeit gut machen konnten. Nach Stens ist es primäre Aufgabe der Spitalseelsorge, Zeit zu schenken und da zu sein. Er findet es auch wichtig, im Alltag spontan Aufgaben zu übernehmen, wenn jemand darum bittet, auch wenn diese nicht zum Stellenprofil der Spitalseelsorge gehören. Es sind die kleinen Aufmerksamkeiten im Alltag, welche die Wertschätzung erhöhen und eine gute Zusammenarbeit ermöglichen. Und natürlich ist Kreativität gefragt: Was ist auch unter erschwerten Bedingungen noch möglich? Grundsätzlich gilt, besser einmal zu viel zu Patienten zu gehen als einmal zu wenig. Während des Lockdowns gab es ein Zuviel gar nicht. Die Patientinnen und Patienten warteten auf Besuch, sehnten sich nach Begegnung und Gespräch. So habe die Covid-19-Pandemie deutlich gezeigt, was essenziell ist: die physische Begegnung mit den Menschen. Aus der Pandemie nimmt Stens deshalb mit: Administration so wenig wie nötig, Begegnungen so viel wie möglich. Dazu gehört auch und vor allem die Beziehungsarbeit zur Institution, so dass die Spitalseelsorge gut integriert ist und bleibt. «Unsere Aufgabe als Seelsorgende ist es, bei den Menschen zu sein, sich anzubieten, d. h. verfügbar zu sein», doppelt Stens nach, «Nähe und Treue sind Wesensvollzüge der Spitalseelsorge. Damit steht sie in der Nachfolge Jesu Christi, lebt nach seinem Beispiel und verkörpert die Botschaft des Evangeliums.»

Wir sind für die Fülle geschaffen, die man nur in der Liebe erlangt. Es ist keine mögliche Option, gleichgültig gegenüber dem Schmerz zu leben; [...] Es muss uns so empören, dass wir unsere Ruhe verlieren und von dem menschlichen Leiden aufgewühlt werden. Das ist Würde. (FT 68)

«Zu Beginn der zweiten Coronawelle wurde ich ins Universitätsspital Zürich auf die Covid-19-Intensivstation gerufen. Von Scheitel bis Sohle geschützt in einem Anzug betrat ich die Station. Da lagen an die 20 künstlich beatmete Personen auf Schragen: sterbend, nackt, das Gesäss mit einem Leinentuch bedeckt, ohne jegliche Intimität – auf dem Bauch in Kreuzesform. Mir kam unwillkürlich das Bild einer ‹Massenkreuzigung›, was mich zutiefst innerlich aufwühlte. Ich wurde gerufen, um einer sterbenden Frau die Krankensalbung zu spenden. Der ebenfalls an Covid-19 erkrankte und hospitalisierte Ehemann stand mit mir am Sterbebett seiner Frau und fragte mich: ‹Wo ist Gott?› Ich wusste angesichts dieser ‹Massenkreuzigung› keine Antwort. Auf dem Heimweg kam mir der kurze, eindrückliche Dialog zwischen dem Schächer und dem gekreuzigten Jesus in der Lukaspassion in den Sinn: ‹Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst!› Und Jesus antwortete ihm mit einem Wort, das zutiefst seinem liebenden Herzen entspringt – mit einem Satz, in dem seine ganze Lebenspraxis zusammenfliesst: ‹Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.› (Lk 23,42–43). Dieses Versprechen Jesu war mir Antwort auf die Frage und das Erlebte. Im Rückblick dachte ich mir: ‹Jesus hat durch diese Sterbenden heute zu mir gesprochen.› Wir werden mit ihm gerettet und auferstehen. Eine Verheissung, auf die wir im Leben und im Sterben vertrauen dürfen. Und Ostern ist das Siegel darauf.»

Maria Hässig

 

1 Die Zitate aus «Deus caritas est» (DC) und «Fratelli tutti» (FT) sind im Text kursiv gesetzt und mit Zahl versehen.