Religiöse Binnensprache und theologische Begrifflichkeiten sind für Kinder und Jugendliche oft schwer zu verstehen, besonders, wenn sie in vergangenen Zeiten geprägt wurden, die sich anderer Denk- und Ausdrucksweisen bedienten. Sie sind mit der Alltagssprache der Kinder und Jugendlichen und vor allem mit den ihnen geläufigen, häufig naturwissenschaftlich geprägten Denkmustern wenig kompatibel und können nur schwer in ihren eigenen Lebens- und Erfahrungskontext übersetzt werden. Das gilt in besonderer Weise für die Rede von Barmherzigkeit, Erlösung, Heil, Gnade – alles Worte, die die Zuwendung Gottes zu den Menschen umschreiben und in diesem Sinne dem Inhalt nach verwandt sind. Sie müssen übersetzt, in die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen hineingeholt und auf diese Weise kontextualisiert werden. Anstatt eine allgemeine religiöse Sprachlosigkeit zu beklagen, ist es darum angemessener, im Religionsunterricht gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen an einer «Suchsprache» zu arbeiten, die ihnen auf ihrer Suche nach Gott und den Ansprüchen ihrer individuellen Religiosität gerecht wird. Allerdings werden individuelle Religiosität und der Austausch über Religion und religiöse Sprache nur greifbar, wenn auf überlieferte Formen der Gottesrede zurückgegriffen werden kann. Damit steht die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Transformation religiöser Sprache in die Gegenwart bzw. in Kinder- und Jugendkulturen an. Diese Transformation hat ein doppeltes Ziel, nämlich das Verstehen-Lernen ebenso wie das Selbst-Sprechen-Lernen.
Entwicklungspsychologische Aspekte
Dabei macht es einen Unterschied, ob solche Begriffe für Kinder im Grundschulalter oder für jüngere und ältere Jugendliche erschlossen werden. Auch wenn die entwicklungspsychologischen Stufentheorien als teilweise überholt gelten und durch Theorien des domänenspezifischen Lernens ergänzt werden müssen, welches individuelle Kompetenzen nicht von der Altersstufe, sondern von der jeweiligen spezifischen Förderung abhängig macht, besteht in der religionspädagogischen Forschung Konsens: Kinder sind in der Regel noch nicht in der Lage, abstrakte Begriffe zu bilden. Sie denken konkret und sind darum auf anschauliche Beispiele angewiesen. Mit fortschreitendem Alter und entsprechender Förderung durch Schule, Gemeinde und Familie entwickelt sich dann zunehmend die Fähigkeit zur Abstraktion. Ein höheres Reflexionsniveau wird erreicht, nicht nur in Bezug auf das Verstehen von Begriffen, sondern auch in Bezug auf den kritischen Umgang damit und die Fähigkeit zur Dekonstruktion. Elaborierte kognitive Kompetenzen ermöglichen eigene kreative Sprachbildung.
Die oben genannten Begriffe sind in unterschiedlicher Weise in der Alltagssprache präsent. Diese gilt es aufzugreifen, entweder im Modus der Anknüpfung oder im Modus der Abgrenzung, wenn ein Alltagsbegriff heute eine ganze andere Bedeutung hat als in der Bibel oder in der Theologie früherer Zeit.
Sein Herz öffnen: Barmherzigkeit
Von Barmherzigkeit sprechen heute wohl die wenigsten. Doch dass im Zentrum dieses Wortes und seines Inhalts das Herz steht, lässt sich leicht erschliessen. Wenn in der Erzählung vom barmherzigen Samariter dessen Fühlen durch ein Herz-Bild visualisiert wird, können schon Erstklässler nachvollziehen, was es mit der Barmherzigkeit auf sich hat: Da gibt einer «einen Teil von seinem Herz her». In der Tat: Barmherzigkeit bedeutet, sein Herz für andere zu öffnen. Ältere Schülerinnen und Schüler wissen, dass und warum das Herz Symbol für die Gefühle ist und entdecken Redewendungen wie «ein weiches Herz haben», «warmherzig sein» oder «ins Herz schliessen». Sie machen sich bewusst, dass es dabei um mehr als Freundlichkeit geht und dass Barmherzigkeit besonders dann wichtig ist, wenn ein Mensch einen schweren Fehler gemacht hat oder theologisch gesprochen, wenn er vor Gott und den Menschen schuldig geworden ist.
Ganzwerden: Heil
«Machst du mir das wieder heil?» fragen Kinder, wenn ihnen ein Spielzeug zerbrochen ist. Damit sind sie völlig auf der Spur des alttestamentlichen Wortes Heil, das im Hebräischen so viel wie «ganz» bedeutet. Wenn Gott die Menschen zum Heil führen will, macht er wieder ganz, was zuvor zerbrochen war oder kaputt gegangen ist. Jugendlichen erschliesst sich die Bedeutung von «Heil» über die englische Lautverwandtschaft, der ursprünglich auch eine sprachliche Verwandtschaft zugrunde liegt, von «holy» – «heilig» und «whole» – «ganz». Auch hier gilt: Wer vom Heil spricht, muss notwendigerweise auch vom Unheil, vom Zerbrochenen, von der zerbrochenen und unterbrochenen Beziehung zu Gott, theologisch: von der Sünde sprechen. Jugendlichen erschliesst sich die originäre Bedeutung von Sünde, wenn sie hören, dass «Sünde» etwas mit «Sund» zu tun hat und dass «Sund» eine Trennung markiert: Der Öresund trennt als Meerenge Schweden und Dänemark. «Absondern» ist von «Sund» abgeleitet und steht für das, worum es in der Sünde geht: die Absonderung und Trennung von Gott. Wenn die Bibel davon spricht, dass Gott die Menschen zum Heil führen will oder wenn wir Jesus Christus «Heiland» nennen, dann ist damit nicht die Aussicht auf ein Paradies auf Erden verbunden, sondern die Verheissung, dass die Trennung zwischen Gott und Mensch aufgehoben ist zu einer Ganzheit, die Paulus in 1 Kor 15,28 mit «Gott alles in allem» umschreibt.
Befreit werden: Erlösung
Über die Arbeit am Begriff gelangen Kinder und Jugendliche zur Bedeutung von Erlösung: Darin steckt das Wort «los» bzw. «lösen», also los machen. Ein Synonym für das, was da geschieht, ist «Befreiung». In Märchen spielt die Thematik von Erlösung und Befreiung eine wichtige Rolle. Wenn Schülerinnen oder Schüler gefragt werden, was Erlösung und Befreiung für sie bedeutet, dann kommen Assoziationen wie «schulfrei», «Ferien», «keine Klassenarbeiten», manchmal aber auch «wieder gesund sein und toben können» oder «dass mein Vater endlich bei uns ausgezogen ist». Ebenso wie bei der Rede von Heil muss eine angemessene theologische Rede von Erlösung deutlich machen: Gott und der Glaube an Gott befreien nicht vom Leid in dieser Welt oder von ungerechten Lebensverhältnissen. Wohl aber machen sie in anderer Hinsicht frei: frei von Schuld, wenn sie ehrlich bereut wird; frei davon, nur auf sich selbst und nicht auf andere zu schauen; frei von ständigem Konkurrenzdruck, die meisten «Likes» zu haben.
Die Zuwendung, die Gott schenkt: Gnade
«Gnade» erscheint angestaubt, genauso aus der Mode gekommen wie die Anrede «gnädige Frau». Das Wort kennen Kinder kaum und Jugendliche vor allem im Zusammenhang mit Verbrechern, die begnadigt werden, oder aus Filmen, wenn Menschen um Gnade flehen. Der Aspekt der Zuwendung, der in diesen Beispielen anklingt, lässt sich religionspädagogisch fruchtbar machen: Gnade ist nicht «etwas», sondern die Zuwendung, die Gott den Menschen schenkt, und zwar besonders dann, wenn er diese Zuwendung gar nicht verdient. Gnade ist nichts Dingliches, sondern ein Beziehungsbegriff, der die liebende Beziehung Gottes zum Menschen umschreibt, auf andere Weise als das strapazierte Synonym «Liebe». Religionspädagoginnen und -pädagogen müssen den Begriff «Gnade» nicht notwendigerweise verwenden, um von der Beziehung zu Gott zu reden. Doch sie sollten ihn Kindern und Jugendlichen erschliessen können, wenn sie ihm begegnen oder danach fragen.
Ausblick
Kinder und Jugendliche, die religiös ausdrucksfähig sind, können über Gott mehr sagen als «Gott ist nett zu uns». Grosse Begriffe, die über die Alltagssprache hinausreichen, signalisieren, dass es bei der Beziehung zu Gott und bei dem, was er Menschen verheisst, auch um Grosses geht.
Sabine Pemsel-Maier