«Ich glöubu nid, dass dü sus weischt, dass dü mich der mis Läbu treischt […]; und wenn dü fehlscht, d’Sunna erlischt». Zunächst war ich überrascht, als mir in der Vorarbeit zu diesem Beitrag dieser Liedvers einfiel. Doch warum fällt es mir gerade jetzt zu? Ist es vielleicht wie beim Hohelied der Liebe? Wenn es um das «Leben in Fülle» geht, um die Liebe, lassen sich Gottes- und Menschenliebe nicht trennen. Auf jeden Fall sind es Momente, in denen solche Erfahrungen aufleuchten, die mich in der Begleitung von Entscheidungsprozessen be-geist-ern. In ihnen zeigt sich «die Sonne, die leuchtet», die Wirklichkeit, die Leben schafft und «durch’s Leben trägt». In spirituell geprägten Entscheidungsprozessen geht es darum, dem Wirken von Gottes Geistkraft den Lead zu überlassen. Und das ist nicht ohne. In Rückmeldungen am Schluss eines Prozesses kann es dann z. B. so tönen: «Es ist ein anderes Ergebnis als erwartet – und das ist gut so»; «Ich hatte eine andere Vorstellung – und bin froh, dass es nicht so gekommen ist».
Es braucht als Erstes das Wollen, die Entschiedenheit, sich ehr und redlich auf einen ergebnisoffenen Prozess einzulassen, was intensive Arbeit an sich selber bedeutet. Gleichzeitig ist es ein Wagnis, da die einzelnen Beteiligten und das Gremium, das Team, die Gruppe sich auf unbegangenes Terrain begeben. Dieser erste Entscheid, Gottes schöpferischer Geistkraft den Lead zu überlassen, ist buchstäblich grund-legend für die Ausrichtung und damit die Gestaltung des Prozesses.
Dann geht es los. Jetzt kommt das Suchen nach dem «Mehr an gutem Leben für alle» (vgl. Joh 10,10), bezogen auf die gegebene Frage- oder Problemstellung. Das Suchen beginnt mit dem genauen Hinschauen auf die gegebene Situation, auf die prägenden Dynamiken wie gegensätzliche Interessen, Konflikte, Machtpositionen, Muster und Selbstverständlichkeiten, und dem Erarbeiten der «ent-scheidenden», zu Grunde liegenden strategischen Frage. In der Grundhaltung der liebenden Aufmerksamkeit ungeschminkt hinzuschauen ist eine grosse Herausforderung und braucht neben Durchhaltevermögen die Entschiedenheit, die «Zeichen der Zeit» erkennen zu wollen.
Doch dann folgt der Perspektivenwechsel, der Blick in Richtung «Sonne». Der Kompass ist die Sehnsucht nach prallvollem Leben. In welche Richtung zieht die Sehnsucht? Hier ist Gottvertrauen ganz besonders gefragt. In dieser Phase unterbreche ich immer wieder, wenn Aber-Geister – so übersetzt Fridolin Stier das Wort «Dämonen» – das Zepter übernehmen wollen: «Das geht doch nicht, denn das haben wir schon versucht». Als Moderatorin verstehe ich mich als Anwältin des Vertrauens in den Prozess. Ich ermutige die Beteiligten, Demut zu üben, den Mut, sich dem Leben, Gott – anders gesagt: dem Prozess – zur Verfügung zu stellen, indem sich jede Person bewusst wird, dass sie unendlich wichtig und unersetzbar ist, durch sie Gott in jedem Moment einmalig präsent ist und sie gleichzeitig «nur» ein Teil ist.
Und dann geht’s ans Entscheiden, darum, Gottes Willen zu wagen. Es gilt, das zu wählen, was mehr in Richtung Reich Gottes führt. Die Erfahrung von Freude, Kraft und von der Lust anzupacken stärkt das Vertrauen, um den Aufbruch zu wagen, wenn auch mit Respekt angesichts des Wagnisses, alltägliche Selbstverständlichkeiten aufzugeben, Eingespieltes und fest Verankertes zu verlernen, die Sicherheit gebende Heimat zu verlassen.
Prägend für die Prozessgestaltung ist für mich die authentische, reflektierte Verbindung von Elementen aus Organisationsberatung, Coaching und Supervision mit den spirituellen Grundhaltungen aus der ignatianischen Tradition. Wo so Gottes Wille gewollt, gesucht und gewagt wird, kann uns die schöpferische Geistkraft Gottes stets neu überraschen und buchstäblich die Sonne aufgehen.
Theres Spirig-Huber