Es liess aufhorchen und war auch so beabsichtigt: 1979 teilte Peter Handke den ihm verliehenen Kafka-Preis mit dem von der internationalen Literaturkritik noch wenig beachteten Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier.
Der damals bereits 62-Jährige hatte gerade den ersten Band seiner Amrainer Tetralogie "Baur-und-Bindschädler" publiziert, "die ihn zu einem der modernsten und gleichzeitig kosmopolitischsten Autoren der Schweiz machte"1. Er glaube, "dass uns heute weniger das Gesellschaftliche zu schaffen macht als vielmehr dieses Vakuum an Spiritualität, das uns sozusagen an den Rand eines kosmischen Abgrunds saugt"2, liess Meier sein Alter Ego im 1982 erschienenen zweiten Band seines viel gerühmten Opus magnum sagen. Bei allen Bildungserlebnissen aus Musik, bildender Kunst und Literatur ist das Schaffen dieses Meisters der genauen, geduldigen Wahr-Nehmung tief in Meiers Heimatdorf Niederbipp am Rande des Jurasüdfusses verwurzelt. Die sinnlich-assoziationsreiche "Schreibe" dieses grossen Prosaisten des Alltäglichen, des Unspektakulär-Gewöhnlichen, die bewusst auf das verzichtet, was man gewöhnlich Handlung nennt, lässt einen Zusammenhang alles Seienden erspüren, in den wir Menschen "eingebunden sind wie die Schwalbe, das Massliebchen oder der Kirschbaum. Wir gehören dazu."3 Spiritualität, zu der er "schlechthin einen guten Bezug habe, sei sie nun indianisch, buddhistisch oder hinduistisch", müsse "an der Banalität aufgehängt werden, sonst ist sie nicht haftbar, auch nicht behaftbar, und das ist gut so".
In Resonanz sein mit allem
Rechtzeitig zu seinem 100. Geburtstag am 20. Juni 2017 legt der reformierte Schaffhauser Pfarrer Richard Kölliker im Theologischen Verlag Zürich einen informativen Gedenkband zur "Spiritualität im Werk von Gerhard Meier" vor. Handke charakterisiert ihn darin als einen Autor "nah der Erde wie dem Himmel"4. Erklärtes Ziel des Buches ist, die christlich-religiöse Dimension seines Denkens und Schreibens zu beleuchten, wobei Kölliker bewusst ist, dass die Etikettierung als "christlicher Autor" den eigenwilligen Dichter in eine zu heimelig-verharmlosende Tradition rücken würde. "Im Sinn von Erbauung und dem, was man gemeinhin unter einem religiösen Autor versteht"5, wollte Meier, so sehr er sich dem Meister aus Nazareth nahe wusste, seine Dichtkunst nicht verstanden wissen! Neben instruktiven Beiträgen zu Leben, Werk, Religiosität und Kunstverständnis u. a. von Werner Morlang und Dorota Sosnicka, Fotografien und Handschriften aus dem Schweizerischen Literaturarchiv, steht Meiers im November 1976 in der reformierten Kirche Vaduz gehaltene Predigt "Warum ich mich zu den Christen geschlagen habe" im Zentrum des Bandes. Dem vollständigen Textabdruck folgen drei Interpretationen aus der Sicht des Philosophen Armin Wildermuth, des Germanisten und Theologen Andreas Mauz sowie der Juristin Verena Bräm. Diese Predigt war von Anfang an als integraler Bestandteil von Meiers Roman "Der schnurgerade Kanal" (1977) konzipiert, die Titelmetapher steht für die technisch-reduzierte Welt, der Meier das Schöpferisch-Poetische gegenüberstellt. In seiner Laienpredigt beruft sich der regelmässige Bibelleser auf den Prediger Salomo (in der für ihn massgeblichen Luther-Übersetzung, nirgendwo sei die der Bibel eigene "Poesie als Urkraft, nicht als Zuckerguss "6, besser wiedergegeben): "Einer der Gründe, warum ich mich zu den Christen geschlagen habe, ist: Ich mag das Haschen nach Wind." Die Hauchhaftigkeit des Daseins ist für Meier alles andere als ein Signum der Vergeblichkeit: Erst auf dem dunklen Hintergrund seiner Hinfälligkeit entfaltet das Leben seine Farbigkeit! Meiers Insistieren auf der Vita contemplativa, sein Lob der Gnade ist zu begreifen als Widerstand gegen Machbarkeit, Berechnung und Beschleunigung, gegen die Einschränkung der Wirklichkeit auf Verstand und Willen, seine leise, spirituelle Literatur daher als Einübung in die Langsamkeit und Entschleunigung. "Ein weiterer Anlass (wohl der ausschlaggebendste), warum ich mich zu den Christen geschlagen habe, ist: Als Christ darf ich arm sein. Als Christ darf ich schwach sein", wisse er doch, dass in der Schwäche die eigentliche Stärke liege. Dank der biblischen Geschichte vom Anfang aller Anfänge wisse er zudem, "dass wir Vertriebene sind, denen aber viel geblieben ist: die Eva zum Beispiel, der Baum, der Apfel, die Schlange, das Kraut und auch die Lilie." In seiner luziden Studie zu religiösen Motiven in Meiers Lyrik streicht Manfred Papst denn auch heraus: Meiers Religiosität wirke "kaum merklich" "überall: namentlich in einer Naturfrömmigkeit, die sich zu einer so unsentimentalen wie überzeugenden Daseinsfeier entfaltet"7. Dass Meiers Christentum "eine genuin ästhetische Sache" ist, wie Andreas Isenschmid 1990 zu Recht betonte, "nichts in ihm ist Dogma, alles ist Stimmung und Bild", ist aufs Ganze noch zu entdecken.8