Umstrittene Widerspruchsregelung

Am 1. Oktober nahmen National- und Ständerat das revidierte Transplantationsgesetz an. Kurz darauf wurde das Referendum ergriffen. Ein kurzer Überblick und die Situation aus ethischer Sicht.

(Bild: KieferPix/Shutterstock)

 

Begleitet mit einer Kampagne von Swisstransplant reichte die Organisation von Jungunternehmern namens «Jeune Chambre Internationale» am 22. März 2019 die Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» ein. 130'000 Unterschriften kamen zusammen. Die Initiative will den Art. 119 a der Bundesverfassung mit einem neuen Absatz 4 erweitern: «Die Spende von Organen, Geweben und Zellen einer verstorbenen Person zum Zweck der Transplantation beruht auf dem Grundsatz der vermuteten Zustimmung, es sei denn, die betreffende Person hat zu Lebzeiten ihre Ablehnung geäussert.» Betrachtet man nur diesen Text, handelt es sich offensichtlich um eine enge Widerspruchsregelung. Die Angehörigen kommen gar nicht vor.

Was man allerdings wissen muss: Die Initiantinnen und Initianten und mit ihnen Dr. Franz Immer, CEO von Swisstransplant, hatten ab dem Start der Unterschriftensammlung mit einer erweiterten Widerspruchsregelung geworben. In einem Streitgespräch bei TeleBärn am 17. Oktober 2018 wies die Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle auf das Fehlen der Angehörigen im Initiativtext hin. Darauf antwortete Franz Immer: «Die Angehörigen werden auch gefragt. Das gilt unverändert. Sie werden nicht mehr in dem Sinne befragt, dass sie stellvertretend für den Verstorbenen entscheiden müssen. Sie werden konsultiert, ob sich die Verstorbenen zeitlebens geäussert haben, ob es Hinweise für den Spenderwillen des Verstorbenen gibt.»1 Weil im Initiativtext nichts von einem Angehörigengespräch steht, hätte das Parlament nach Annahme der Initiative durch das Volks- und Ständemehr die Aufgabe gehabt, diese Absicht der Initiantinnen und Initianten im Transplantationsgesetz entsprechend zu regeln.

Gegenvorschlag des Bundesrates

Der Bundesrat stellte im Herbst 2020 mit einem revidierten Transplantationsgesetz einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative vor. Damit ermöglicht er, das Anliegen der Initiantinnen und Initianten für mehr Organentnahmen am Volk vorbei einzuführen. Seine Begründung: Aufgrund des Wortlauts könnte die Initiative als enge Widerspruchslösung verstanden werden, die dem Gesetzgeber keinen Raum für die Einführung der erweiterten Widerspruchslösung lasse. Der Vorschlag erhielt mit wenigen Modifikationen am 1. Oktober 2021 in der Schlussabstimmung die Zustimmung des Nationalrates (141 zu 44, 11 Enthaltungen) sowie des Ständerates (31 zu 12, 1 Enthaltung). Seit der Publikation des Gesetzestextes läuft die 100-tägige Sammelfrist für 50'000 Unterschriften.2 Spätestens am 20. Januar 2022 müssen diese eingereicht werden, damit es zu einer Volksabstimmung (ohne Ständemehr!) kommt. Kommt das Referendum nicht zustande, wird sehr wahrscheinlich die Organspendeinitiative definitiv zurückgezogen. Es käme zu keiner Volksabstimmung. Der Bundesrat müsste nur noch den Zeitpunkt bestimmen, an dem das revidierte Transplantationsgesetz in Kraft tritt.

Verstoss gegen Bundesverfassung

Jedem Menschen wird in Art. 10, Abs. 2 unserer Bundesverfassung das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung garantiert. Die bisher geltende erweiterte Zustimmungsregelung gewährleistet dieses Recht; die Einführung der Widerspruchsregelung hingegen nicht. Ausgerechnet bei jenen Menschen, die sich im Sterbeprozess befinden, soll die vermutete Zustimmung zur Organspende als Regel angewandt werden. Jede Person, die nicht zu Lebzeiten einer Organspende widersprochen hat, würde automatisch zum Organspender. Liegt kein dokumentierter Entscheid der Person vor, würden die Angehörigen zwar befragt, doch haben sie kein Vetorecht, wie das in manchen Medienberichten fälschlicherweise behauptet wurde. «Sie haben», wie es in der revidierten Fassung des Transplantationsgesetzes heisst, «den mutmasslichen Willen der verstorbenen Person zu beachten» (Art. 8, Abs.2). Bedenklich ist der Umstand, dass sich die Angehörigen bereits in einer Ausnahmesituation befinden und bei der Befragung bezüglich der Organspende zusätzlich belastet werden.

Ethisch inakzeptabel

Es ist eine Errungenschaft der medizinischen Ethik, dass bei jedem medizinischen Eingriff ein bewusstes und klares Ja der betreffenden Person bzw. ihrer rechtmässigen Vertreterin oder ihres rechtmässigen Vertreters eingeholt wird. Als Ausnahme gelten Hilfeleistungen in Notfallsituationen. Diese entsprechen mutmasslich dem Willen der betroffenen Person und dienen keinem Fremdzweck. Die Organspende «ist sittlich unannehmbar, wenn der Spender oder die für ihn Verantwortlichen nicht ihre ausdrückliche Zustimmung gegeben haben», heisst es in Nr. 2296 des Katholischen Katechismus der Kirche. Auch die jüngeren Verlautbarungen der Kirche zum Thema Organspende vertreten diesen Standpunkt. Nur um mehr Organentnahmen zu generieren, darf dieses ethische Prinzip nicht aufgegeben werden.

Wie gravierend ein solcher Paradigmenwechsel wäre, zeigt sich am Beispiel der Volksabstimmungen in der Schweiz. Wenn Schweigen Zustimmung bedeuten würde, wären in den letzten 100 Jahren sämtliche Volksinitiativen angenommen worden und zwar inklusive Ständemehr!

Verhängnisvolle Informationsdefizite

Ausgerechnet beim ohnehin heiklen Thema Organspende geizt die millionenteure Organspendekampagne des Bundes mit wichtigen Informationen. Bekannt ist weiten Teilen der Bevölkerung, dass nach Eintreten des Hirntodes nach einer schweren primären Hirnschädigung (z. B. Motorradunfall, Hirnschlag) Organe entnommen werden. Das sind zwei Drittel der Organentnahmen am Lebensende. In diesen Fällen wird die Beatmung künstlich aufrechterhalten und die Kreislauffunktion unterstützt. Der Körper ist warm und durchblutet. Es werden nach den Vorgaben der medizinisch-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW die Abwesenheit von Reflexen geprüft. Das Gehirn gilt dann als irreversibel ausgefallen. Aufgrund dessen wird der Hirntod erklärt und die Todesbescheinigung ausgestellt. In einer mehrstündigen Operation werden die Organe entnommen.

Ein Drittel der Organentnahmen erfolgt hingegen nach anhaltendem Herz-Kreislauf-Stillstand und zwar unter grossem Zeitdruck. Der offizielle Organspendeausweis von Swisstransplant informiert nach wie vor unzureichend über die Organentnahme nach Herz-Kreislauf-Stillstand. Selbst Transplantationsmedizinerinnen und -mediziner3 müssen inzwischen indirekt zugeben, dass in diesen Fällen das Gehirn nicht irreversibel ausgefallen ist, wie es das Transplantationsgesetz verlangt. Der Organspendeausweis unterschlägt die kurze Wartezeit von ca. sieben Minuten bis zur Organentnahme und setzt diese Methode unzulässigerweise mit jener nach dem klassischen Hirntod gleich. Nicht alle Personen, denen Organe entnommen werden, wussten daher ausreichend Bescheid, wozu sie Ja sagten.

Das gilt erst recht bei der Widerspruchsregelung.Alle Personen in der Schweiz, auch jene mit Migrationshintergrund, Asylantinnen und Asylanten und Sans-Papiers, müssten informiert werden, dass sie schriftlich widersprechen und sich in ein Register eintragen müssen, wenn sie ihre Organe nicht spenden wollen. Die Widerspruchsregelung würde zwangsläufig dazu führen, dass bei Personen aus dieser Bevölkerungsgruppe gegen deren Willen Organe entnommen werden. Denn diese Personen wussten zu Lebzeiten nicht, dass sie ihren Widerspruch überhaupt hätten hinterlegen müssen. Das Referendumskomitee betont, dass gerade die sozial Schwachen den Schutz unserer Rechtsordnung brauchen: «Solche Personen würden zu Organlieferanten, ohne davon zu wissen und ohne sich dagegen wehren zu können.» Das dürfte auch auf jene Personen zutreffen, die sich mit ihrem Sterben überhaupt nicht befassen wollen und deshalb durch Informationskampagnen kaum ansprechbar sind.

Roland Graf

 

1 www.telebaern.tv/talktaeglich/automatisch-organspender-133221924 (6:01–9:04 Min.)

2 Webseite des Referendumskomitees: www.organspende-nur-mit-zustimmung.ch

3 Lomero, Mar u. a., European Committee on Organ Transplantation of the Council of Europe CD-P-TO). Donation after circulatory death today. An updated overview of the European landscape, in: Transplant International 33 (2020) 76–88, hier 85. Vgl. Miñambres Eduardo u.a., Donation after circulatory death and its expansion in Spain, in: Curr Opin Organ Transplant 23 (2018) 120–129, besonders Figure 6, 127.


Roland Graf

Dr. Roland Graf (Jg. 1961) studierte nach mehrjähriger Berufstätigkeit als Chemiker HTL in Chur Theologie und promovierte 2003 an der Katholisch-Theologischen Fakultät Augsburg in Moraltheologie. Er ist Pfarrer von Unteriberg und Studen SZ, Mitglied der Bioethikkommission der SBK und der Redaktionskommission der SKZ.