Alberto Melloni ist für die Leserschaft der SKZ kein Unbekannter (SKZ 10/2016). Jetzt legt er eine Sammlung seiner Studien zum II. Vatikanum vor, die mehr ist als die Publikation von verstreuten Schriften.1
Es handelt sich um die bemerkenswerte Summe einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Konzil. Zugleich räumt es mit einer Reihe von Simplifizierungen auf, die den Blick auf dieses epochale Ereignis verstellen. So führt die Entgegenstellung von "Geist" und "Buchstabe", die auch von Hans Küng angewendet worden ist, gemäss dem Autor zur Abwertung der Dokumente, die doch genau gelesen werden müssten.
Das Konzil nicht ausschliesslich vom Resultat her verstehen
Melloni stellt sich in seiner Eigenschaft als Historiker gegen solche Vereinfachungen: Ein Konzil kann nicht nur vom Resultat, gleichsam vom Ende her verstanden werden. Nur das Studium des Ablaufs führt zu einem tieferen Verständnis. Die Geschichte des Konzils von Trient von Hubert Jedin war in dieser Hinsicht methodisch wegweisend. Der anzuzeigende Band ist denn auch in Vorbereitung – Ablauf – Resultat/Rezeption gegliedert. Auch die Vorstellung eines alten Papstes, der etwas losgetreten habe, das er nicht habe ermessen können, hält einer Überprüfung nicht stand. Der Autor zeigt, dass Johannes XXIII. mit klarem Bewusstsein und mit Methode vorgegangen ist. Gerade seine anfängliche Zurückhaltung hat es ermöglicht, die von der Kurie ausgearbeiteten Schemata beiseitezulegen und so den Weg für die neuen Texte frei zu machen. Die Konstitutionen verdanken sich eines Zusammenwirkens von Plenardiskussion, Unterredungen im kleineren Kreis und der Arbeit der Kommissionen. In diesem Zusammenwirken erkennt der Autor das eigentlich Neue: "Per il concilio ‹pastorale› così come Giovanni XXIII lo concepì (…) i dibattiti in Aula e nelle commissioni assumono quindi una centralità nuova e distinta: da un lato, in Aula, la discussione (…) segna lo svilupparsi della coscienza conciliare; è nella esperienza vissuta del collegio episcopale che la fisionomia o lo spirito conciliare prendono forma e si affermano; dall’alto lato il labor limae delle commissioni è quello che dà luogo alla lettera dei testi ed affida a quote relativamente ristrette della assemblea un potere di redazione ed un compito di interpretazione della mente della assemblea generale del tutto inedito nella storia conciliare." (104)
Der spezifisch italienische Beitrag
Ein namentlich in unseren Breitengraden verbreitetes simplizistisches Urteil stellt der reaktionären Kurie die weltoffene, fortschrittliche mittel- und westeuropäische Theologengilde entgegen, als ob es aus Italien keinen konstruktiven Beitrag gegeben hätte. Eine sehr aufschlussreiche Studie, die diese schematische Sichtweise problematisiert, behandelt Giuseppe Dossetti, eine wichtige Figur des italienischen Katholizismus und eine, die einigen Einfluss auf dem Konzil gehabt hat, sich aber mit seiner Betonung der Armut letztlich nicht hat durchsetzen können. Dossetti wurde nicht mal dreissigjährig Ordinarius für kanonisches Recht an der Universität Modena, war dann Partisan und nach dem Krieg Leitfigur des Linkskatholizismus innerhalb der Democrazia Cristiana. Aufgrund des Dauerkonflikts mit Alcide De Gasperi zog er sich aus der Parteipolitik zurück. Als Priester stand er in nahem Verhältnis zum Bologneser Kardinal Lercaro. Dieser wollte ihn unbedingt auf dem Konzil haben als seinen Berater und "ghost writer" (392).
Gegen ein "nominalistisches Verhältnis" zum Konzil
Man kann von einer eigentlichen Dossetti-Schule sprechen, da es Dossetti war, der das Bologneser Institut gegründet hat, an dem Giuseppe Alberigo arbeitete und heute der Autor wirkt. Wer sich vertieft mit dem II. Vatikanum beschäftigt, kommt um dieses Buch nicht herum, zumal es neben vielen Studien zu einzelnen Fragen das spezifisch Neue an diesem Ereignis darstellt. Mit seinem beeindruckenden Apparat kann es geradezu als Summa des Forschungsstandes zu diesem Konzil gelten. Wie schon angetönt, will Melloni auch die Verzerrungen und Vereinfachungen, die unseren Blick verstellt haben, zu Bewusstsein bringen. Er selbst bekämpft ein "nominalistisches Verhältnis" zum Konzil, damit er all jene treffen will, die das II. Vatikanum gerne im Munde führen, ohne wirklich über die Inhalte sprechen zu wollen.