SKZ: Das Buch «Pastoral am Puls» umfasst fast 200 Seiten. Skizzieren Sie bitte in zwei Sätzen kurz dessen Inhalt?
Kurt Faulhaber (KF)2: Erstens: Gott handelt hier und heute und ganz konkret. Zweitens: Wir versuchen, sein Handeln wahrzunehmen und genauso konkret mitzuhandeln.
Sie arbeiten mit einer pastoralen Schriftrolle. Wie kam es zu dieser Idee?
KF: Die liess Gott «vom Himmel fallen» (lacht). Wir sassen draussen in der Runde, und weil es anfing zu regnen, rollte ein Teilnehmer sein Notizblatt zusammen, auf dem er mitgeschrieben hatte. Ein weiterer bemerkte: «Oh, du hast ja eine Schriftrolle!» Das führte zur Idee: Wir schreiben das Handeln Gottes auf – wie eine heilige Schrift heute. Jeder schreibt seine Erfahrungen mit Gott darauf. Und Gott schreibt mit uns seine Geschichte weiter.
Wo und wie ist die Schriftrolle einsetzbar?
Bernhard Schmid (BS)3: Die Schriftrolle kann in ganz vielen Zusammenhängen eingesetzt werden: Ich kann persönlich für mich eine Schriftrolle schreiben, das geht aber auch gemeinsam in Gruppen und Gremien, wenn die Grösse der Gruppe einen Austausch ermöglicht. Es gibt dabei kaum Hürden. Denn die erste Fragestellung ist ganz einfach: Was hat sich ereignet, und was hat dich oder andere bewegt? Dazu braucht es kein Vorwissen, sondern jede und jeder kann dazu etwas beitragen.
Auf welchen theologischen Grundlagen basiert «Pastoral am Puls»?
Hubertus Brantzen (HB)4: Mit Tod und Auferstehung Jesu ging das Heilshandeln Gottes an den Menschen nicht zu Ende. Pfingsten wurde zum Beginn dafür, dass Gott seine Zuwendung zu den Menschen in die Geschichte hinein weiterführt. Im Heiligen Geist findet die junge Kirche die Kraft, ihren Weg in die Zukunft zu gehen. Die Apostelgeschichte beschreibt, wie dieser Weg trotz Gefahren von innen und aussen aussieht. Paulus bringt die Botschaft dann in eine neue Weite. «Pastoral am Puls» greift diesen Aspekt auf: Gottes liebevolle Zuwendung und Begleitung gilt auch den Menschen heute. Auch wir sind eingeladen, auf die Anregungen des Geistes zu achten. Wie Paulus und Barnabas in Antiochia und beim Apostelkonzil berichten, «was Gott mit ihnen zusammen getan hatte» (Apg 14,27; 15,12), so sollen auch wir einander erzählen, wie Gott heute am Handeln ist. Für uns gilt, wie es die Apostelgeschichte beschreibt, dass Gottes Handeln in der Welt und unser Mittun ineinander verwoben sind.
Sie sprechen von Gottes Handeln im Heute. Wie kann von Gottes Handeln in der Geschichte und im Leben der einzelnen Menschen verantwortlich gesprochen werden?
HB: Gottes Handeln und Wirkweise in der Welt kann man sich nicht im Sinne einer Kausalität neben anderen vorstellen. Gott wirkt nicht neben geschichtlichen Vorgängen und Bedingungen, nicht neben Ereignissen oder Erfahrungen der Menschen. Er wirkt in ihnen und durch sie. Das bedeutet: Alle Menschen sehen die Ereignisse und Vorgänge in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, in technischen Entwicklungen, auch in naturbedingten oder menschengemachten Katastrophen. Menschen können auf alle diese Erfahrungen reagieren. Glaubende Menschen sehen aber darüber hinaus, dass Gott in und durch diese Erfahrungen den Menschen Impulse setzt, in diesen Erfahrungen die Menschen begleitet und zu ihnen «spricht»: Er ist der Gott mit uns, aus dessen schöpferischem und liebevollem Plan nichts herausfällt.
Wie können Ereignisse und Entwicklungen in der Welt ihren Niederschlag in der Pastoral finden?
KF: Darauf hat das Konzil geantwortet: Das Volk Gottes deutet die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums. Wenn wir uns treffen, gehört immer die Frage dazu: Welche Ereignisse in der Welt haben uns bis ins Herz getroffen? Derzeit ist das die Corona-Pandemie. Hinter welchen Wirkungen vermuten wir ein Wirken Gottes? In diesem Fall: Gott lässt uns die globale Gefährdung all unserer Systeme erleben. Wir haben die Welt nicht voll kontrollierbar in der Hand. Sie ist zutiefst in seiner Hand. Er lässt traditionsbedingte Bindungen sich verlustreich auflösen, gleichzeitig entstehen vielfältige, kreative Formen miteinander gelebten Glaubens. Mitwirken mit Gott bedeutet: Diese Entwicklungen aufzunehmen und sie in seinem Geist mitzugestalten.
Und die «Erlebnisse im Inneren» von Menschen, von denen die Rede war, wie werden die ins pastorale Tun aufgenommen?
Michael Gerber (MG)5: Meine Erfahrungen haben mich zu der Überzeugung geführt, dass in unserer pluralen und multioptionalen Gesellschaft der Glaube dort wächst, wo er an tiefe Empfindungen der Seele Anschluss findet. «Pastoral am Puls» eröffnet die Möglichkeit, dass diejenigen, die sich darin üben, zunächst einmal aufmerksam werden für Regungen ihrer eigenen Seele. Das ist die Voraussetzung dafür, um wahr- und ernstnehmen zu können, was in anderen Menschen vorgeht. Die Frage «Was hilft und stärkt die Verbundenheit der menschlichen Seele mit dem Evangelium?» kann so zu einem leitenden Prinzip für Entscheidungen in der Pastoral werden.
In der Schweiz wurden und werden in einzelnen Bistümern Pastoralräume errichtet, Pfarreien suchen Wege in die Zukunft. Wie können geistlicher Prozess und strukturelle Veränderungen zusammengehen?
Peter Zürcher (PZ)6: Beide Prozesse können nicht nur zusammengehen, sie müssen es auch! Das war bei «Pastoral am Puls» von Anfang an der Fall: Sie ist keine Kopfgeburt, sondern dem gelebten Leben abgeschaut. Das Interesse, in einen tiefgehenden geistlichen Prozess einzutreten, war immer davon geprägt, das auch im äusseren Strukturwandel von Kirche wirksam werden zu lassen. Geistliche Prozesse heben Wertvolles, bringen uns Gott als den Handelnden nahe, setzen uns im Dienst an der Welt in Bewegung. Diese geistliche Dynamik gilt es zu schützen – und zwar durch entsprechende Strukturen. Diese Schutzfunktion ist die eine Aufgabe von Strukturen. Die zweite ist, für Kommunikation zu sorgen. Unsere Erfahrung ist: Leitungsverantwortliche, die nach dem Prinzip der «Schriftrolle» geistlich arbeiten, gehen an die Strukturfragen mit inhaltlicher Qualität heran. Da gibt es eine tragende Identität, eine Vision und gemeinsame Ziele. Die Komplexität unserer Lebenswirklichkeit und der tiefgreifende Gestaltwandel von Kirche bekommen damit eine andere Basis und Ausrichtung. «Pastoral am Puls» ist eine anspruchsvolle Form von geistlicher Leitung.
Wann findet für Sie ein geistlicher Prozess statt? Und welche Wirkungen von «Pastoral am Puls» machen Sie in Teams, Gremien, Pfarreien und bei sich selber aus?
BS: Ganz einfach: Immer! «Pastoral am Puls» vollzieht da einen radikalen Perspektivwechsel. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Vorstellung, dass ein geistlicher Prozess dann stattfindet, wenn wir etwas Geistliches machen, gehen wir davon aus, dass wir von Gott her ständig in einem geistlichen Prozess sind. Die Kunst jedoch ist es, auf die Spur seines Geistes zu kommen und dann so gut wir können, mitzutun. Die Schriftrolle kann da ein Hilfsmittel sein, dem nachzuspüren und das in Annäherungen sichtbar zu machen. In unserem Kirchengemeinderat, in dem wir seit über zehn Jahren mit einer Schriftrolle arbeiten, beobachte ich sowohl, dass die Wahrnehmung und Wertschätzung steigen, als auch, dass Zusammenhänge und wegweisende Entwicklungen stärker entdeckt werden. Immer wieder wachsen aus diesen Beobachtungen dann auch Entscheidungen. Das gleiche nehme ich bei mir selber wahr: Ereignisse und Vorgänge bekommen einen roten Faden, und das gibt Orientierung für den weiteren Weg.
Welche Anforderungen und Haltungen stellt «Pastoral am Puls» an die Beteiligten und insbesondere an die Leitenden?
MG: Es braucht die Offenheit, sich immer wieder überraschen zu lassen. Kein: «Das habe ich doch alles schon mal erlebt». Nein, «Pastoral am Puls» fordert zum Glauben heraus, dass das Wirken Gottes hier und jetzt und neu, unverbraucht und bisweilen ungewohnt erfahrbar ist. Verwurzelt in der Schrift und verbunden mit dem Weg der Kirche von Emmaus bis heute ist eine Wachheit notwendig, um wahrzunehmen, wo Menschen mit brennendem und nicht selten auch verletztem Herzen unterwegs sind.
Was wird von den Beteiligten sehr geschätzt?
Claudia Zerbian (CZ)7: Die Beteiligten schätzen an der «Pastoral am Puls» besonders die sogenannte «Herzensrunde» am Beginn eines jeden Austauschs. In dieser Runde ist jede Person eingeladen, von einem Moment aus der letzten Zeit zu erzählen, der das eigene Herz berührt hat. Denn wo, wenn nicht in den persönlichen Herzensregungen lässt sich Gott erahnen. In einem weiteren Schritt sind dann die Zuhörenden eingeladen, Resonanz auf das Gehörte zu geben. In diesem intensiven Austausch entsteht eine geistliche Atmosphäre, in der dann alles Wichtige auf der Schriftrolle festgehalten wird. In der regelmässigen Reflexion der Schriftrolle zeigen sich dann Zusammenhänge auf, die so nicht ersichtlich waren und es können sich neue Wege eröffnen.
Interview: Maria Hässig